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03.01.2023, 17:15 Uhr
Tanja Dückers
Text & Debatte
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© Rogert Zagolla

Zur Winnetou-Debatte in den USA

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Karl May um 1907, ein Jahr vor seiner Amerikareise (c) Karl-May-Gesellschaft 2022

Tanja Dückers (*1968 in Berlin) hat 18 Bücher veröffentlicht, darunter die Prosawerke Himmelskörper, Spielzone, Hausers Zimmer, Café Brazil, Essaybände (Morgen nach Utopia, Über das Erinnern), Lyrikbände, Kinderbücher sowie Theaterstücke. Sie äußert sich zu gesellschaftspolitischen Themen und ist auf vielen Podien im In- und Ausland vertreten. Dückers war writer-in-residence u.a. am Dartmouth College, Allegheny College, Oberlin College sowie an der Miami University. 2020 lehrte sie an der Madison University. Sie ist Mitglied im PEN, bei Amnesty International, bei Weiter Schreiben und lebt mit ihrer Familie in Berlin.

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In dem Land, in das sich Karl May mit seinem Helden Winnetou hineinträumte, ist die virulent gewordene Debatte um den Film Der junge Winnetou und die beiden Ravensburger Kinderbücher kaum bekannt. In Nordamerika, der Heimat Winnetous, kennt man den fiktionalen Häuptling der Apachen eher nicht, es herrsche, anders als in Deutschland, ein geringes Interesse der breiten Bevölkerung an der Thematik, so Mila Ganeva, Professor of German an der Miami University, in Oxford (Ohio). Höchstens beim Anschauen von Quentin Tarantinos Inglourious Basterds (2009) ist der Eine oder Andere schon mal über den Namen Winnetou gestolpert.

Dass die Deutschen aber einen Narren an den Native Americans gefressen haben, ist auch hier schon angekommen. Als Folge von Mays Erfolg – die Gesamtauflage seiner Bücher wird auf 200 Millionen geschätzt – werden die amerikanischen Ureinwohner in kaum einem anderen Land der Welt so verehrt wie in Deutschland. So ganz erklären kann man sich das Fernweh und die Wild-West-Romantik, den „Indianthusiam“ (Drew Hayden Taylor, Angehöriger der Anishnaabe in Kanada) im kleinen Deutschland zwischen Alpen, Nord- und Ostsee nicht, obwohl der Reiz des Anderen (mit allen Selbsttäuschungen, Fehleinschätzungen und Klischeevorstellungen inklusive) durchaus auf der Hand liegt.

Deutschland gilt den Amerikaner*innen als Heimat von Chemiker*innen, Ingenieur*innen, Tüftler*innen – nicht zu vergessen Fußballer*innen – und als unglaublich großzügiger Wohlfahrtsstaat. Wo sich da emotionale Vakanzen in der kollektiven Seele der Deutschen auftun, welche dunklen Sehnsüchte ungestillt bleiben, welche komplexe psychologische Gemengelage aus Schuld, Unter- und Überlegenheitsgefühl zugleich nach dem Zweiten Weltkrieg zur (Pseudo-)Identifikation mit Karl Mays „gutem, gerechtem Indianer“ führten, wie diffizil das Verhältnis der Deutschen, selber Bürger einer ehemaligen Kolonialmacht (zur Zeit von Karl May, was kein Zufall sein dürfte), zum „Edlen Wilden“ ist – darüber wissen die meisten Amerikaner*innen wenig, und man kann es ihnen nicht verübeln.

„Even in America, May is enjoyed mostly by Germans“, sagt Michael M. Michalak, der Leiter von Nemsi Books, dem Verlag in den USA, der Karl Mays Werk auf Englisch veröffentlicht hat. Wer sich noch am Ehesten mit Karl May auskennt, sind die Deutschstämmigen, von denen die meisten im Mittleren Westen leben. Dort hat sich die englische Übersetzung der Winnetou-Titel am Besten verkauft. Viele Deutschstämmige sprechen selber heute kein Deutsch mehr, wählen aber oft Deutsch als Fremdsprache. Im Mittleren Westen gibt es die meisten Hochschulen des Landes, an denen Deutsch gelehrt wird, oft die Sprache der Ururgroßeltern junger Amerikaner*innen hier.

Michael M. Michalak meint, für die Amerikaner*innen sei der Westen einfach nicht weit genug entfernt, um als „land of wonder and transformation“ im Sinne Mays zu fungieren. „Americans would be more likely to get the stories if they were set on another planet”, so Michalak.

Für die Deutschen ist der vergangene Wilde Westen aber solch ein anderer faszinierender Planet – bis heute. Das Interesse daran, diese Phantasmagorie, die sich Ratio, Gesetz, Sitte und Moral verweigert und Grenzübertretungen stets zelebriert hat, nun kulturkritisch und -sensibel zu destruieren und wieder auf ein mitteleuropäisches Normalmaß zurückzustutzen, ist daher entsprechend gering.

Wenn man sich in den USA für den Themenkomplex interessiert, dann oft eher für den absonderlichen Autor von Winnetou und Old Shatterhand als für dessen erfundenes Personal. So stellt Rivka Galchen, eine kanadisch-amerikanische Schriftstellerin und Journalistin im New Yorker (April 2012) erschüttert fest: „Though May never visited the American West, he told everyone that he had, and he wore a necklace of bear teeth, as if in proof.“ Und: „As Americans, we tend to find the German infatuation with Native Americans campy and naïve“.

Die May-Romane ordnet sie soziologisch wie folgt ein: „European colonialism, it has been observed, involved not only the decimation of native populations but also the veneration, adumbrated by fantasy, of their cultures and special powers“.

Man mokiert sich durchaus in den USA über die mangelhafte Recherche von Karl May, dem fabulierenden Hochstapler. Schließlich hat May nur in seinen letzten Lebensjahren einmal eine Reise (1908) nach Upstate New York zu den Niagarafällen unternommen, im Wilden Westen war er nie. Galchen, die sich intensiv mit der Darstellung von Native Americans in der Kunst beschäftigt hat, rügt (und nicht nur sie): „Yet, for all their echoes of setting and voice, May's stories read as distinctively German, not only because of their occasional greenhorn errors. The Apache and Kiowa were allies and not enemies, for example“. Auch wurde von verschiedener Seite festgestellt, dass Winnetou bei May eher Charakteristika der Sioux besessen hätte, dabei soll er doch ein Apache sein.

Carmen Kwasny, Vorsitzende der „Native American Association of Germany“, kritisiert in einem Interview mit dem Deutschlandfunk weniger die faktischen Fehler als die sich aus der falschen Wiedergabe ergebenen moralischen Defizite, die der im August in die Kinos gekommene Kinderfilm aufweise. Der Streifen würde zahlreiche Klischees und Halbwissen transportieren, zum Beispiel bei der Auswahl der Requisiten mit Tierschädeln und Federn. Damit würde ein wenig realistisches Bild der Native Americans vermittelt werden, das das ihnen widerfahrene Unrecht grob verharmlosen würde. Auch andere Native Americans kritisieren das kolportierte Bild von liebenswert-rückständigen, „grundguten“ Naturmystiker*innen.

Der „American Studies Blog“ interviewte anlässlich der Ravensburger Entscheidung, die Bücher abzusetzen, Drew Hayden Taylor, einen Angehörigen des kanadischen Anishnaabe-Tribes. Taylor hat Deutschland bereist und den Film Searching for Winnetou (2018) gedreht. „After my work on this film, I guess Winnetou means a devoted but inaccurate appreciation of Native culture“, meint Taylor und spricht von „Indianthusiasm“. Dass die Kinderbücher sowie ein Puzzle von Ravensburger nun aus dem Verkehr gezogen wurden, sieht er jedoch kritisch: „Cancelling something, whether it's a book or a statue, doesn't necessarily solve the problem. Sometimes you have to embrace and explore the problem (...) I think the Karl May/Winnetou issue should be reassessed but not destroyed”. Die feine Grenze zwischen „cultural appreciation“ und „cultural appropriation“ möchte er nicht verbindlich für andere Menschen vorgeben, diese Linie müsse jeder für sich selbst herausfinden.

Die Meinungen unter den Native Americans gehen jedoch auseinander. Gonzo Flores, Abkömmling des legendären Apachen-Führer Genonimo und Gesundheitsbeauftragter der US-Lipan-Apachen in Portland (Oregon) erklärt: „Karl May zeigte uns in einem positiven Licht“. Winnetou sei „vergleichsweise fortschrittlich“. Auch andere Native Americans sind der Ansicht, dass May zu ihrer Bekanntheit beigetragen und dass Winnetou „positive Werte“ übermitteln würde. „Karl May hat erreicht, dass deutsche Forscher kamen, und so wurden unser Wissen, unsere Sprache, unsere Literatur bewahrt“, so Flores.

Für viele Native Americans ist der Winnetou-Kult mit seinen zahlreichen Verfilmungen – von der DEFA bis zum neuesten Winnetou-Kinderfilm – dennoch ärgerlich, weil die Rollen der Native Americans fast grundsätzlich von Europäern gespielt werden. „Mainstream film studios consistently cast actors of European ethnicity to play Native American characters invented by writers of European heritage. Whether the Native people come out looking good, bad, or ugly is not entirely the point. The real question is why Native Americans have so little control over how the world perceives them“, fasst Rivka Galchen ihre Gespräche mit verschiedenen Native Americans zusammen. 

Diesen Eindruck teilt auch die bulgarisch-amerikanische Filmwissenschaftlerin und DEFA-Expertin Mariana Ivanova (Amherst/Mass., Associate Professor of German Film and Media, Academic Director of the DEFA Film Library), die die osteuropäische und die amerikanische Perspektive kennt. Die sog. „Indianerfilme“ der DEFA würden weiterhin in den USA in der Germanistik gezeigt und mit den Studierenden diskutiert. In den Rollen von Native Americans sind fast ausschließlich Osteuropäer*innen. Der berühmteste Darsteller war der Serbe Gojko Mitic. Lange Zeit wären Begriffe wie „cultural appropriation“ nicht gefallen. Dabei hätten sie doch Anlass geboten, über die Schwierigkeiten hinwegzukommen, den Eisernen Vorhang zu überwinden und mit Native Americans künstlerisch zu kooperieren.

Die Germanistikprofessorin Nicole Thesz von der Miami University in Oxford (Ohio) kritisiert hingegen eher das mangelnde Wissen im eigenen Land – in den USA – über die Native Americans als deren künstlerische Darstellung in Europa. So stellt sie fest, dass Jugendliche in den USA auf High School-Niveau zum Teil immer noch mit Lehrmaterial unterrichtet werden, das veraltete Begriffe wie „Amerindians“ erhalte, die man schon seit den 1970er-Jahren nicht mehr verwendet. Die Miami University pflegt engen Kontakt zum Myaamia Tribe, der einst vom eigenen Territorium hier (nach Oklahoma) vertrieben wurde.

In den USA hat man in der Tat genug eigene Gründe, um den Umgang mit den Native Americans zu kritisieren – von der Pine Ridge Reservation in South Dakota bis zu der Tatsache, dass ein signifikanter Teil der amerikanischen Schulbücher heute den versuchten Genozid nicht ausreichend thematisiert. Man braucht auch nicht nach Deutschland zu schauen, um wenig realistische filmische Darstellungen von Native Americans zu beklagen. Im amerikanischen Western wurden Native Americans noch lange als primitive Wilde wiedergegeben, die unschuldige weiße Einwander*innen überfielen und daher mit gerechten Racheaktionen der Siedler oder der Armee zu rechnen hatten. – Die Frage danach, wie gelungen Karl Mays Kunstfigur Winnetou ist, erscheint da eher nebensächlich.

Doch in den USA tut sich etwas: Junge Native Americans drehen ihre eigenen Filme und erzählen ihre Geschichte neu; meist eher aus der Gegenwart als mit Rekurs auf eine vergangene Zeit. Statt Folklore sieht man junge Basketballer (Basketball or Nothing, 2019, über das Chinle Highschool Basketball Team der Navajo Nation in Arizona) oder coole Typen, die das schwierige Leben in einem Reservat meistern (Songs my Brothers told me, 2015, von Chloé Zhao).

Drew Hayden Taylor ist begeistert: „A lot of great art comes from chaos and controversy. I wouldn't be surprised if new interpretations of the Indigenous mythos were to come from this. The appetite is there, it just needs better food“.

Who was Winnetou?

 

© Tanja Dückers, Madison-Berlin, 2022