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13.10.2021, 09:00 Uhr
Alina Tempelhoff
Spektakula
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(c) Hanser Verlag

Lesung von Fridolin Schley im Literaturhaus München

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Fridolin Schley & Géraldine Schwarz © Livestream/Literaturhaus

Vor rund zwei Wochen, am 27. September 2021, las der Münchner Autor Fridolin Schley im Literaturhaus München aus seinem aktuellen Roman Die Verteidigung (Hanser Berlin). Das Buch nähert sich den historischen Figuren Richard und Erich von Weizsäckers vor dem Hintergrund der Nürnberger Prozesse, Sohn und Vater, in deren Beziehung sich das „Verhältnis der Schutzpflicht zwischen Eltern und Kindern plötzlich umkehrt“: Angeklagter, der Vater – juristischer Verteidiger, der Sohn. Sowohl das Buch als auch der literarische Abend fanden sich in einem Geflecht von Gegensätzen wieder: Wo kann in dem kontroversen Feld des Projekts eine Position zwischen Schuld und Scheitern, Wahrheit und Loyalität, Realität und Fiktion, Autor und historischer Figur gefunden werden? Ein Beitrag von Alina Tempelhoff.

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Autorin und Filmemacherin Géraldine Schwarz führte durch den Abend. Ihr Werk, u.a. der dokumentarische Essay Les Amnésiques („Die Gedächtnislosen – Erinnerung einer Europäerin“, Secession Verlag) legte in seiner eigenen literarischen Auseinandersetzung mit der Frage der Schuld und Unschuld, nach Gut und Böse in der Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus eine Grundlage für das Gespräch.

Der erste Lesungsteil entwarf eine „Vater-Sohn-Dramaturgie“ zwischen den Figuren und befragte das, was sie repräsentieren: ein altes und ein neues Deutschland, den Zwiespalt zwischen einer alten aristokratischen und einer jungen Generation mit neuem demokratischen Bewusstsein. Ernst von Weizsäcker, der den Prozess als „Zumutung“ empfindet, steht dabei im stillen Protest gegen ein falsches Gericht. Er habe gehandelt, um Schlimmeres zu vermeiden, und sei seinen Idealen des Friedens im Geheimen treu geblieben. Der Sohn sieht sich einem Vater konfrontiert, den er kaum zu kennen scheint, und versucht, aus den Dokumenten, Anschuldigungen, Erinnerungen und Beobachtungen ein Bild seiner Person zusammenzusetzen. Er hadert zwischen einem Drang nach Wahrheit und der Loyalität bzw. dem Glauben zum Vater. Und verteidigt ihn schließlich bis zum Schluss.

Wie geht Die Verteidigung mit seinem konkreten, geschichtlichen Bezug um? Fridolin Schley hatte im Vorfeld des Buches eine umfassende Recherche und Sichtung betrieben und die Quellenlage ausgewertet. Während manche Aspekte des Verhältnisses von Ernst und Richard von Weizsäcker in Protokollen, Briefen und Berichten eindeutig überliefert sind, bleiben andere, und besonders persönlichere, im Dunkeln. Unweigerlich stellt sich die Frage: Wie geht ein Autor mit solchen Leerstellen in der Überlieferung um? Fridolin Schley begegnet ihnen literarisch. Anders als in einer essayistischen oder wissenschaftlichen Arbeit erlaubt der prosaische Schreibstil ihm die Annäherung auf einer emotionaleren Ebene: Der Zugriff auf die historischen Figuren wird empathischer, zugänglicher, und möglicherweise sogar verständnisvoller. Zur gleichen Zeit musste Schley seine „feste eigene Meinung“ zurücknehmen, um den Raum für die Entwicklung der Figuren zu öffnen.

Der Roman vollzieht dabei laut Schley eine Pendelbewegung zwischen Annäherung und Distanz zwischen Leser*innen und Figuren sowie unter den Figuren zueinander. Sein Stil will sich dem Leser nicht aufdrängen, keinesfalls nach Effekten haschen, nichts programmatisch enthüllen. Stattdessen zeigt er nahbare Phasen der Annäherung an Vater / Sohn und ihr Verhältnis, kontrastiert sie mit essayistischen Passagen, in denen eine schmucklose, detailreiche Einordnung der Vorgänge und Dokumente des Prozesses im Vordergrund stehen. So nähert das Buch sich den beiden Personen nach und nach an, umkreist sie, und befragt sie vor ihrem historischen Kontext.

Fridolin Schley liest © Livestream/Literaturhaus

Der Abend im Literaturhaus befragte wiederum das Buch selber und zog den Bogen über die historische Einordnung der Zeit, die vorherrschende Stimmung in Deutschland und die Reaktion der Öffentlichkeit auf die Prozesse bis zu einem Für-und-wieder der Schuld Ernst von Weizsäckers. Er verwies auf das zeitgenössische Verhältnis zur Demokratie ebenso wie auf den Stand der Quellenlage und besprach Details, wie z.B. den eigentümlichen Jargon der überlieferten Kommissionsdokumente oder die Kirchenvertreter, die in die damalige Lücke moralischer Absenz getreten waren.

Über das vielschichtige Thema hinaus gelangten Géraldine Schwarz und Fridolin Schley auf eine Ebene, die die Verantwortung und Freiheit des Autors vor einem historischen Kontext besprach. Schley sagte an einer Stelle: „Die literarische Freiheit hört nicht auf“. Und trotzdem muss sie sich ihrer ständigen Verantwortung bewusst sein, denn, so Géralinde Schwarz, die Figuren seien „nicht mehr da, um sich zu verteidigen“.