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04.11.2021, 09:00 Uhr
Kay Wolfinger
Gespräche

Sieben Fragen anlässlich des 50. Todestages von Gertrud von le Fort

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Gertrud von le Fort beim Empfang der Jahressitzung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste am 7. Juni 1955 (Bayerische Staatsbibliothek/Timpe)

Am 1. November 2021 jährte sich der 50. Todestag der schwäbischen Schriftstellerin Gertrud von le Fort (1876-1971). Le Fort stammte aus hugenottischem Adelsgeschlecht und zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Autorinnen christlicher Prägung im 20. Jahrhundert. Das folgende Interview mit Germanistikdozent Dr. Kay Wolfinger (Universität München) spürt aus persönlicher Sicht le Forts literarischem Schaffen nach und erklärt, warum die Dichterin immer noch gelesen werden sollte. 

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Sieben Fragen anlässlich des 50. Todestages von Gertrud von le Fort
und: ein Katalog an Antworten zum 1. November 2021

 

Warum sollte man sich in den heutigen Zeiten noch mit dem Werk Gertrud von le Forts beschäftigen?
Gertrud von le Forts Werk ist ein vergessenes, das sich unbedingt lohnt zu entdecken, wieder zu entdecken oder neu zu lesen. Sich mit einem vergessenen Werk zu beschäftigen, bringt Chancen und Gefahren mit sich. Die Gefahren sind in le Forts Fall die weltanschaulich engen und von Epigonen ins Politische gewendeten Dikta, die man aus ihren Texten extrahieren will, die aber der Universalität und gestalterischen Qualität von le Forts Schaffen widersprechen. Zum anderen betritt man also ein vermintes Gelände, das aber in der breiten Leserschaft, der Literaturwissenschaft oder des Kulturbetriebs keinen interessiert, weil man die Autorin ausschließlich mit vermeintlich veralteten, christlichen Themen konnotiert. Die ungeheure Chance ist aber, die Schönheit ihres Werkes wiederentdecken zu können, sie als eigenständige Stimme eines Renouveau Catholique in Deutschland beschreiben zu können, aber als Literatin, an deren Werken man wachsen kann und an deren Themen wie Gnade, Menschlichkeit, Grenzenlosigkeit man immens viel in der heutigen Zeit lernt.

Wie passt Gertrud von le Fort zu den heutigen Debatten um Identität, Gender, Wokeness etc.?
[lacht] Überhaupt nicht. Wir dürfen nicht vergessen, dass le Fort auch ein historischer Fall ist, dass sich die Geschichte Deutschlands, Stichwort ‚Innere Immigration‘, die Stellung als Nachkriegsintellektuelle, religiöse Dichterin zwischen Widerstand, Bewahrung der Schöpfung und Öffnung der Kirche zwar an le Forts Denken und Schreiben ablesen lässt, dass ihre Texte aber angesichts der heutigen Debatten nur mit größerem argumentativen Aufwand anschlussfähig gemacht werden können. Es ist vor allem die Bauform, die sprachliche und künstlerische Qualität, die ich an ihrem Werk für beachtenswert halte und ihre überzeitlichen Themen von Universalität, Transzendenzaffinität, Aufwertung des Menschlichen in unserem Weg durch die Nacht, wie ein Text le Forts nach dem Krieg heißt, Themen, die man reaktualisieren könnte. Zwar sind ihr Plädoyer für eine mystische Frömmigkeit und ihre Hymnen an die (universale) Kirche geradezu magische Texte, die das Christentum und namentlich der nachkonziliare Katholizismus dringend nötig hätte, aber ich denke, diese Debatte steht auf einem anderen Blatt.

Wie hat sich Ihre Beschäftigung mit und Ihre Lektüre von Leben und Text le Forts im Laufe der Jahre entwickelt?
Ich bin in Sonthofen im Allgäu geboren; daher war Gertrud von le Fort für mich schon als Schüler eine Dichterin, die hier gewohnt hat, deren Wege ich in Oberstdorf besuchen konnte (das dortige Gymnasium ist nach ihr benannt). Wir hatten in der achten Klasse einen sehr interessanten Deutschlehrer, der uns le Forts Gedicht Die Heimatlosen interpretieren ließ. Ich konnte dessen Schlussverse nicht mehr vergessen:

Die Schuld ist ausgeweint, wir sind entronnen
Ins letzte Weh:
Die ew’ge Gnade öffnet ihre Bronnen –
Blut wird zu Schnee.

Um das Jahr 2009 habe ich mich im Pontifikat Benedikts XVI. sehr stark mit zwei innerkirchlichen Bewegungen beschäftigt: Nach dem Moto proprio Summorum Pontificum und dank der Lektüre von Martin Mosebach mit der Wiederzulassung der alten Messe im überlieferten Ritus der Kirche und mit dem Esoterischen der Kirche, einer meist unsichtbaren Untergrundströmung des Glaubens, die sehr mystisch und magisch ist. In diesem Kontext habe ich den Allgäuer Kreis entdeckt, zu dem Arthur Maximilian Miller und seine Frau gehörten, dann Gertrud von le Fort und Arthur Schult, ein Privatgelehrter, der in der Nähe von Oberstdorf lebte und das Christliche aus der Richtung von Rudolf Steiners Anthroposophie betrat. Hier zeigte sich mir die Poeta religiosa Gertrud von le Fort als Autorin, deren Kirchenverständnis in ihren Texten universell, überzeitlich und als Konvertitin vom Protestantismus zum Katholizismus im wortwörtlichsten Sinne katholon ist.

Haben Sie Lieblingstexte von Gertrud von le Fort?
Das Buch, in dem le Forts Aphorismen erschienen waren, kurze Sinnsprüche, rätselhafte Kurznachrichten, heilige SMS in einer Zeit, als es die SMS noch nicht gab, hat mir immer viel bedeutet. Dort artikulierte die Dichterin von Oberstdorf Botschaften, die den Menschen in die Herzen gemeißelt werden sollten und die den Menschen damals genauso wenig sagten wie heute. Gertrud von le Fort schrieb: „Ich ließ mich auf den nackten Steinen von Sankt Peter nieder – der Dom umgab mich weit und groß wie die Welt – wohin ich auch ginge, nie würde es einen Ort geben, den dieser gewaltige Dom nicht zu umfassen vermöchte.“ Im Bild von Sankt Peter taucht also das auf, was bei le Fort auch als ‚Die Kirche‘ bezeichnet wurde, eine magische Instanz, die mit den Zuständen auf der Erde nur teilweise zu tun hatte und so groß und so göttlich und so umfassend war, dass mir klar wurde, dass aus dem literarischen Werk selbst dieser große Dom werden sollte, der alles zu umfassen vermochte. Und weiter le Fort: „Bekanntlich ist die Rätselhaftigkeit für aufgeklärte Zeiten wie die unsere das Allerunerträglichste.“ Nichts konnte passender sein, die Signatur unserer Tage zu beschreiben, die Feindlichkeit der Gesellschaft allem Geheimnisvollen gegenüber, allem Numinosen. Gertrud von le Fort hatte so manche Wirrnis überstanden, und so schreibt sie einen dazu passenden Leitspruch, eine Weisung: „Der Christ steht immer auf verlorenem Posten, und so ist es auch ganz in Ordnung: auf verlorenem Posten stehen, das heißt dort stehen, wo auch Christus hier auf Erden stand. Gefährlich wird die Sache erst, wenn man als Christ die Fahnen dieser Welt ergreift, um sich zu retten.“ Das war also die Aufgabe: Abseits zu stehen und schon zu wissen, dass das Werk hier auf Erden verloren ist, während es vielleicht in der anderen Welt, der wahren, erst errettet würde und sich ganz bewahrheiten sollte. Umso merkwürdiger dünkten mich dann all diejenigen, die im Namen der Religion die Belange der Welt auf ihre Fahnen geschrieben hatten und damit nicht im Namen des Heiligen zugange waren, sondern nur verweltlicht im Namen der Welt. Wie visionär hatte le Fort auch diesen Umstand ausgedrückt: „Man kann nicht mit den Waffen dieser Welt für Christus kämpfen, sondern wenn man mit den Waffen dieser Welt kämpft, so erkämpft man die Welt – die Welt überwinden kann man nur, wenn man die Welt überwindet!“

Besonders schön finde ich aber auch das Gedicht Das ferne Grab, verfasst von le Fort als Erinnerung an die Mutter:

Die Wandervögel ziehen –
Daß ich nicht Flügel hab!
Noch einmal wollt ich knieen
An meiner Mutter fernem Grab,

Noch einmal Blumen tragen
Auf das verlaßne Hügelbeet,
Mit bangen Augen fragen,
Ob auch das Kreuz darauf noch steht?

Das Haus ist wohl verschwunden,
Darin sie einst so mild gebot –
Ob es noch Trümmer kunden,
Oder sind auch die Trümmer tot?

Ging alles ganz zu Grunde,
Was sie geliebt an diesem Ort?
Hör ich in weiter Runde
Wohl noch ein einzges deutsches Wort?

Am Friedhofstore schlingen
Die fremden Kinder Ringelreihn,
Der Sprache dunkles Klingen
Geht mir so feindlich ein.

Ich könnt sie alle hassen:
Wie brächten sie der Mutter Leid!
Und doch, sie würd umfassen
Auch dieses noch mit Gütigkeit.

O könnt ich einmal weinen
Bei ihr um dies verlorne Land,
Die heiße Hand vereinen
Mit ihrer stillen, sanften Hand,

In ihre Liebe betten,
Was mich so zornig überfällt,
Und ihr ans Herze retten
Die ganze mutterlose Welt.

Gertrud von le Fort mit dem Schriftsteller Günter Eich (l.) und dem Architekten Paul Schmitthenner, Jahressitzung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste am 21. Mai 1951 (Bayerische Staatsbibliothek/Timpe)

Womit kann man bei le Fort beginnen?
Ich würde vorschlagen, dass man sich einfach durch Gertrud von le Forts Werk treiben lassen sollte. Berühmt ist natürlich ihre Novelle Die Letzte am Schafott, welche die Reinheit einer gläubigen Frömmigkeit der rasenden Revolutionswut entgegenstellt. Aber Gisbert Kranz’ schöne Bildmonographie Gertrud von le Fort. Leben und Werk in Daten, Bildern und Zeugnissen, 1976 im Insel Verlag erschienen, enthält viele Anregungen mit den visuell gemachten Lebensstationen le Forts. Eine Empfehlung ist das letzte von le Fort veröffentlichte Büchlein Der Dom, eine Erzählung, die 1968 im Franz Ehrenwirth Verlag in München erschien und zum Gegenstand hat, wie eine mystische, der Institution übergeordnete Vision die Schranken der Konfessionen überwindet und wirklich zu einer Kirche wird. – Man kann also durchaus sagen, dass der Beitrag le Forts zur Neukonstitution der Kirche groß wäre und dass auch die Geschlechtlichkeit der Gläubigen fluider wird in der Mystik, eine Tatsache, mit der z.B. unlängst noch Thomas Meinecke in seinem Roman Jungfrau alle statischen Gendervorstellungen des Katechismus widerlegt hat.
Ein wirklicher Lektüretipp ist aber die Edition Briefe der Freundschaft mit Gertrud von le Fort (Maximilian Dietrich Verlag, Memmingen 1976), die le Forts Dichterfreund Arthur Maximilian Millers besorgt hat. Er hat den gemeinsamen Briefverkehr, gestaltet als spannenden Dialog, herausgegeben. Vor ein paar Jahren habe ich mich in der Augsburger Staats- und Stadtbibliothek mit den Briefen in Millers Nachlass beschäftigt.

Gibt es ein kurioses Fundstück aus dem Umkreis von Gertrud von le Fort?
Als ich vor ein paar Jahren im Deutschen Literaturarchiv Marbach auch die Materialien im Nachlass Gertrud von le Forts gesichtet habe, blätterte ich eines Abends nichtsahnend durch ein Gästebuch, das im Collegienhaus, dem dortigen Wohnhaus für Besucher, auslag und in das man sich eintragen konnte. Dort hatte sich Eleonore v. La Chevallerie verewigt, die letzte Oberstdorfer Sekretärin, die bei Gertrud von le Fort lebte. Sie fuhr noch viele Jahre nach le Forts Tod ans Deutsche Literaturarchiv und hat dort le Forts Nachlass sortiert und gearbeitet. Ich weiß nicht, ob das Gästebuch heute noch dort liegt – man hat es eigentlich nicht selbst als Archivalie betrachtet – oder ob man es mittlerweile in den Archivbestand übernommen hat. Die beiden Eintragungen im Gästebuch jedoch lauten:

Gerne war ich hier zu Gast und reise
ungern wieder fort. Man lebt so recht
gemütlich hier, dazu der großartige
Komfort.
Und ist der Geist vom Tag her 'g'schaft'
holt man beim Pingpong neue Kraft.
Und daß man traf so nette Leu,
war noch ganz besondre Freud.
Vor allem aber möchte ich Frau Steur danken,
die alle so liebevoll betreut, und die
im Extrawünsche zu erfüllen wirklich
keine Mühe scheut. Immer freulich, ge-
duldig und nett, auch wenn drei auf einmal
vor ihr stehen!
Ich danke sehr und hoffe auf ein Wiedersehen.

9.12.1995 Eleonore v. La Chevallerie


Endlich war ich wieder hier,
Ist's Archiv fast Heimat mir,
seit nunmehr 28 Jahren
kam ich winters hergefahren
u. der gern geübte Brauch
soll sich nun fortsetzen auch,
denn es läßt mich gar nicht ruhn,
daß am Nachlaß noch zu tun.
<Das Gästehaus ist wirklich schick
und ich genieß des Abendblick.
Eines aber muß ich sagen
(zwar mir liegt's nicht, viel zu klagen):
Wenn ich sitze möcht ich so
sitzen wie mein Sitzfleisch will,
Nicht auf solchen Holzgestellen
sei noch so modern der Stil.
Der Erfinder sollt zur Strafe
mal drauf festgebunden sein,
mind'stens 24 Stunden,
dann verstünd er unsere Pein.

15.1.-19.2.2001 Eleonore v. La Chevallerie

Was könnte ein Schlusswort sein in diesem Gespräch, das nach 50 Jahren von le Forts Ableben noch einmal an die Dichterin erinnern will?
Geben wir doch Gertrud von le Fort selbst das letzte Wort. Ich habe hier einen Brief aus Millers Briefband ausgewählt, den le Fort in Oberstdorf am 28.12.1944 an Arthur Maximilian Miller und seine Frau Magdalena Miller geschrieben hat. Verfasst in der dunkelsten Zeit des Krieges, sagen diese Zeilen viel über le Forts Dichtungsverständnis und Werk aus. Man möge endlich ganz unbedarft wieder zu ihren Büchern greifen.

Meine lieben Freunde!
Herzlich danke ich Ihnen für […] Ihren Weihnachtsbrief, der so gut dazu paßte in dem, was er über die menschliche Freundschaft sagte als Bild und Hinweis auf die Freundschaft Gottes. Ich nehme diesen Brief mit über die Schwelle des neuen Jahres als einen innigen Trost in allem Bangen und als ein kleines Licht im Dunkeln. Ja, so wie Sie sagen, wollen wir es halten und wollen vertrauen. Berdjajew, unser Freund, sagte einmal, daß auch die Nacht schön und voller Wunder sein kann – wollen wir also getrost die Nacht erwarten! Auch die Engel kommen am liebsten bei der Nacht. Daß neben Ihrem neuen Werk ein Engel stehe, ist mein großer Wunsch zu diesem neuen Jahr! Das Thema hat mich nicht mehr losgelassen, seit Sie mir davon sprachen, und ich kann wohl sagen: ich bin ganz besonders gespannt auf das, was Sie mir vorzulesen versprachen. So steht am Eingang dieses ungewissen Jahres wenigstens eine ganz große Freude. / Gott nehme Sie beide in seinen Schutz und segne Sie, was auch immer kommen mag.

 

Dr. Kay Wolfinger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche Philologie an der LMU München. Weitere Informationen auf seiner Homepage: https://www.kay-wolfinger.de/vita