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„So wunderbar war Mariupol“. Ein Text von Hans Pleschinski

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Der Autor Hans Pleschinski in Mariupol 2018 (c) Hans Pleschinski

2018 reiste Hans Pleschinski nach Mariupol – im Zusammenhang mit der „Brücke aus Papier“. Seine knappen Eindrücke von der inzwischen in Schutt und Asche gelegten Stadt und der Stimmung der Ukraine lassen den Krieg aus heutiger Sicht bereits durchscheinen. Wir veröffentlichen seinen Text, der zuerst in der Tageszeitung Die Welt erschien, mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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1. September. Nach zwölf Stunden Zugfahrt: Mariupol. Halbmillionen-Hafenstadt mit Schwerindustrie, alles liegt wirtschaftlich am Boden. Mit Bus zum Hotel Poseidon am Asowschen Meer, vor dem Züge mit Erz und Stahl verkehren. Aber auch in schläfrigem Tempo. Frühstück nach zwei ruhelosen Nächten, ins Bett für einen flachen Notschlummer.

1. Tagungstag. In einem kleinen neuen improvisiert wirkenden Kulturzentrum. Aber voller Charme auch durch die Mitarbeiter, die Kaffee kochten, Imbisse auftischten, glücklich über ausländischen Besuch waren. Zudem waren die sechs, acht ukrainischen Autorenkollegen eingetroffen, darunter der jugendliche Star Serhij Zhadan, auch Bandleader, Sofia Andruchowytsch, die Tochter des Großromanciers, hatte aus der West-Ukraine eine 28-stündige Zugreise hinter sich. Eine Woche zuvor hatte eine Band in dem Kulturzentrum gespielt, auch Songs über gleichgeschlechtliche Liebe, dreißig vermummte Faschisten hatten das Zentrum gestürmt und die Instrumente zertrümmert. Dort tagten wir. Vor der Tür wachten nun zwei hilflos wirkende Polizisten. – Kurzausflug in die Stadt. Armut, verfallene Häuser, dann und wann ein renoviertes, das Rathaus mit Einschüssen. Prorussen hatten es 2014 erstürmt, den Anschluss der Region an die prorussische Republik Donbass verkündet, waren wieder vertrieben worden. Bemerkenswert, wie rasch man sich an marode Straßen, bröckelnde Fassaden, rumpelnde Kleinbusse gewöhnt, die Verfallstufe kaum mehr wahrnimmt. Und auch kein Fremder stolpert über schiefe Bordsteinkanten, das Auge, die Sinne haben sich im Nu auf neue Umgebung eingestellt.

Bei dem täglich hundertfach gebrochenen Waffenstillstand, Minsk II Abkommen, die Kriegslast über dem Land, ein schwer entwirrbarer Konflikt: Ukrainer behaupten ihren eigenen Staat, die manchmal mehrheitlich Russisch sprechende Bevölkerung will den Anschluss an Russland oder aber in der ärmeren, aber freiheitlicheren Ukraine leben. Ein Ende des Gezerres ist nicht abzusehen. Durch die neue Brücke zwischen Russland und der annektierten Krim, die längste Brücke Europas, können keine Hochseeschiffe mehr die ukrainischen Häfen anlaufen. Der Hafen von Mariupol ist still. Trotz allem, Frauen, die sich zum Einkauf hübsch anziehen, spielende Kinder, die mäßige Geschäftigkeit. Mit der Luft atmet man schmeckbar Schwefel, im Asowschen Meer sollte man nicht baden, zu vergiftet. Die höchste Krebsrate in der Ukraine, die Lebenserwartung unter sechzig Jahre. Ich schmeckte abends meine Zahncreme nicht, die Chemikalien offenbar alle bereits in der Luft.

2. Tagungstag. Was wollten wir eigentlich dort? Ja, einander kennenlernen. Zeigen, dass die Ost-Ukraine nicht vergessen ist. Schwierig, wenn die lokalen Medien, falls vorhanden, wenig berichten. Sie kennen dort Literaturkonferenzen nicht. Haben vordringliche Themen und Sorgen. Sind, zumal in einer dümpelnden Arbeiterstadt, desinteressiert? – Eintreffen des großartigen Ost-Historikers Karl Schlögel. Besichtigung eines der weltgrößten Stahlwerke, Asow-Stahl, „sieben Mal so groß wie Monaco.“ Gehört einem Oligarchen, der zweite Teilhaber flog vor Jahren mitsamt einer Fußballtribüne in die Luft. Eine solche Industrielandschaft, in der ehedem 50.000 Menschen arbeiteten, hatte ich noch nicht gesehen. Hochöfen, Schlote, Kühltürme, rostige, überdreckte Stahlungetüme bis an den Horizont, fast vierhundert Kilometer Gleisanlagen. Die versunkene Power der Sowjetmacht. Wir durften in Schutzkleidung zu den Thomasbirnen, aus denen flüssiger Stahl in ungeheuere Behältnisse, alles immer gleich in Mietshausgröße, fließt. Die Arbeiter in und an der Glut nahmen uns freundlich zu Kenntnis, einer bat mich um eine Zigarette, man hätte sie sofort in die Arme schließen mögen: die Würde ihrer harten Arbeit, ihr fragloses, sicheres Tun, noch einmal der Eindruck von der Würde und dem Stolz eines woanders schon vergangenen Proletariats. Der tödliche blitzende Graphitstaub in der Luft, überall auf dem Boden. Aus den Schloten brauner und gelber Qualm. Umweltschutz steht hintenan, verteuert die Produktion, macht Stahl und Gusseisen noch schwerer absetzbar. Besichtigung des firmeneigenen Museums. Der Betrieb wurde im 19. Jahrhundert von Amerikanern gegründet, die ihr Equipment aus Pittsburgh mitbrachten, dann übernahmen belgische Industriebarone das Ruder, Oktoberrevolution, Verstaatlichung und Großaufschwung, bei dem Menschenopfer nicht zählten, ein Betriebsleiter in der Porträt-Galerie fungierte bis „1938“, d.h. sofort: verhaftet und in den stalinistischen Säuberungen ermordet. Die korpulente, adrett gekleidete Museumsführerin hatte eine Art Marschallstab, mit Glitzersteinen besetzt, mit dem sie auf die Exponate zeigte und erklärte. Eisenkarren, in denen Arbeiter Kohle zogen, durchschossene Helme von Wehrmachtssoldaten, die 1941 das Werk eroberten und 1943 wieder vertrieben wurden. Bei deutschen Anmarsch hatten die Sowjets noch die Maschinen zum Bau von Panzerplatten hinter den Ural gerettet. Was für eine logistische Leistung in dem überfallenden Land. Die vielfältigste Sammlung deutscher, miterbeuteter Streichholzschachteln, u.a. mit dem Aufdruck Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Geschichten von Ukrainern, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurden und bei ihrer Rückkehr, falls sie deutsches Grauen überlebt hatten, als Landesverräter in sowjetische Gulags geschafft wurden. Ein Schrecken ohne Ende in diesem Weltteil, wo Stalin mehrere Millionen Ukrainer in den 30er Jahren verhungern ließ, um jede Unbotmäßigkeit zu ersticken. Der Holodomor, Völkermord durch Hunger. Ukrainische Bauern mussten auch ihr Saatgetreide essen und verhungerten dann umso sicherer, auf einem der fruchtbarsten Böden der Erde. Dann die Schreckensherrschaft der Deutschen, bloodlands, der Holocaust ... dass in der Ukraine noch ein Grashalm wächst, Menschen rege sind, ist wie ein Wunder. Und so wollen sie denn auch jetzt ihren eigenen unabhängigen Staat, mit allen seinen Geburtswehen, den zaristisch-stalinistischen Hinterlassenschaften. (Die aufsässigen ukrainischen Kosaken hatte bereits Katharina die Große dezimieren und zum Bau von Petersburg verschleppen lassen.) Viel Apathie und manchmal Unruhe sind die Folge dieser Knutenzeit.

Nach fünf Stunden verließen wir wie betäubt die Stahlschmiede. Auch voller Scham über unser Wohlstandsleben, mit ein bisschen Leistung und Ferien.

Abends öffentliche Lesung von allen in einem neo-barocken Kulturhaus, leider wenige Einheimische im Publikum. Danach köstliches Essen auf einer Restaurantterrasse, die guten Salate, Fleischspieße, georgischer Wein, um uns Gäste höchst bemühte Kellner. Bahntickets, Finden eines brauchbaren, verlässlichen Hotels, Restaurantreservierungen von Deutschland aus zu organisieren war ein enormer Aufwand der Veranstalterin Verena Nolte und ihrer Helfer; alles auch voller Unwägbarkeiten. Catering in Mariupol weitgehend unbekannt, „wir wollen es versuchen“ versprachen die Restaurantbetreiber und machten es vorzüglich.

Das Verhältnis zu den ukrainischen Schriftstellerkollegen, kein besonderes, Brüder und Schwestern im Schreiben, Austausch über Lebens- und Publikationsbedingungen, Projekte; Deutschland auch hier die wichtigste Drehscheibe für Übersetzungen, Auftritte, Aufmerksamkeit im Westen. Die Texte der Ukrainer meistens realistisch, Spiegelung aufwühlender Wirklichkeit, Lyrik. Prosa aus Deutschland abstrakter, manchmal verblasener, nicht unter dem Druck einer Kampfzone geschrieben. Der bleibende Wert steht jeweils dahin.

Zum Ausklang Empfang des Deutschen Generalkonsuls im Hotel. Alle nun schon quasi freundschaftlich verbunden.

Bis zum Bersten von Eindrücken und Worten angefüllt, mit besten Wünschen für die Ukraine und für Russland und die Welt – wie setzt man sie um? – mit nur zehnstündiger Tagesrückfahrt zurück nach Dnipro, das bereits sechs, sieben Namen trug, die von der Zeitgeschichte immer wieder hinweggefegt wurden, wie Dnipropetrowsk ... Petrowski war ein stalinistischer Funktionär, dem kein Erinnern gebührt. Spaziergang am Dnepr, diese Weite, diese Breite, ein Denkmal für die in Afghanistan gefallenen Rotarmisten, viele Kriege, viele Denkmäler, mit langsam aufblühenden Straßen gleicht die Stadt, gleichen ältere Häuser durchaus ein bisschen London oder Greenwich Village, Backstein, bewährter Fassadenpomp der späten Zarenzeit. Adieu, Ukraine und gerne auf ein Wiedersehen. Glückauf Dir und rundum.

Hans Pleschinski, Herbst 2018

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Von Hans Pleschinski erschien zuletzt Am Götterbaum (2019) über die Stadt München und ihr schwieriges Verhältnis zu ihrem einst berühmtesten Dichter Paul Heyse.

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