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Eine Erzählung von Franziska Sperr

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Franziska Sperr (*1949 in München) studierte Politikwissenschaft und arbeitet als freie Journalistin, Übersetzerin und Autorin. 1995 erschien ihre Romanbiographie über die Schwabinger Gräfin Franziska zu Reventlow, 2005 veröffentlichte sie ihre Erzählungen Stumm vor Glück. Es folgten u.a. der Roman Das Revier der Amsel (2008) und München. Eine Stadt in Biographien (2012). Ab 2005 ist Sperr Mitglied des Deutschen P.E.N.-Zentrums, dem sie von 2013 bis 2019 als Vizepräsidentin und Writers in Exile-Beauftragte vorstand. 2020 erhielt sie das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Franziska Sperr lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Johano Strasser, am Starnberger See.

Wir publizieren die folgende unveröffentlichte Erzählung mit freundlicher Genehmigung der Autorin. 

*

Komm, weiter.

 

Sie steht am Fenster, es ist halb neun. Jeden Morgen steht sie um halb neun am Fenster und wartet, dass er über den Hügel kommt. Der Himmel ist schon hoch, es ist ein Zittern in der Luft, eine kleine Bewegung wie ein Flimmern, als sich am oberen Rand des Hügels etwas andeutet. Wie jeden Tag deutet sich dort etwas an, das sich dann als der Mann mit dem kleinen Hund entpuppt. Das, worauf sie gewartet hat.

Zuerst der Hund, in feiner Diagonale seinem Herrn voran, leuchtet von weit her. Oder der Mann zuerst, mit dünner Jacke, den roten Schirm unterm Arm, im mittleren Tempo und ein wenig krummbeinig steuert er den Weg den Hügel hinab. Er führt den Hund, oder der Hund zerrt an ihm, oder beides zugleich. Immer gegen halb neun.

Vom Fenster ihres Schlafzimmers hat sie den schmalen Weg im Blick bis hinauf zur Kuppe, und obwohl sich vor ihren Augen auch sonst einiges tut, ist ihr Blick ganz auf das eine konzentriert. Dass aus dem Waldrand heraus drei Rehe einschweben und sich auf wackeligen Stelzen ängstlich umsehen nimmt sie nicht wahr, auch nicht den Wiedehopf auf dem dürren Ast und sein samtiges Rufen. Denn Agnes kann den Blick nicht lösen von der flimmernden Linie auf der Kuppe, oder ist das schon der Himmel? Sie wird das Fenster nicht schließen können bevor der alte krummbeinige Mann mit dem kleinen weißen Hund nach unten gekommen ist und ein paar Meter vor dem Haus abbiegt.

Sobald er im Wald verschwunden und nicht mehr zu sehen ist, dreht sie mit resolutem Griff den Eisenbügel nach links und schließt beide Fensterflügel. Heute ist Dienstag. Sie wendet sich um zur Kommode, rückt die Brille zurecht, erfasst im Rundblick noch einmal ihr Schlafzimmer und streicht im Vorbeigehen mit der flachen Hand über die Bettdecke, Kante auf Kante. Falten glätten, Ordnung halten. Zwanghaft hatte Kurt das genannt und dabei ein Gesicht gemacht zwischen besorgt und belustigt.

Das ist lange her.

Gleich wird Agnes einen für Moment auf der zweiten Treppenstufe von oben verharren, auch, um sich zu vergewissern, dass sie im Schlafzimmer nichts vergessen hat, dann geht sie hinunter. Auf dem Tisch in der Küche steht, zuverlässig wie immer, alles bereit: eine Tasse, ein Messer, ein Teller, ein Glas Marmelade. Agnes hat es noch am Abend für sich hergerichtet. Wie immer. Alles wie immer.

Früher war nicht immer alles wie immer. Dafür hat schon Kurt gesorgt. Kurt, ihr Ehemann, Kurt der Lebemann. Er sagte immer, er könne es nicht aushalten, wenn ein Tag ist wie der andere, da müsste er ersticken. Er brauchte Abwechslung, und er schaffte sie sich. Schon morgens zum Beispiel, gleich nach dem Aufstehen stellte er sich zehn Minuten lang auf die Zehenspitzen. Zur Abwechslung. Weil man sich den ganzen Tag auf den ganzen Fußsohlen bewegt. Da war ihm das Stehen auf den Zehenspitzen eine willkommene Abwechslung. Manchmal wackelte er so stark, dass er abbrechen musste.

Er nannte das Leben. Man sollte jeden Tag leben! Nicht vegetieren, nicht nur funktionieren! Leben ist etwas Neues, Anderes, man muss danach auf der Suche bleiben, das Leben lang! Das war seine Philosophie. Und jetzt? Agnes hat es gefallen, ihm dabei zuzusehen. Eingemischt hat sie sich nicht, das hätte er nicht geduldet und sie hätte es nicht gewagt und nicht gewollt. Außerdem hätte sie keine Idee gehabt, wie und womit sie sich einmischen sollte in seine abwechslungsreichen Einfälle. In das Leben, für das sie ihn bewunderte, vielleicht sogar liebte. All die Jahre.

Als sie darüber sprachen, seufzte ihre Freundin laut und theatralisch. So, als wäre sie selbst diejenige, die deswegen das Nachsehen hat. Sie warf Agnes vor, dass sie lautlos und demütig ertrug, was sie, die Freundin, selbst niemals ertragen hätte. Kurt sei rücksichtslos, rief sie ohne dass jemand gefragt hätte, egoistisch, ohne jedes Einfühlungsvermögen, blind und taub und dumm!

In seinem Leben kommst du nicht vor, Agnes! Merkst du das nicht?

Die Freundin wusste zwar alles besser, verstand aber die Hauptsache nicht, nämlich, dass Agnes ihr Leben so wie sie es führte, gerade Recht war. Ein Leben auf Distanz, innig und dabei unabhängig. Klug eingefädelt, weise vorausgeplant. Im Gegensatz zu ihrer Freundin, die im Gehege ihres Mannes überaus deutlich vorkam, was sie allerdings mit einigen Nachteilen erkauft hatte, die wiederum Agnes nicht ertragen hätte.

So hat eben jeder seines.

Agnes war frei. Dass sie am Morgen, gegen halb neun am Fenster stehen musste um zu warten, dass sie ihren Tag beginnen und mit der flachen Hand über die Bettüberdecke streifen konnte, war etwas anderes. Ihren Tag konnte Agnes nur beginnen, wenn der zierliche, krummbeinige Mann oben aus dem flimmerigen Himmelslicht auftauchte mit seinem kleinen Hund. Das hätte sie keinem erzählen können, das hätte niemand verstanden. Sie versteht es ja nicht einmal selbst.

Den Mann mit dem kleinen Hund hat fast jeder hier in der Gegend schon einmal gesehen. Niemand hat je mit ihm geredet, und doch glauben alle etwas über ihn zu wissen. Die Mutmaßungen, widersprechen sich, weil jeder das hineinpackt, was ihm gerade im Sinn steht. Die einen malen sich dies aus, die anderen das. Nur über eines war man sich immer einig: dass er Ausländer ist und wahrscheinlich kein Deutsch spricht. Mal ist er vom Balkan, Rumäne oder, noch schlimmer, Serbe. Andere sagen, er sei Syrer und Kriegsflüchtling, manche glauben zu wissen, er sei schwer verwundet gewesen, daher der krumme Gang, dann wieder heißt es, er könnte auch Grieche sein, das wäre manchem das Sympathischste. Lauter Geschichten erzählt man sich im Dorf über den Mann mit dem kleinen weißen Hund. Dass Agnes jeden Morgen am Fenster steht und wartet, bis er über den Hügel kommt, das weiß keiner.

Jahrelang soll er im Gefängnis gesessen haben, weil er eine Frau entführt und die Familie erpresst hat, oder er sei für ein Gedicht, das er geschrieben hat, gefoltert und an den Beinen verletzt worden, oder seine eigene Frau soll er erst hier her gelockt und dann aus der gemeinsamen Bleibe geworfen haben, wenn nicht umgebracht, erstochen, erwürgt, ertränkt, was einer halt so macht, wenn er da herkommt wo der herkommt. Dass er vierzehn Kinder in seiner Heimat zurückgelassen hat, dass er zu Fuß über vier, vielleicht sechs Ländergrenzen hinweg nach Deutschland und hierher gekommen sei, vielleicht sogar mit dem Hund, den er im Iran aufgelesen haben soll, und den er seither im Schlepptau hat. Keiner kann es so genau wissen. Gerüchte in vielen Varianten, sie machen die Runde beim Bäcker, im Gemüseladen, beim Metzger. Mal mit furchtsam hochgezogenen Augenbrauen und der Hand vor dem Mund geflüstert, mal in mittlerer Lautstärke und Deutlichkeit unterm Hut mit Gamsbart herausgeröhrt. Agnes tut, als ginge sie das nichts an, als höre sie gar nicht hin, als interessiere sie das alles nicht im Geringsten. Unbeteiligt starrt sie auf ihre Einkaufsliste, testet die Weichheit der Avocados, die Reife der Bananen, die Frische der Salatblätter.

Jeder weiß etwas, aber nichts weiß man gewiss. Wenn man von dem seltsamen Mann spricht, dann immer zuerst von seinem Hund. Dem Hund, der manchmal lächelt und lustig schaut, und der traurig schaut wenn er selbst es ist oder sein Herr. Dieser außergewöhnliche Hund, der nicht bellt, nicht stört, nirgendwo das Bein hebt, der brave Hund, den womöglich der Herr selbst so gut erzogen hat. Der höfliche, quicklebendige Hund, der mit seinem weißen Fell aussieht wie ein junges Schaf. Der Mann, so erklärt man es sich in der Metzgerei, hat sich mit seinen krummen Beinen dem Hund angeglichen, und das kommt wohl von der Rastlosigkeit, dem vielen Laufen über die vier oder sechs Landesgrenzen hinweg. Aber wissen tut man es nicht, weil man gar nichts weiß. 

Er ist jetzt wieder hier. Die Älteren, die seit Jahren in der Gegend leben, erinnern sich, dass er früher schon hier war, dann ein paar Jahre lang verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt, und jetzt, seit ein paar Monaten ist er wieder da. Als sei nichts gewesen. In seiner Heimat war er, glauben manche, weit weg, wo es trocken, heiß und windig ist und der Himmel immer blau, wo das Gebäck süß und klebrig schmeckt und wo man Sprachen spricht, die kein Mensch versteht. Dorthin könnte er zu Fuß aufgebrochen sein, allein, oder mit Hund, nein, allein, ohne Hund, egal. Vielleicht war er krank und nicht versichert. Könnte sein. Oder kann nicht lesen noch schreiben, nicht in seiner Sprache und schon gar nicht Deutsch. Jeder hat eine eigene Geschichte.

Agnes steht morgens am Fenster und wartet, dass der Tag beginnen kann, und ihr Tag kann erst beginnen, wenn er über den Hügel gekommen ist mit seinem friedlichen Hund. Der passt sich je nach Wetterlage, Licht oder Luft, der Stimmung seines Herren an, lässt hie und da verdrießlich den Kopf hängen und scheint das Lächeln vergessen zu haben. Hätte er eine Kappe auf, hinge sie ihm vor den Augen. So wie seinem Herrn, dem die graue Kappe tief ins Gesicht rutscht, wenn es regnet und er, den Kopf nach unten gebeugt, den Blick auf den Weg, ausschließlich auf den Weg richtet.

Aber dann gibt es Tage, da blitzt bei den beiden etwas Frohes auf. Vergnügt und unbeschwert, als hätten sie sich schon am Morgen darauf verabredet, das Leben heute leicht zu nehmen. Sie könnten in die Hände klatschen, oder im Duett singen, zweistimmig, der Hund eine knappe Terz höher als sein Herr, sie könnten den Schritt beschleunigen, lustige Kurven gehen und ein paar Blätter im Vorbeigehen an den Hecken abreißen, einfach nur so, übermütig und sorglos.

So kommt es Agnes vor, wenn sie da am Fenster steht und sich frei fühlt und glücklich ist, dass keiner sieht wie sie da steht und wartet. Damit der Tag beginnen kann. 

Zuerst kommt die Sonne über den Hügel, und jetzt im Sommer, wo sie schon ganz schön oben am Himmel steht, rund und hell oder auch nur als Schimmer durch die Wolkenwand, wärmt sie den beiden Spaziergängern auf der Hügelkuppe die Rücken, lockert die Schulterblätter – die haben es nötig -, belebt die steifen Nacken. Die Wärme hilft den krummen Beinen über den Hügel. Sie kommen von Osten her - natürlich von Osten. Auch der Hund scheint aufzutauen. Die Lebensgeister kehren zurück aus der kalten Nacht, einer der Geister nimmt Platz auf dem Fell, andere auf den Nacken und Schultern und machen Mut. Lockerlocker, jetzt mal richtig locker! Rührt Euch! Hopphopp. Der Hund wackelt mit dem Hinterteil, so als sei er nicht nur ein lieber, braver Hund, sondern jetzt auch ein recht unternehmungslustiger, so eine Art Schafbock.

Irgendwann verlangsamen Herr und Hund gleichermaßen den Schritt und bleiben stehen. Kurz sehen sie sich an, einig und ohne Gefühlsduselei, fast geschäftsmäßig. Wie ein Eintrag in den Terminkalender, eine Verabredung für den Tag, die Richtung, den Weg, für alles, was noch ansteht.

Komm, weiter.

Und sie am Fenster, blickt durch die Scheibe und hätte auch gern ein Stück ab von dieser Verabredung, doch sie bleibt wo sie ist, hält still, rührt sich nicht. Für ein paar Sekunden sind sie zu dritt, sie zieht die Luft bis in die Magengegend hinunter, schließt die Augen und genießt den Moment. Nichts weiß sie über den Mann, nichts über den Hund, und doch alles. Niemals sehen die beiden von unten zur ihr hinauf. Sie wüsste nicht, was sie täte, wenn es doch einmal passierte. Alles wäre zerstört! Lächerlich stünde sie da, enttarnt, wie nackt! In den Ländern, aus denen er kommt, halten Frauen am Fenster nicht Ausschau nach Männern. Sie weiß genau: Wenn sich ihre Blicke ein einziges Mal träfen, könnte sie nie wieder so am Fenster stehen und ihren Tag beginnen. Es läge ganz allein an ihr zu entscheiden, wann der rechte Moment ist, sich aufzusetzen, aus dem Bett zu steigen und nicht ans Fenster zu gehen. Sie könnte möglicherweise den Tag gar nicht beginnen.

Ihr entschlossener, wenn auch widerwilliger Sturz in den Tag: Sobald das Fenster geschlossen ist, geht sie mit Schwung die Treppe hinab in die Küche. Dann ein karges Frühstück, Haustür auf- und dann wieder abschließen, Garagentür, Rückwärtsgang, Vorwärtsgang. Die Fahrt zur Tankstelle dauert etwa vier Minuten. Kein Wasser mehr für die Scheibenwischer, das Glas so verschmiert, dass sie auf gut Glück fährt. Sie biegt in die Waschstraße ein, und, kaum ist das Lenkrad gerade gestellt, und der Widerstand an der Schwelle hat im Gleiten ihren Körper durchzuckt, ist sie froh, dass sie sich auf diese Reise begeben hat. Jetzt erst mal weiter, die Räder rollen von selbst, das Lenkrad macht was es will. Nasse Lappen fliegen ihr um die Ohren, brutal und weich. Irgendwann, endlich, weit hinten am Horizont und durch den Nebel nur zu ahnen: die freundliche Leuchtreklame im warmen Licht: mittags zwei Döner für den Preis von einem, gleich hier in der Tankstelle, der Ketchup darüber kündet vom Morgenrot. Plötzlich ist es still, nur ein leises Pfeifen, dann, noch leiser, ein Sirren, alle Fenster geschlossen und doch ist der Wind von draußen zu spüren jetzt hier im dunklen Gehäuse, auf Kinn und Wangen. Die Tropfen auf der Frontscheibe irritiert, sie suchen ihre Wege nach oben, schnell weg. Die Scheiben beschlagen von innen, Agnes öffnet vorsichtig, das Fenster auf ihrer Seite, einen schmalen Spalt weit.

Gute Fahrt, sagt der Junge mit dem Wischtuch in die Öffnung hinein. Er macht lustlos am Seitenspiegel herum und wartet auf Trinkgeld. Und einen schönen Tag wünsch ich.

Später, im Supermarkt muss sie memorieren was sie braucht, sie hat ihren Zettel zu Hause vergessen. Anders als auf der Waschstraße kann sie hier nichts den Automaten, dem Lenkrad oder und dem Zufall überlassen. Hundert Gramm Salami, die eckige. Ein bisschen Abwechslung zum Frühstück!

Hundert?, fragt die Verkäuferin von hinter der Wursttheke.

Lieber fünfzig.

Die Wurstscheiben in der Schneidemaschine sortieren sich, legen sich automatisch Ecke auf Ecke. Ja Pumpernickel, eckige Scheiben in Folie, alles rechteckig, auch bitte den Käse. Agnes denkt an ihre Bettdecke. Aber weiter jetzt, Wünsche erfüllen, früher waren es Kurts Wünsche, die sind in den Jahren zu ihren eigenen mutiert. Ihre - seine - alle Wünsche wird sie versuchen, gewissenhaft zu erfüllen und darüber hinaus. Welche das sind, weiß sie nicht.

W a s  sie ganz sicher weiß ist, dass sie sich auf morgen früh freut, wenn sie am Fenster steht und etwas in der Luft vibriert, am Rand des Hügels gegen den Horizont. Bereits am Abend im Bett, wenn sie die Decke hochzieht, wird sie an diese Ahnung über dem Horizont denken und alles andere aus ihrem Kopf verscheuchen. Eine Freude ganz für sie allein. Ein Lächeln zieht über ihr Gesicht, wenn sie hinter ihnen her blickt. Im Nachtschlaf träumt sie den Weg, erst oben an der Kirche, die Friedhofsmauer entlang, jeden Stein kennt sie, auch im Traum, jeden den munteren Spatzen. Dann den Kreuzweg hinab, oder querfeldein über die Wiese, an den Kühen vorbei, oder durch den Wald, entlang den tiefen, schlammigen Furchen des Traktors. Das Rascheln der Blätter, das Ächzen der hohen Stämme im Wind.

Sie träumt, wie der Mann, jetzt, in aller Herrgottsfrüh und noch im Dunkeln die Holztür abschließt und noch einmal zurückgeht, weil er den Schirm vergessen hat, kurz bevor sich der erste Vogel meldet, wie er von seinem Hund geweckt worden ist mit dem zärtlich-despotischen Stoß gegen die Wade. Woher weiß sie im Traum, dass auch er sich jeden Morgen aufs Neue einen Ruck für den Tag geben muss? Das haben sie gemeinsam, weil auch ihm gewisse Gedanken nicht aus dem Kopf gehen. Sie träumt, dass er die Wolldecke aus dem Schrank holt, weil er weiß, dass er friert, wenn er im Schlafanzug noch ein paar Minuten auf der Bettkante verharrt, die Füße hin und her, vor und zurück baumeln lässt in dicken Stricksocken, die Beine noch krumm vom Laufen gestern und vorgestern und all den Tagen und Jahren zuvor. Wie er zum Stuhl geht, die verbeulte Hose, den alten Norwegerpulli, der in der Hitze kühlt und in der Kälte wärmt und in schweren Zeiten Leib und Seele zusammen hält. Ein in der Morgendämmerung noch ziellos herumirrenden Leib, die zittrigen krummen Beine, die schwankende Seele, alles noch nicht gerüstet für den Tag.

Das träumt sie, oder sie stellt sich vor, es wäre schon immer so gewesen. Die Turnschuhe sind ihm zu groß im Sommer ohne die dicken Socken und stehen hinten an der Ferse ein wenig ab, die Leine, den Schirm, und schon ist der Hund wie der Blitz durch die Tür und dreht die stumpfe Schafsnase kurz nach hinten um. Kommst du? Und der Herr hinterdrein, zuerst noch zögernd, dann, wie jeden Tag in der Hoffnung, die Gedanken zurück zu lassen.

Wenn er neben ihr lag, atmete er hörbar, ein und aus, ein und aus. Kurt konnte nicht stumm atmen, es war immer zu hören. Hin und wieder hört sie es noch. Ohne Ankündigung, ohne ein Zeichen ist er auf und davon, nach all den Jahren. Hat sich aufgelöst, einfach weg. Kein Lüftchen, nicht einmal ein Zischen, lautlos, spurenlos. Am Abend haben sie noch zusammen am Küchentisch gesessen, Wein getrunken, gelacht und geredet. Am nächsten Morgen als sie am offenen Fenster stand, war Kurt schon nicht mehr da. Sie rief auf der Treppe, dachte, weil er zu viel getrunken hatte, schliefe er länger und unten, im Wohnzimmer auf dem Sofa. Noch bevor sie die Zimmertüren öffnete um nach ihm zu sehen, spürte sie, dass es keinen Sinn hatte. Sie hoffte, dass er zurückkommen würde, dass seine Ungeduld, die Sehnsucht nach einer größeren Abwechslung der Grund war, und er auf Zehenspitzen eines Morgens zurückkäme. Dann verblasste der Gedanke, wurde verschwommener, trat in den Hintergrund ihres Lebens. Inzwischen ist davon nichts mehr übrig.

Ein zartes Rascheln in den Baumkronen, die Blätter bewegen sich sanft. Am Himmel ist es noch dunkel, die Blätter aber sind wach. Vor dem ersten Vogel.

Der Mann mit dem Hund. Er lebt auf den Wiesen, den Wegen, in den Gräben und in der Luft. Er schläft zu hause in seinem Bett, aber leben tut er draußen, auf dem Weg in der Morgensonne und unter ihrem Fenster.

Mit den Jahren, heißt es, sei er immer krummer geworden, die Beine, der Rücken, sein Gang. Und das Hündchen tippelt lange nicht mehr so schnell wie zuvor. Vor ein paar Tagen sah sie durch die Scheibe, wie es von ihm mitgezogen werden musste, wie er sich zu ihm herabbückte, ihm zuredete, es schließlich auf den Arm nahm und weiter ging. Und sie am Fenster, seltsam kühl und unbeteiligt in jenem Moment, registriert, dass es bald zu Ende gehen wird mit dem halben Schaf.

Er muss raus, so viel steht fest. Aus dem Haus und an die Luft. Etwas hinter sich zurücklassen, vergessen, verwerfen. Jeden Tag an ihrem Fenster vorbei.

So werden wir gemeinsam alt, denkt sie, er und sein halbes Schaf werden von Tag zu Tag krummer, und ich am Fenster stehend, warte, dass mein Tag beginnen kann.

Bis eines Tages.

Es ist ein kühler Morgen. Herbstlicht hat sich mit der Luft verwoben, längst haben die alten Weiber ihre Gaze über die Büsche gebreitet. Tau schillert bläulich auf dem durchsichtigen Gewebe. An solchen Tagen kann man die S-Bahn hören, wie sie weit weg, jenseits der Hügel im Westen rattert. Wenn die Luft klar und kühl ist, und sich die Sonne nach längerem Zögern endlich aufgerafft hat. Agnes steht am Fenster, wie jeden Tag, und wartet auf das Flimmern, das lange nicht kommt.

Dafür: Zuerst ein zartes, zitterndes bääähhh und dann ein rhythmisches Klacken auf dem geteerten Weg vor dem Haus. Zuerst weiß sie nicht, woher die Geräusche kommen, weiß nicht einmal, ob sie noch schläft. Sie lehnt sich hinaus. was sie sieht, kann sie nicht verstehen.

Zwei Schafe, ein größeres und ein kleineres kommen über den Hügel die Straße herunter. Sie gehen nebeneinander, Seite an Seite im Gleichschritt. Das eine hat eine rote Leine um den Hals die auf dem Boden schleift. Sein Fell leuchtet wolkenweiß. Das andere, etwas größere, hat krumme Beine und eine Sorgenfalte zwischen den Augen auf seiner Schafsstirn. An seinem leicht vergilbten Fell sieht man, dass es schon manches erlebt hat.

Agnes öffnet das Fenster und ruft: Hey, ihr beiden, wo wollt ihr hin?

Das größere Schaf hebt nicht einmal den Kopf, es sieht nicht zu ihr hinauf, als es antwortet: Zum Bismarckturm, wie immer!

Sie versucht noch, mit den beiden ins Gespräch zu kommen: Woher kommt ihr? und: Sind wir uns schon einmal begegnet?

Aber da sind sie schon außer Sichtweite, die Straße hinauf, auf dem Weg zum Bismarckturm.