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20.08.2020, 13:47 Uhr
Marina Babl
Text & Debatte
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Yamen Husseins schmerz- wie kraftvoller Gedichtband „Siebzehn Minuten“

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(c) Inés Dümig

Mit der Mutter telefonieren, einen kleinen Spaziergang machen, Spaghetti mit Tomatensoße kochen oder die Tagesschau ansehen – das alles sind Dinge, die man in ungefähr 17 Minuten erledigen kann. In Yamen Husseins Gedichten reicht die Zeit aber auch für einen Liebesrausch, ein weiteres Glas Bier oder gar für die Zerstörung eines gesamten Wohngebietes aus.

Innerhalb von 17 Minuten könnte man außerdem, wenn man es darauf anlegt und sich beeilt, den schmalen Gedichtband von Yamen Hussein einmal von vorne bis hinten komplett durchlesen. Oder auch nur ein Gedicht daraus und sich das Gelesene im Kopf zergehen lassen, die Worte sacken lassen, nachdenken. Denn das Ungesagte wiegt in diesem Band schwerer als die wenigen, wohlplatzierten schwarzen Buchstaben.

Das Verfassen von Gedichten hat für Hussein eine entscheidende Funktion, wie er in einem Interview mit der Deutschen Welle erklärt: „Für mich ist das ein Weg, um Hoffnung zu stiften. Es hilft auch mir selbst, mit meinen Erinnerungen klarzukommen.“ Denn der syrische Autor und Journalist (*1984) hat eine beschwerliche Reise hinter sich. Geboren und aufgewachsen in Homs, zog er wegen seiner regimekritischen Texte zunehmend die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden auf sich. Er wurde der Universität verwiesen und mehrmals in polizeilichen Gewahrsam genommen. So floh er 2013 über den Libanon in die Türkei und von dort schließlich bis nach Deutschland. Mit einem PEN-Stipendium des Writers-in-Exile-Programms hielt er sich von 2014 bis 2017 in München auf, heute lebt er in Berlin.

 

Rastlos zwischen unterschiedlichen Realitäten

Sein aktueller Lyrikband Siebzehn Minuten, unterstützt durch die Plattform Weiter-Schreiben.jetzt und erschienen im Leipziger hochroth Verlag, ist ein kleines schwarzes Büchlein, das auf den ersten Blick recht unscheinbar daherkommt. Doch gerade diese Einfachheit verleiht den Worten noch mehr Bedeutung. Übersetzt wurden Husseins Gedichte von Leila Chammaa und Suleman Taufiq.

Zum Teil illustrieren die von Hussein selbst handschriftlich angefertigten arabischen Originale die deutschen Texte. Die Zeilen füllen sich so je nach Schrift manchmal von links nach rechts und manchmal von rechts nach links. Dieses Gegenüber von zwei verschiedenen Systemen, zwei unterschiedlichen Welten findet sich auch in den Inhalten wieder. Während die eine Realität aus Starbucks-Kaffee und Linienbusfahrten besteht, gehören in der anderen stromausfallbedingt nicht funktionierende Waschmaschinen und Bombenanschläge zum Alltag.

Die Gedichte wechseln zwischen diesen beiden Welten hin und her. Und der Protagonist (zwischen dem lyrischen Ich und Hussein selbst scheint es in den Texten keinen großen Unterschied zu geben) geht auf dem Weg dazwischen ein wenig verloren. Zieht immer weiter, aber erreicht kein Ziel. „Deine Koffer werden nie ausreichen, egal wie groß sie sind“, heißt es an einer Stelle und „es gibt kein Zuhause, keine Endstation“ an einer anderen. Yamen Hussein weiß, was es bedeutet, auf der Suche nach einer neuen Heimat nirgends richtig anzukommen. Doch auch für Leserinnen und Leser ohne Fluchterfahrung steckt viel Wahrheit und Möglichkeit zur Identifikation in solchen Worten. Denn das Gefühl von Rastlosigkeit, das Gefühl, zu suchen, ohne zu finden, kann man in den unterschiedlichsten Situationen erleben.

 

Der entscheidende Blickwinkel

Yamen Husseins Wechsel zwischen den Welten erlaubt es ihm, besondere Blickwinkel einzunehmen. Er bringt das nötige Wissen und gleichzeitig den erforderlichen Abstand mit, um Details seines Heimat- und seines Zufluchtslandes zu erkennen und zu benennen, die anderen verborgen bleiben würden. Dabei schwingt viel Sehnsucht mit, vor allem aber großer Schmerz. So schreibt er über die Trennung von seiner Mutter und Gefühle der Ausgrenzung und des Nicht-Gebraucht-Werdens, verarbeitet alte Kindheitserinnerungen, in denen Schlammpfützen zu Blutlachen werden, und setzt sich auch mit Sterben und Tod auseinander („Wie schmeckt Erde im Mund?“).

Neben all diesem Schmerz schimmert aber immer wieder auch ein wenig Stolz zwischen den Zeilen hindurch. Und bei so kraftvollen Versen wie „Ich strecke meine Hände in der kalten Luft aus, / damit mein Herz von Trauer geheilt wird“ eines sogar noch stärker: Hoffnung.

 

EINE HERDE VON HIRSCHEN

Vor der Abreise
lasse ich die Koffer offen,
wie ein aufgeschlagenes und nicht ausgelesenes Buch
und gehe zur Maximilianbrücke,
um Abschied von München zu nehmen.
Ich strecke meine Hände in der kalten Luft aus,
damit mein Herz von Trauer geheilt wird.
Aus der Ferne trägt die Isar in ihrer Leistengegend
Zweige trockener, zerbrochener Bäume
vom letzten Sturm.
An mir schiebt sich eine alte Frau mit ihrem Rollator vorbei
und schaut mich freundlich an.
Sie lächelt, als sie auf die Zweige zeigt,
die auf dem Fluss schwimmen:
Schau, das schöne Hirschgeweih!
Diese Herde wird die Stadt überrennen.
Sei wie ein Sturm, und lass dein Herz so jung bleiben wie diese Hirsche,
überquere alle Städte und Flüsse
und komme nicht an, damit du nie alterst.

 

Aus dem Arabischen von Suleman Taufiq