Über das Werk von Asta Scheib (8): Verstreute München-Impressionen

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© dtv Verlag

Die am 27. Juli 1939 in Bergneustadt (Nordrhein-Westfalen) geborene und seit den 1970er-Jahren in München lebende Schriftstellerin, Journalistin und Drehbuchautorin Asta Scheib hat letztes Jahr ihren 80. Geburtstag gefeiert. Mit dem achten Teil unserer mehrteiligen Blogreihe und den darin enthaltenen München-Impressionen schließen wir den Streifzug durch ihr vielfältiges literarisches Werk nun ab (alle Beiträge zur Blogreihe finden Sie HIER). Ein Beitrag von Nastasja S. Dresler.

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Asta Scheibs (Wahl-)Heimat München bildet die Kulisse für eine Vielzahl ihrer Werke. Mal sind es nur Straßennamen, die den Schauplatz der Handlung verraten, oder ganze Straßenzüge, wie in Langsame Tage, wenn die Protagonistin nachts mit dem Auto unterwegs ist:

In der Schwere-Reiter-Straße ordnete sich Agnes rechts ein. Richtung Dom-Pedro-Straße. So umging sie den Rotkreuzplatz, der mit seinen Baugruben und schmalen Durchschlupfen schwer passierbar war. Außerdem liebte es Agnes, am Kanal vorbeizufahren, auf der südlichen oder nördlichen Auffahrtsallee. Meter für Meter genoß sie diese vollkommene Schönheit, schaute in die Böcklinstraße hinein, die aussah wie aus früherer Zeit hingezaubert. Alle Menschen in den Häusern schienen zu schlafen. Als Agnes sah, daß hinter ihr noch ein Wagen fuhr, fühlte sie sich zu dem Fahrer hingezogen. So allein kann ein Mensch sein, dachte sie, daß einer, der die gleiche Straße fährt, dir nahe ist.

(Asta Scheib: Langsame Tage. Nymphenburger Verlag, München 1981, S. 56.)

Häufig findet die Stadt aber auch in historischen Darstellungen Erwähnung und erfährt der Leser beiläufig auch einiges über die Stadtgeschichte, wie z.B. in Schütz mein Herz vor Liebe, der Geschichte über die Münchner Jüdin Therese:

Als im Sommer 1937 München Kunststadt wurde und Hitler den Münchnern das Haus der Deutschen Kunst schenkte, gab es eine große Kunstausstellung mit Werken, die den Nazis genehm waren. Und natürlich gab es einen gewaltigen Festzug. Diesmal gingen Therese und Sibylle nicht hin. [...] Die Familie Suttner ging in eine andere Ausstellung. Es war nach langer Zeit, das erste Mal, daß sich alle gemeinsam aus dem Haus begaben. Sie gingen in den Hofgarten, wo in den Arkaden, parallel zur Ausstellung im Haus der Deutschen Kunst, entartete Kunst gezeigt wurde. Kunst als abschreckendes Beispiel. Kunst, wie sie nicht sein durfte. [...] In der Galeriestraße war [...] ein solch starker Andrang, daß die Suttners zunächst nicht zu den Bildern gelangen konnten.

(Asta Scheib: Schütz mein Herz vor Liebe. Die ergreifende Lebensgeschichte der Münchner Jüdin Therese Rheinfelder. dtv, München 2005, S. 88f.)

Das Buch zeichnet die Situation der bayerischen Landeshauptstadt unter dem Einfluss Hitlers nach und entfaltet vor diesem Hintergrund die Lebensgeschichte der Hauptperson.

Therese erinnerte sich oft daran, daß Girgl gesagt hatte, München sei nicht die Hauptstadt der Bewegung, München sei vielmehr die Hauptstadt der Gegenbewegung. Das war lange her. Im Bürgerbräukeller, im November 1939, hatte tatsächlich einer versucht, Hitler umzubringen. Feiger Mordbubenanschlag auf den Größten aller Zeiten. So einer hat sieben Leben wie die Katzen, hatte Anni bitter gesagt. So einen wie Hitler, den bringt nichts um. Frauen, junge Mädchen schluchzten in den Straßen. Hitler selbst sei bleich, aber gefaßt, hörte man im Radio. Und die Nazis siegen. Bald werden die Hitlerdeutschen den Erdball überschwemmen. Aus allen Lautsprechern erschallte die Stimme Hitlers. [...] München hatte Adolf-Hitler-Straßen. Therese wußte, daß es in Solln eine gab und in Aubing. [...] Die ersten Flugzeuge dröhnte über die Stadt. [...] Es hieß, daß Hitler sich in Solln einen luxuriösen Bunker bauen ließ. Selbstverständlich war Juden nicht erlaubt, einen der Bunker Münchens auszusuchen. Sie durften auch nicht in den Luftschutzkeller, wenn Fliegeralarm war.

(Ebenda, S. 104f.)

Auch in der Spitzweg-Biografie Sonntag in meinem Herzen bildet München das Panorama der Handlung. Die Residenzstadt der Biedermeierzeit wird ausgedehnt porträtiert, wie anhand einer Episode zum Oktoberfest:

Neben dem beliebten traditionellen Pferderennen gab es freies Vogel-, Hirsch- und Scheibenschießen. In einem Glückshafen konnte man hoffnungsfroh sein letztes Geld verlieren, überall ertönten Lieder und Gesänge, an allen Ecken und Enden gab es kostenlos Wettläufe und Wettringen von Handwerksburschen und Gesellen. Fast an jedem Abend krachte und knallte ein Feuerwerk, das Kaskaden in Silber, Rot und Grün auf die staunenden Zuschauer herunterregnen ließ. Auch die Kunstausstellung der Akademie zog die Münchner und die Leute vom Land in erstaunlichen Mengen an. Schnurrbärtige Gebirgsbewohner standen in ihrer malerischen Tracht vor großen Tiroler Schlachtengemälden oder vor Pferdebildern. Wohl weniger der Schlachtengemälde wegen als zum Besuch der landwirtschaftlichen Ausstellung strömten die Leute aus den Landgemeinden in ihrem Sonntagsstaat in die Stadt. Zum Zentrallandwirtschaftsfest. Das hieß, die Bauern stellten in München ihre Erzeugnisse aus. Städter, die nie im Gebirge waren, hörten jetzt in den Straßen Alpengeläute der Kühe, und das glänzend geputzte Preisvieh war mit Blumen und Kränzen geschmückt. [...] Man war in großzügiger, festlicher Stimmung, die noch durch eine besondere Erwartung angeheizt wurde. Beim Herrenfriseur hörte Carl, dass sich offenbar ein Gerücht bestätigte, das durch die Gassen eilte und auch ihm zu Ohren gekommen war: „Sie, Herr Nachbar, haben Sie es schon gehört, unser Prinz Otto trägt demnächst eine griechische Krone.“

(S. 178f.)

Der Erzählband Streusand (2011), in dem die Autorin wiederum persönliche Gedanken und Erinnerungen, angefangen von der Kindheit bis zur Gegenwart, versammelt, liest sich geradezu als ein Streifzug durch verschiedene Münchner Stadtteile und Schauplätze. Die mit Gerner Brücke betitelte erste Geschichte erzählt von einem Spaziergang der Ich-Erzählerin am Nymphenburger Kanal und setzt mit einer Szene auf der gleichnamigen Brücke ein:

Manchmal ist es leicht, sich zu erinnern. Da tut sich plötzlich eine Landschaft auf und bevölkert sich. Das ganze Gehirnland, hat Werner Schwab gesagt. In meinem gibt es einen Kanal und eine Brücke. Die Gerner Brücke. Auf der steh ich oft und denke an nichts. Ich denke gerne an nichts. Unter mir öffnen Karpfen das breite Maul. Einmal im Jahr hab ich einen von denen im Ofen. Weil die von der Schlösser- und Seenverwaltung im Herbst alle Karpfen abfischen. Bis auf die ganz kleinen. Meiner wird dann polnisch, wegen des vielen Rotweins, in dem er gegart wird. Er sitzt auf einer umgedrehten Tasse und glotzt in den Backofen. [...] Stunde null. [...] Er hat alles hinter sich, was er im Nymphenburger Kanal durchmachen musste.

(Asta Scheib: Streusand. dtv, München 2015, S. 9.)

Aus der Perspektive eines Katers, der mit seiner Mutterkatze bei der Familie Hueber weilt, wird in der Geschichte Glück vom Odeonsplatz von dem Delirium berichtet, in das sich die Münchner während der Zeit des Oktoberfestes stürzen:

Meine Mama hat es mir zugeflüstert: „Jetzt werden sie wieder jeden Tag berauscht sein, die Huebers, nicht nur vom Bier. Völlig fremd werden sie einem. Das muss eine unsichtbare Macht sein, eine fremde Landschaft, die sich unserem Blick entzieht.“ Wiesn heißt die Macht, die fremde Landschaft, man kann auch Oktoberfest dazu sagen. Dort gibt es Bier, sagt meine Mama, und zwar nicht maßvoll, wie sonst bei den Huebers, sondern jeder trinkt eine volle Maß – und der Herr Hueber trinkt davon mehrere. Und dann sagt der so Sätze wie: „Wenn der unermessliche Münchner Himmel sich über der Münchner Stadt wölbt.“ Das ist ein großer Satz für einen Hausmeister und ein noch größerer für einen kleinen Kater wie mich. Unermesslich. Die müssen es ja wissen, ob man den Himmel nicht messen kann. Sonst können die doch alles messen. Zum Beispiel das Futter für meine Mama und mich. Das ist kein bisschen unermesslich. Auch der allerkleinste Kater kann das ermessen.

(Ebenda, S. 69.)

Die Huebers wohnen direkt am Odeonsplatz, im 4. Stock der Bank Salomon Oppermann. Die Katzen beobachten die Vorgänge in der Wohnung, wie sich die Familie für den Festbesuch kleidet und das Treiben auf den Straßen zu ihnen vordringt. Überschattet wird die ausgelassene Stimmung durch den Umstand, dass der Kater in den folgenden Tagen ins Tierheim abgegeben werden soll. Der Kater büchst inmitten des Tumults aus und wird auf der Straße von einer Katzenliebhaberin aufgelesen. Die Geschichte schließt mit dem Satz: „Die Wiesn kann manchmal zärtlich sein.“ (Ebenda, S. 76.)

Drei weitere Geschichten kreisen um Beziehungskrisen und -perspektiven. Oh, Planter's Punch erzählt von einem missglückten Abend in der Trader Vic's Bar im Hotel Bayerischer Hof, nach dem die betrunkene Hauptfigur Karen feststellt, dass sie sich in ihrer Liebe zu Rafael getäuscht hat. Schauplatz einer Beziehungskrise ist auch der Franziskaner. In Frühstück im Franziskaner wartet die Ich-Erzählerin auf ihren Mann, der nach einem Termin in der Residenzstraße mit ihr ein Weißwurstfrühstück einnehmen wollte. Nachdem sie eine dreiviertel Stunde vergeblich auf ihn wartet, macht sie sich in dem überfüllten Lokal auf die Suche nach ihm und sieht ihn beim Eingang Perusastraße mit einer anderen Frau stehen. In Advent am Marienplatz macht die in Liebesdingen frustrierte Christiane hingegen eine vielversprechende Bekanntschaft.

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