80 Jahre Kriegsende – eine persönliche Betrachtung
Der 8. Mai ist ein schöner und zugleich trauriger Gedenktag der deutschen Geschichte, weil da 1945 eine monströse Diktatur ihr Ende fand – die Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Der Schriftsteller Thomas Lang hat 1985 als 18-jähriger einen Beitrag für die Schülerzeitung zum 40. Gedenktag an die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus durch eine internationale Allianz verfasst. Zum 80. Gedenktag fragt er, was sich seitdem geändert hat.
*
Eine lange, hohe Bruchsteinmauer stützt den südlichen Rand des Städtchens Waldbröl im Bergischen Land. Dort bin ich von 1977 bis 1986 zur Schule gegangen. Die Mauer wurde damals gemeinhin „Hitlermauer“ genannt. Auf dem Rücken des Hügels dahinter verrotten die Fundamente einer nationalsozialistischen Schule, die dort einmal gebaut werden sollte. In den Achtzigerjahren tauchte wie von Geisterhand ein Schriftzug auf der Mauer auf: NIE WIEDER KRIEG, stand da in riesigen Buchstaben. Die Mauerschrift sorgte für einen ländlichen Skandal. Entfernt wurde sie nicht.
Der „Reichsleiter der NSDAP und Leiter des Einheitsverbands Deutsche Arbeitsfront“ (Wikipedia) Robert Ley wollte die strukturschwache Region in den 1930er-Jahren entwickeln. Dazu sollte ein Traktorenwerk ebenso wie jene Nazi-Schule dienen. So weit kam es nicht. Die Mauer wurde zu dem beschriebenen Mahnmal für den Frieden. Die Stadt ließ später die großen Buchstaben nachmalen. Sie kamen ihr zur Imagepflege inzwischen zupass. Ob die Malerei auch in Zukunft erhalten bleiben wird, scheint mir nicht mehr ausgemacht.
Ich war ein Nachfahre jener Kriegsgeneration, beide Eltern Jahrgang 1930, ich kannte ihre Erzählungen und ihr Schweigen. Die unbewusste oder durch Nichterzählen beförderte Weitergabe von Traumata, wie man heute sagen würde, beschäftigte mich. Als junger Erwachsener und frischgebackener Wehrdienstverweigerer litt ich darunter und schrieb darüber. Ich wollte mich dabei nicht über diese Generation stellen, ich wollte mit ihr fühlen. Und eher leise drückte ich aus, dass auch ich mich von ihren Erlebnissen belastet fühlte.
Ich wurde Redakteur der neuen Schülerzeitung tabula rasa. Damals wusste ich nicht, dass Ley auf dieselbe Schule gegangen war wie später ich, nur dass er in der Nähe ein Gut besessen hatte, auf dem mein Vater mit vielen anderen 14- und 15-Jährigen im April 1945 noch für den Krieg trainiert werden sollte.
Jüngste Entwicklungen
Seit 1985 hat sich ja viel geändert, oder? Wir haben so viele Menschen zu Wort kommen lassen, wir haben Denkmäler errichtet und Bronzetafeln gießen lassen, etwa die für die Opfer der Nazis, die von Waldbröl nach Hadamar gebracht und dort ermordet wurden, so unscheinbar neben der Hauptstraße der Stadt gelegen, dass man sie leicht übersieht. Wir haben uns so vieles angeschaut, haben uns gestellt und sind davongelaufen. Einige von uns haben die Zeit genutzt, die Vergangenheit ihrer Familien zu erfragen oder zu erforschen. Andere wissen bis heute kaum, was ihr Opa in dieser Zeitspanne von zwölf Jahren, die in einem langen Leben doch kurz anmuten kann, getan und wozu er sich bekannt hat. Manchmal forschen andere für sie nach.
Zwei Staaten sind wieder zu einem geworden, und das vereinigte Land hat sich lange bemüht, seine Nachbarn nicht wieder zu erschrecken mit seiner Größe, seiner Finsternis. Nur ist plötzlich, gar nicht so plötzlich, wieder Krieg … in Europa, und der Militarismus kehrt mit gut geölten Gelenken zurück. „Nie wieder Krieg“ klingt bald eher nach einer nostalgischen Erinnerung als nach einem Memento. Manche Journalisten werfen sich mit Wonne auf eine neue martialische Rhetorik. Die Mauer stützt den Rand der Stadt.
Ja, und ich will noch zwei Details loswerden, die ich vor vierzig und vor zwanzig Jahren erfuhr. Das eine Detail ist die Kälte in der Erzählung meines Onkels, der nach einem Tieffliegerangriff an einem zerschossenen Wagen vorbeikam und dort Tote erblickte, die nur noch „Gulasch“ waren. Das zweite sind die Tränen in den Augen meines Vaters, als er von der Räumung eines Blindgängers auf einer ortsnahen Wiese sprach und erwähnte, dass die Männer vom Räumkommando gelbe Sterne trugen. Habe ich mir das nur eingebildet?
„Ich weiß gar nicht, wo der jüdische Friedhof ist“, sagte ich im Winter 2024 zu meiner Schwester. „Wir haben in unserer Gemeinde bis 1938 eine Synagoge besessen. Da muss es doch einen jüdischen Friedhof geben.“ – „Der liegt gleich hinter dem evangelischen“, antwortete sie. Wir gingen, am Urnengrab unserer Eltern vorbei, dorthin. Es gibt in der Gemeinde Nümbrecht in Nordrheinwestfalen inzwischen ein Denkmal für die ermordeten Juden (nicht nur) der Gemeinde vor einem kleinen Areal mit historischen Grabsteinen. Von den jüdischen Familien im Ort existiert keine mehr. Nur zwei Menschen, damals Kinder oder Jugendliche, überlebten meines Wissens die Schoa. Einer, Leo Baer, besuchte die Gemeinde in den 1970er-Jahren. Was darüber in der Nümbrechter Chronik zu lesen ist – bereits zu lesen war, als ich dort aufwuchs – klingt versöhnlich.
Als ich Ende 2024 endlich im Internet nachlas, was sich über die jüdischen Gemeinden in Nümbrecht und dem benachbarten Ruppichteroth finden lässt, erfuhr ich, dass auch Leo Baer dasselbe Gymnasium besucht hat wie ich. Während meiner Schulzeit war davon keine Rede.
Vom Dialog der Generationen
Vor vierzig Jahren habe ich über den „Dialog der Generationen“ geschrieben und ihn für sinnvoll befunden. Heute zweifle ich an dem, was da im Lauf von Jahrzehnten eigentlich geredet wurde. Wenn der ganze Scheiß, den wir als solchen erkannt hatten, plötzlich wieder ungeklärt zutage tritt, wenn nicht alle Menschen in gleichem Maße Menschen sein sollen, wenn Vertreibung von Menschen wieder die Fantasien anderer Menschen beflügelt, wenn Menschen beim Feiern verbotene, aber nicht vergessene Grußgesten zeigen und flotte Hasslieder singen, wenn zehn Millionen Deutsche 2024 eine rechtsextreme Partei wählten, frage ich mich, was da im Dialog der Generationen eigentlich weitergegeben wurde.
Um die Bruchsteinmauer mache ich mir keine Sorgen. Sie wird bestimmt hundert Jahre alt. Anders verhält es sich mit der Schrift darauf. Das Wort „nie“, stelle ich mir vor, wird als erstes verschwinden, wenn nicht eine Geisterhand es bald nachmalt. Das ist noch kein „Salonpazifismus“, wie Simon Strauß es nennt. Vielmehr kommt es darauf an, was man aus dem Satz ableitet. Aus meiner Sicht ist er kein magischer Spruch, der alles Böse weghalten soll. Vielmehr verstehe ich ihn Sinn einer moralischen Forderung: denke so, äußere dich so, handele so, dass dein Denken, Handeln und Reden nicht zur Grundlage für Krieg, Mord oder Vertreibung dienen kann. „Nie wieder“ ist nach vorn gerichtet, eine Aktion, keine Verweigerung.
Liebe junge Erwachsene von heute, lasst euch keine Geschichten auftischen. Haltet die Augen und die Ohren offen, die Wahrheit ist erfahrbar. Glaubt nicht, dass mit Ressentiments, mit Gewalt oder bloß hasserfüllten Sprüchen irgendetwas zu eurem Vorteil zu gewinnen wäre. Auch wenn ihr nicht mehr mit Menschen reden könnt, die den Faschismus selbst erlebt haben: Schaut euch noch mal an, wie eine Diktatur kommt und was sie bringt: Tote und Zerstörung, dann noch Verletzte, sonst nichts. Zieht keinen Schlussstrich, es springt sonst jemand darüber. Fragt, sagt, denkt, schreibt.
Artikel für die Schülerzeitung 1985
8. MAI
40 Jahre sind seit dem Ende des (offiziellen) Faschismus in Deutschland vergangen -– Anlaß genug für voraussichtlich zahlreiche Gedenkfeiern und Kundgebungen, deren Thema wohl die üblichen „Erwägungen über Schuld, Scham, Haftung, Verdrängung, Bewältigung“ (so wurde es kürzlich in einem Zeitungsartikel ausgedrückt) sein werden. Es ist sehr schwer, dem Thema noch einen neuen Aspekt abzugewinnen; auch dieser Artikel wird die oben genannten Punkte teilweise streifen. Vor 52 Jahren begann das „Dritte Reich“, vor 40 Jahren war es zu Ende. Wie ist unsere Generation davon betroffen, wenn überhaupt? Die Generation, die zur Zeit des nationalsozialistischen Regimes heranwuchs, ist heute zwischen 50 und 60 Jahre alt. Zahlreiche Menschen diesen Alters nehmen Einfluß auf uns. In ihrem Unterbewußtsein liegt die ganze Zeit des Faschismus begraben, manches haben sie selbst verbuddelt. Es liegt mir fern, eine ganze Generation als verkappt nazistisch abstempeln zu wollen. Gewiß – viele wurden in den Schulen (manche auch zu Hause) nach nationalsozialistischen Ideen erzogen. Die Ideale dieser Erziehung ruhen in ihren Köpfen, aber nicht unreflektiert, nicht, wie sie eingehämmert wurden, sondern (zumeist) eindeutig bewertet.
Einschneidender noch als diese Erziehung erlebte die Jugend der 30er und 40er Jahre den Krieg. Und auf diese Erfahrung möchte ich hier eingehen. Die meisten Leute sprechen nicht gerne vom Krieg, und wenn sie es tun, so begnügen sie sich mit Allgemeinplätzen. Sie sind froh, „das alles“ hinter sich zu haben, und möchten es vergessen. Es schmerzt sie, daran zu denken. Ich habe mit einigen dieser Kriegsgeneration gesprochen und von ihnen auch individuelle, ganz persönliche Kriegserlebnisse gehört. Ich verstehe, warum sie gern schweigen. Der Krieg hat nicht nur ihre Jugend gefressen, er hat auch ungeheure Zerstörungen in ihrem Innern angerichtet. Ich glaube, für die ganze Generation ist „Unbefangenheit“ ein Fremdwort. Aber all diese Bilder des Grauens, die Angst, das Nicht-Passen-Können in ihnen tradieren sie uns unbewußt, unterschwellig. Und darin liegt eine Gefahr, nämlich, daß wir mit diesen Problemen auch nie fertig werden können, weil sie nicht bewußt werden.
Hier ist meiner Meinung nach der Punkt, an dem der viel geforderte Dialog zwischen den Generationen sinnvoll wäre. Denn fast alles, was uns gesagt wird, ist retrospektiv, im Rückblick auf die Zeit als geschichtliche Epoche, exakt eingrenzbar und rational durchdiskutierbar. Die individuelle Erfahrung hat man aus der Vergangenheit weggeleugnet. Eine Epoche kann man jedoch nicht bewältigen, solange die verdrängte individuelle Erfahrung die Kommunikation zwischen den Generationen prägt.
Man sollte Zerstörungen nicht unter der Hand weitergeben.
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Der 8. Mai ist ein schöner und zugleich trauriger Gedenktag der deutschen Geschichte, weil da 1945 eine monströse Diktatur ihr Ende fand – die Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Der Schriftsteller Thomas Lang hat 1985 als 18-jähriger einen Beitrag für die Schülerzeitung zum 40. Gedenktag an die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus durch eine internationale Allianz verfasst. Zum 80. Gedenktag fragt er, was sich seitdem geändert hat.
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Eine lange, hohe Bruchsteinmauer stützt den südlichen Rand des Städtchens Waldbröl im Bergischen Land. Dort bin ich von 1977 bis 1986 zur Schule gegangen. Die Mauer wurde damals gemeinhin „Hitlermauer“ genannt. Auf dem Rücken des Hügels dahinter verrotten die Fundamente einer nationalsozialistischen Schule, die dort einmal gebaut werden sollte. In den Achtzigerjahren tauchte wie von Geisterhand ein Schriftzug auf der Mauer auf: NIE WIEDER KRIEG, stand da in riesigen Buchstaben. Die Mauerschrift sorgte für einen ländlichen Skandal. Entfernt wurde sie nicht.
Der „Reichsleiter der NSDAP und Leiter des Einheitsverbands Deutsche Arbeitsfront“ (Wikipedia) Robert Ley wollte die strukturschwache Region in den 1930er-Jahren entwickeln. Dazu sollte ein Traktorenwerk ebenso wie jene Nazi-Schule dienen. So weit kam es nicht. Die Mauer wurde zu dem beschriebenen Mahnmal für den Frieden. Die Stadt ließ später die großen Buchstaben nachmalen. Sie kamen ihr zur Imagepflege inzwischen zupass. Ob die Malerei auch in Zukunft erhalten bleiben wird, scheint mir nicht mehr ausgemacht.
Ich war ein Nachfahre jener Kriegsgeneration, beide Eltern Jahrgang 1930, ich kannte ihre Erzählungen und ihr Schweigen. Die unbewusste oder durch Nichterzählen beförderte Weitergabe von Traumata, wie man heute sagen würde, beschäftigte mich. Als junger Erwachsener und frischgebackener Wehrdienstverweigerer litt ich darunter und schrieb darüber. Ich wollte mich dabei nicht über diese Generation stellen, ich wollte mit ihr fühlen. Und eher leise drückte ich aus, dass auch ich mich von ihren Erlebnissen belastet fühlte.
Ich wurde Redakteur der neuen Schülerzeitung tabula rasa. Damals wusste ich nicht, dass Ley auf dieselbe Schule gegangen war wie später ich, nur dass er in der Nähe ein Gut besessen hatte, auf dem mein Vater mit vielen anderen 14- und 15-Jährigen im April 1945 noch für den Krieg trainiert werden sollte.
Jüngste Entwicklungen
Seit 1985 hat sich ja viel geändert, oder? Wir haben so viele Menschen zu Wort kommen lassen, wir haben Denkmäler errichtet und Bronzetafeln gießen lassen, etwa die für die Opfer der Nazis, die von Waldbröl nach Hadamar gebracht und dort ermordet wurden, so unscheinbar neben der Hauptstraße der Stadt gelegen, dass man sie leicht übersieht. Wir haben uns so vieles angeschaut, haben uns gestellt und sind davongelaufen. Einige von uns haben die Zeit genutzt, die Vergangenheit ihrer Familien zu erfragen oder zu erforschen. Andere wissen bis heute kaum, was ihr Opa in dieser Zeitspanne von zwölf Jahren, die in einem langen Leben doch kurz anmuten kann, getan und wozu er sich bekannt hat. Manchmal forschen andere für sie nach.
Zwei Staaten sind wieder zu einem geworden, und das vereinigte Land hat sich lange bemüht, seine Nachbarn nicht wieder zu erschrecken mit seiner Größe, seiner Finsternis. Nur ist plötzlich, gar nicht so plötzlich, wieder Krieg … in Europa, und der Militarismus kehrt mit gut geölten Gelenken zurück. „Nie wieder Krieg“ klingt bald eher nach einer nostalgischen Erinnerung als nach einem Memento. Manche Journalisten werfen sich mit Wonne auf eine neue martialische Rhetorik. Die Mauer stützt den Rand der Stadt.
Ja, und ich will noch zwei Details loswerden, die ich vor vierzig und vor zwanzig Jahren erfuhr. Das eine Detail ist die Kälte in der Erzählung meines Onkels, der nach einem Tieffliegerangriff an einem zerschossenen Wagen vorbeikam und dort Tote erblickte, die nur noch „Gulasch“ waren. Das zweite sind die Tränen in den Augen meines Vaters, als er von der Räumung eines Blindgängers auf einer ortsnahen Wiese sprach und erwähnte, dass die Männer vom Räumkommando gelbe Sterne trugen. Habe ich mir das nur eingebildet?
„Ich weiß gar nicht, wo der jüdische Friedhof ist“, sagte ich im Winter 2024 zu meiner Schwester. „Wir haben in unserer Gemeinde bis 1938 eine Synagoge besessen. Da muss es doch einen jüdischen Friedhof geben.“ – „Der liegt gleich hinter dem evangelischen“, antwortete sie. Wir gingen, am Urnengrab unserer Eltern vorbei, dorthin. Es gibt in der Gemeinde Nümbrecht in Nordrheinwestfalen inzwischen ein Denkmal für die ermordeten Juden (nicht nur) der Gemeinde vor einem kleinen Areal mit historischen Grabsteinen. Von den jüdischen Familien im Ort existiert keine mehr. Nur zwei Menschen, damals Kinder oder Jugendliche, überlebten meines Wissens die Schoa. Einer, Leo Baer, besuchte die Gemeinde in den 1970er-Jahren. Was darüber in der Nümbrechter Chronik zu lesen ist – bereits zu lesen war, als ich dort aufwuchs – klingt versöhnlich.
Als ich Ende 2024 endlich im Internet nachlas, was sich über die jüdischen Gemeinden in Nümbrecht und dem benachbarten Ruppichteroth finden lässt, erfuhr ich, dass auch Leo Baer dasselbe Gymnasium besucht hat wie ich. Während meiner Schulzeit war davon keine Rede.
Vom Dialog der Generationen
Vor vierzig Jahren habe ich über den „Dialog der Generationen“ geschrieben und ihn für sinnvoll befunden. Heute zweifle ich an dem, was da im Lauf von Jahrzehnten eigentlich geredet wurde. Wenn der ganze Scheiß, den wir als solchen erkannt hatten, plötzlich wieder ungeklärt zutage tritt, wenn nicht alle Menschen in gleichem Maße Menschen sein sollen, wenn Vertreibung von Menschen wieder die Fantasien anderer Menschen beflügelt, wenn Menschen beim Feiern verbotene, aber nicht vergessene Grußgesten zeigen und flotte Hasslieder singen, wenn zehn Millionen Deutsche 2024 eine rechtsextreme Partei wählten, frage ich mich, was da im Dialog der Generationen eigentlich weitergegeben wurde.
Um die Bruchsteinmauer mache ich mir keine Sorgen. Sie wird bestimmt hundert Jahre alt. Anders verhält es sich mit der Schrift darauf. Das Wort „nie“, stelle ich mir vor, wird als erstes verschwinden, wenn nicht eine Geisterhand es bald nachmalt. Das ist noch kein „Salonpazifismus“, wie Simon Strauß es nennt. Vielmehr kommt es darauf an, was man aus dem Satz ableitet. Aus meiner Sicht ist er kein magischer Spruch, der alles Böse weghalten soll. Vielmehr verstehe ich ihn Sinn einer moralischen Forderung: denke so, äußere dich so, handele so, dass dein Denken, Handeln und Reden nicht zur Grundlage für Krieg, Mord oder Vertreibung dienen kann. „Nie wieder“ ist nach vorn gerichtet, eine Aktion, keine Verweigerung.
Liebe junge Erwachsene von heute, lasst euch keine Geschichten auftischen. Haltet die Augen und die Ohren offen, die Wahrheit ist erfahrbar. Glaubt nicht, dass mit Ressentiments, mit Gewalt oder bloß hasserfüllten Sprüchen irgendetwas zu eurem Vorteil zu gewinnen wäre. Auch wenn ihr nicht mehr mit Menschen reden könnt, die den Faschismus selbst erlebt haben: Schaut euch noch mal an, wie eine Diktatur kommt und was sie bringt: Tote und Zerstörung, dann noch Verletzte, sonst nichts. Zieht keinen Schlussstrich, es springt sonst jemand darüber. Fragt, sagt, denkt, schreibt.
Artikel für die Schülerzeitung 1985
8. MAI
40 Jahre sind seit dem Ende des (offiziellen) Faschismus in Deutschland vergangen -– Anlaß genug für voraussichtlich zahlreiche Gedenkfeiern und Kundgebungen, deren Thema wohl die üblichen „Erwägungen über Schuld, Scham, Haftung, Verdrängung, Bewältigung“ (so wurde es kürzlich in einem Zeitungsartikel ausgedrückt) sein werden. Es ist sehr schwer, dem Thema noch einen neuen Aspekt abzugewinnen; auch dieser Artikel wird die oben genannten Punkte teilweise streifen. Vor 52 Jahren begann das „Dritte Reich“, vor 40 Jahren war es zu Ende. Wie ist unsere Generation davon betroffen, wenn überhaupt? Die Generation, die zur Zeit des nationalsozialistischen Regimes heranwuchs, ist heute zwischen 50 und 60 Jahre alt. Zahlreiche Menschen diesen Alters nehmen Einfluß auf uns. In ihrem Unterbewußtsein liegt die ganze Zeit des Faschismus begraben, manches haben sie selbst verbuddelt. Es liegt mir fern, eine ganze Generation als verkappt nazistisch abstempeln zu wollen. Gewiß – viele wurden in den Schulen (manche auch zu Hause) nach nationalsozialistischen Ideen erzogen. Die Ideale dieser Erziehung ruhen in ihren Köpfen, aber nicht unreflektiert, nicht, wie sie eingehämmert wurden, sondern (zumeist) eindeutig bewertet.
Einschneidender noch als diese Erziehung erlebte die Jugend der 30er und 40er Jahre den Krieg. Und auf diese Erfahrung möchte ich hier eingehen. Die meisten Leute sprechen nicht gerne vom Krieg, und wenn sie es tun, so begnügen sie sich mit Allgemeinplätzen. Sie sind froh, „das alles“ hinter sich zu haben, und möchten es vergessen. Es schmerzt sie, daran zu denken. Ich habe mit einigen dieser Kriegsgeneration gesprochen und von ihnen auch individuelle, ganz persönliche Kriegserlebnisse gehört. Ich verstehe, warum sie gern schweigen. Der Krieg hat nicht nur ihre Jugend gefressen, er hat auch ungeheure Zerstörungen in ihrem Innern angerichtet. Ich glaube, für die ganze Generation ist „Unbefangenheit“ ein Fremdwort. Aber all diese Bilder des Grauens, die Angst, das Nicht-Passen-Können in ihnen tradieren sie uns unbewußt, unterschwellig. Und darin liegt eine Gefahr, nämlich, daß wir mit diesen Problemen auch nie fertig werden können, weil sie nicht bewußt werden.
Hier ist meiner Meinung nach der Punkt, an dem der viel geforderte Dialog zwischen den Generationen sinnvoll wäre. Denn fast alles, was uns gesagt wird, ist retrospektiv, im Rückblick auf die Zeit als geschichtliche Epoche, exakt eingrenzbar und rational durchdiskutierbar. Die individuelle Erfahrung hat man aus der Vergangenheit weggeleugnet. Eine Epoche kann man jedoch nicht bewältigen, solange die verdrängte individuelle Erfahrung die Kommunikation zwischen den Generationen prägt.
Man sollte Zerstörungen nicht unter der Hand weitergeben.