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Géraldine Schwarz im Gespräch über ihr gefeiertes Buch „Die Gedächtnislosen“

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© Mathias Bothor

Géraldine Schwarz, geboren in Straßburg, ist eine deutsch-französische Journalistin und Dokumentarfilmerin. Die langjährige Deutschland-Korrespondentin der Agence France Presse (afp) publiziert heute in verschiedenen internationalen Medien. Sie lebt in Berlin. Die Gedächtnislosen, inzwischen in etliche Sprachen übersetzt, erzählt auf ebenso persönliche wie historisch versierte Weise von der Entwicklung europäischer Erinnerungskultur, vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Rechtspopulismus der Gegenwart. 2018 wurde das eindrucksvolle Buch mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichnet.

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LITERATURPORTAL BAYERN: Am Anfang Ihres Buches schreiben Sie, dass Sie Ihren eigenen „Weg im Dickicht der Vergangenheit“ finden wollen. Das ist Ihnen gelungen. Aber haben Sie denn aus dem Dickicht auch wieder herausgefunden? Einmal sprechen Sie von einer regelrechten Obsession.

GÉRALDINE SCHWARZ: Wahrscheinlich findet man da nie mehr ganz heraus. Das Dickicht aus unterschiedlichsten Spuren ist einfach zu dicht. Die Geschichte ist ja kein fester Wahrheitsblock; wir können nie genau wissen, wie etwas war. Man kann nur versuchen, die verschiedenen Spuren zu verweben. Die offizielle Geschichtsschreibung ist eine von ihnen, aber mit der können sich viele Menschen gar nicht identifizieren. Daneben gibt es die kollektive Erinnerung, die von der Politik durch Denkmäler und Gedenktage und von der Fiktion durch Bücher oder Filme vermittelt wird. Und für die jüngere Zeit: die persönliche Erinnerung – die eigene oder auch die innerhalb der Familien.

Ich habe versucht, die vielen Ebenen dieses Labyrinths zu verbinden, zu versöhnen, so dass daraus ein großes Bild entsteht, ein Tableau. Dabei war die Familiengeschichte enorm hilfreich, denn die Art und Weise, wie meine Großeltern das Dritte Reich erlebt haben, ist fast paradeexemplarisch. Sie waren weder Helden noch große Verbrecher. Eher Mitläufer. Es hat mich interessiert, diese eigentlich unspektakulären Figuren hervorzuheben, die sonst oft im Schatten bleiben.

 

Sie beschreiben differenziert, wie die Stufen der Erinnerung oder auch ihrer Verweigerung nicht etwa zufällig beschritten werden, sondern jeweils bestimmten Interessen folgen. Was war denn Ihr eigenes Interesse für diese große Erinnerungsarbeit?

Der Anstoß war nicht so sehr die persönliche Familiengeschichte, sondern die aktuelle politische Lage in Europa: der Erfolg von Populismus und autoritären Modellen, das Misstrauen gegenüber der Demokratie, nicht nur in Europa. Ich habe mich gefragt, wie diese Modelle jetzt wieder so stark verfangen können. Hat man alles vergessen, was daraus im 20. Jahrhundert erwachsen ist? Warum wählen etwa die Brasilianer gerade jemanden an die Macht, der die Diktatur verteidigt, unter der das Volk so gelitten hat? Das ist irrational – man entscheidet sich für etwas, das gegen das eigene Interesse ist. Ich glaube, das hat etwas mit Amnesie zu tun. Mit dem Buch wollte ich über meine Familie die große Geschichte nochmal neu erzählen, so dass sich auch jüngere Generationen wieder damit identifizieren können, indem sie erkennen: Diese Geschichte ist keine staubige, weit entfernte Vergangenheit, sie ist auch Teil meiner eigenen Familie. 

 

Jeanne und Lucien, die französischen Großeltern von Géraldine Schwarz

 

Sie sind auch Dokumentarfilmerin. Hat sie das Thema nicht als Film gereizt?

Ein Film wäre unmöglich gewesen. Der Bogen ist zu groß. Momentan mache ich aber einen Film über eins der Kapitel, jenes über die Traumata der Nachwendezeit, ihre eigene Ausprägung der Amnesie und deren Folgen für die anhaltende Kluft zwischen Ost- und Westdeutschland. Außerdem glaube ich, dass meine filmischen Erfahrungen den Schreibprozess selbst beeinflusst haben. Der ‚Schnitt‘, der dramaturgische Aufbau, die Montage von Interviews, Kommentaren und geschichtlicher Erzählung – das ähnelt schon dem Übereinanderlegen verschiedener Spuren im Schneideraum. Und als Journalistin habe ich Erfahrung damit, vieles auf wenigen Seiten so zu verdichten, dass es noch lesbar bleibt.

 

Die Gedächtnislosigkeit vollzieht sich gerade auch in Familien. Selbst wenn man die Aufarbeitung bejaht, fällt es oft schwer, die dunklen Seiten der eigenen Familie offen zu betrachten. Wie war das für Sie selbst?

Das ist mir nicht schwer gefallen. Ginge es um die Eltern, wäre es sicher problematischer, aber meine Großeltern kannte ich kaum. So gab es keinen Konflikt mit Familienloyalität oder einem gefilterten Urteilsvermögen. Bei meinen ersten Quellen, meinem Vater und seiner Schwester, war aber schon zu merken, dass sie ganz unterschiedliche Sichtweisen haben –  seine vielleicht etwas zu streng, ihre zu tolerant. Selbst innerhalb einer Familie spalten sich die Erinnerungsspuren also schon auf! Und ich weiß, dass sich viele aus der dritten Generation schwer tun, die Geschichte der eigenen Großeltern kritisch zu hinterfragen, die sie vielleicht nur als liebe, ältere Leute kennen.

 

Sie schreiben anfangs, Sie wollen mit ihrem Buch der historischen Wissenschaft etwas Seele einhauchen. Wie haben Sie Historie und Privatgeschichte in eine Form gebracht?

Die Form entwickelte sich intuitiv. Ich interessiere mich sehr für Zusammenhänge. Das war mein Fokus für die Fakten. Es war ja lange Mode, sich der Geschichte über einen sehr begrenzten Blickwinkel zu nähern. Ich versuche dagegen eher, das große Bild wieder herzustellen. Das war die Herausforderung, aus der sich die Methodik ergab. Zuerst die große Linie, dann der Zusammenhang mit der Privatgeschichte. Der ursprüngliche Impuls war sogar, ein Buch für die Franzosen zu schreiben – über die schwierige aber gelungene Verankerung der Demokratie in der deutschen Gesellschaft. Daher stammt noch der übergreifende Ansatz. Es war dann gewissermaßen Glück, dass meine Familiengeschichte den verschiedenen Entwicklungsstufen ziemlich genau folgt. Wie in sehr vielen deutschen Familien.

 

Lydia und Karl, die deutschen Großeltern von Géraldine Schwarz

 

Ihr Großvater Karl Schwarz profitierte vor dem Krieg von der Drangsalierung jüdischer Geschäftsleute. Einerseits ist es schwer zu ertragen, wie er sich nach dem Krieg selbst als Opfer darstellt, andererseits spürt man, dass er es tatsächlich so empfunden haben muss. Das macht ihn zu einer faszinierenden Figur.

Man ist fast nie nur Täter oder Opfer. Viele Deutsche haben sich in den Jahren nach dem Krieg als Opfer gefühlt – der Bomben, der Armut usw. Sie konnten nicht nachvollziehen, dass sie sich jetzt auch noch dafür entschuldigen sollten. Das hat mich interessiert, auch als gesellschaftspsychologischer Aspekt: dass eine ganze Kehrseite komplett ausgeblendet werden kann.

 

Sie gehen sehr dezent mit gestalterischen Mitteln und fiktionalen Elementen um, aber sie setzen sie schon ein – etwa in Form von Evokationen („Ich stelle mir vor …“). Warum?

Zwischen den Spuren der Vergangenheit gibt es viele Lücken, dort herrscht ein Vakuum. Man braucht Vorstellungskraft, um diese Lücken zu überbrücken. Selbst Historiker arbeiten so, damit es nicht allzu trocken wird. Mir war aber wichtig, dass man sehen kann, was fiktional gestaltet ist. So entsteht ein Bild, eine Geschichte. So entsteht Empathie, und diese führt weiter zur psychologischen Entwicklung, die einen Menschen dazu bringt, Mitläufer eines verbrecherischen Regimes zu werden.

 

Erstaunlicherweise fehlt es heute vielen an Empathie für die Geflüchteten, die zu uns kommen, selbst wenn es in der eigenen Familiengeschichte Fluchtschicksale gab.

Das liegt an einer neuen Form der Gedächtnislosigkeit. Noch weniger als meine kann sich die jetzt nachwachsende Generation Krieg, Leid und Flucht vorstellen. Es fehlen die alltäglichen Bezüge. In Deutschland hat die Erinnerungsarbeit zwei Generationen lang gut funktioniert, aber jetzt trägt sie weniger. Für die Jüngeren ist der Nationalsozialismus zu lange her, um sich über seine Aufarbeitung noch in Empathie zu üben und die Wachsamkeit aufrechtzuerhalten. Eine Lösung könnte sein, die individuellen Familiengeschichten wieder mehr in die große Geschichte einzubetten, auch an den Schulen. Die eigene Familiengeschichte könnte im Rahmen des Unterrichts  recherchiert werden. So würden viele auf Fluchtgeschichten stoßen und Interesse für die Kontinuitäten bis hin zu den gegenwärtigen Konflikten entwickeln.

 

Dennoch endet Ihr Buch eher pessimistisch. Schon der Untertitel „Erinnerungen einer Europäerin“ suggeriert etwas Vergangenes. Ist das Europa, das Sie beschwören, schon verloren?

Nein. Für den Brexit haben ja zum Beispiel vor allem ältere Engländer gestimmt, auch die Verbitterung in den ostdeutschen Bundesländern ist vorrangig ein Altersphänomen. Die nächste Generation tickt möglicherweise schon wieder anders. Gerade an sie will mein Buch appellieren, ihr Bewusstsein an der Geschichte zu schärfen. Dann wird sie sich bewähren, auch gegen die sozio-psychologischen Mechanismen, die derzeit von den Populisten zur Manipulation eingesetzt werden: das Spiel mit Angst, Opportunismus und Opfertum. Das gab es alles schon vor hundert Jahren. In unseren medial beschleunigten Zeiten steigern sich die Effekte vielleicht noch, aber im Grunde ist es nichts Neues. Und nicht allmächtig. Im Gegenteil, die Geschichte bietet die Möglichkeit, sich dagegen zu wappnen.

Aber die Menschen können nicht nur mit negativen Erinnerungen leben, sie brauchen auch positive. Man darf dieses Terrain nicht den Populisten überlassen. Die Deutschen dürfen stolz sein. Nicht auf die Haltung der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, wie es der Vorsitzende der AfD fordert, sondern auf den mühsamen Aufbau seiner Demokratie dank einer mutigen Erinnerungsarbeit, die von vielen auf der Welt bewundert wird.

Allgemein braucht Europa ein positives Narrativ, um das Europabild zu stärken und gleichzeitig der Identitätskrise vieler Menschen etwas entgegen zu setzen. Es gibt doch auch so viel Positives zu erinnern – der Sieg über totalitäre Regime, das Ende des Kalten Krieges, der friedliche Aufstand der Massen im Osten! Warum hat man den osteuropäischen Bevölkerungen dafür nie den Friedensnobelpreis verliehen? Die Amerikaner hätten darüber längst eine Netflix-Serie gedreht.