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Erinnerung als Scheinsieg über das Leben. Zu Heinrich Lautensack

Spiegel bayerischer Literatur und Kultur, fundiert und unterhaltsam, Essays, Prosatexte und Gedichte von prominenten und unbekannten Autoren: Das ist die Zeitschrift Literatur in Bayern. Seit über 30 Jahren informiert sie über das literarische Geschehen im Freistaat. Der folgende Beitrag von Prof. Waldemar Fromm über Heinrich Lautensack erschien in der Ausgabe 137.

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Wer sich heute über Heinrich Lautensack informieren will, stößt vielleicht auf den Eintrag zum Autor im Lexikon Vergessene und verkannte Autoren des 20. Jahrhunderts mit dem Haupttitel Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen. Für die zeitgenössischen Leser Lautensacks wird so ein Lexikon der falsche Ort gewesen sein, denn unbekannt war der Autor zu Lebzeiten nicht. Seine Gedichte und Prosastücke fanden sich in Sammelbänden mit heute noch bekannten Zeitgenossen.

Geboren wurde Lautensack am 15. Juli 1881 in Vilshofen als Sohn eines Textilienhändlers. Die Jugend verbrachte er in Passau. Mit dem Berufsziel Geometer ging er 1897 zunächst  zur Vorbereitung des Studiums nach München. 1899 schloss er die Industrieschule ab und schrieb sich an der Universität für ein Mathematikstudium ein. Irgendwann in dieser Zeit – schriftliche Zeugnisse sind spärlich, der Nachlass bis 1943 größtenteil verbrannt – muss Lautensack am Leben der Bohème Gefallen gefunden haben, denn 1910 gehörte er, obwohl nicht Gründungsmitglied, zur Kabarett-Gruppe der Elf Scharfrichter, gab deren Musenalmanach (1902) heraus und veröffentlichte 1901 in der Zeitschrift Avalun erste Gedichte.

Nach dem Ende der Scharfrichter nutzte er die gewonnenen Erfahrungen und trat  deutschlandweit in Kabaretts und Varietés auf, darunter auch bei »Madame X« in München, einem erotischen Etablissement, in dem Franziska zu Reventlow den Vater ihres Kindes Rolf traf. Wie wichtig ihm die Kleinkunstbühne war, lässt sich vielleicht auch daran erkennen, dass er zwei Mal Bühnenkünstlerinnen heiratete, seine erste Frau Dora Stratton und 1910 seine zweite Frau Betty Eisner.

Johannes Pankau fasst in der 2005 erschienenen Studie Sexualität und Modernität Lautensacks Werk unter den Begriffen: »Bayerische Erotomanie« und »Ein vergessenes Wedekind« zusammen. Tatsächlich verehrte Lautensack sein Vorbild Frank Wedekind, wie nicht zuletzt die dramatischen Ereignisse bei dessen Beerdigung zeigen. Ariane Martin hat die Ereignisse und den Drehbuchentwurf Lautensacks jüngst in einem Buch ausführlich präsentiert und kommentiert (Heinrich Lautensack. Ein Requiem. Ein Dokumentarfilmprojekt über die Beerdigung Frank Wedekinds, 2018).

Dennoch ist Lautensack kein Epigone. In den frühen Gedichten und den Texten für das Kabarett, in dem auch Wedekind mitarbeitete, zeichnen sich bereits die Themen ab, die das Werk bestimmen werden: Tod, Traum, Sexualität, Religion. Seine bekanntesten Theaterstücke Hahnenkampf (1908), Pfarrhauskomödie (1911) oder Das Gelübde (1916) behandeln den Widerstreit von Sexualität und Religion. Lautensacks Texte gelten als derb-sinnliche Variante des Expressionismus und seiner Vorreiter.

Nach 1907 lebte Lautensack in Berlin, wo er den Verleger Alfred Richard Meyer kennenlernte, der 1910 den Gedichtband Dokumente der Liebesraserei in einer limitierten Auflage von 500 Exemplaren druckte. Die Gedichte festigten Lautensacks Bild des Dichters der Sexualität, da sie eine Befreiung des Eros von den religiösen Vorgaben einfordern, wie Petra Ernst in der Studie Via crucis. Heinrich Lautensacks Leben und Werk von 1993 gezeigt hat. Lautensack verfasste daneben Theaterstücke, die nicht zur Aufführung gelangten oder von der Zensur verboten wurden.

Mit Meyer und Anselm Ruest gab Lautensack 1912/13 die Zweimonatsschrift Die Buecherei Maiandros heraus. In der Dezemberausgabe von 1912 erschien Ekstatische Wallfahrten, von zwei der drei Herausgeber selbst verfasst. Lautensacks Beitrag entwickelt das ekstatische Schauen in eigener Prägung: Die Via Crucis. Der Text zu einer Kantate, so der Titel, ist als »eine neue kräftige Vorbereitung und Ausrüstung zu der Heiligen Wallfahrt, das ist: zu der andächtigen Besuchung des schmerzhaften Kreuzwegs« gedacht, als kritische Auseinandersetzung mit dem katholischen Glauben und dessen Vertretern und zugleich als poetologisches Manifest eines eigenen literarischen Weges, der aus der Herkunft heraus nach neuen Wegen der Entfaltung der Sinnlichkeit sucht.

In Berlin entstanden die Texte zu Lautensacks heute bekanntestem Buch, Altbayerischer Bilderbogen, das erst ein Jahr nach dem Tod des Autors 1920 herausgegeben wurde; zuletzt 1994 von Petra Ernst im nicht mehr existenten Karl Stutz Verlag. Der Band skizziert die Menschen der Passauer Heimat, das Brauchtum und die Mentalität.

In der Haltung eines Heimkehrenden beschreibt Lautensack die Menschen und die Landschalt aus dem Akt des Erinnerns heraus. In einer exemplarischen Erzählung Seilertod oder: Die Fahrt zu einem Sterbenden gehen Erzählen und Erinnern sogar strukturell ineinander über, die Erinnerungsbewegung bindet Gegenstand und Erzählen aneinander. »Ich finde«, schreibt der Erzähler am Schluss über das Sterben des Seilers, »dass man wohl daran getan hatte, die Bilder [seiner Arbeit, Anm. W. F.] bei seinem Sterben nicht herauszunehmen. Sie zeigten ihm die Etappen seines Kampfes – und ob’s auch nur Scheinsiege gewesen sein mögen: ihm waren’s Siege schlechthin.« Scheinsiege über das Leben schlechthin kann vor allem die Erinnerung erringen. Indem der Erzähler an die Tätigkeit des Seilers erinnert, wird die Landschaft der Kindheit zur Sprachlandschaft und die Donau zum Lebensfluss, der fast schon im religiösen Sinn Bild der Lebensbewältigung ist.

So entstehen die Prosadichtungen aus mehrfachen Brüchen heraus, die erst verständlich machen, warum sich Lautensack in der expressionistischen Phase der Heimat zuwandte. Er bespricht die Risse zwischen sich und den Menschen der ländlichen und kleinstädtischen Heimat, er zeigt den Riss, den die Menschen zwischen ihm und sich eröffnen, und er zeigt die Fähigkeiten der Dichtung, die vielen kleinen Tode, die aus den Rissen entstehen, in der Erinnerung zu bewältigen. Bis in die liebevolle bayerische Syntax hinein werden die Menschen und ihre Landschalt miteinander verwoben.

Von den literarischen Arbeiten und der Tätigkeit als Übersetzer konnte Lautensack den Lebensunterhalt nicht bestreiten. Einen finanziellen und künstlerischen Ausweg bot ihm hier die Mitarbeit beim Film. Er war zunächst bei der Continental Kunstfilm-Gesellschaft beschäftigt – als Dramaturg und Reklame-Chef –, dann bei der Deutschen Bioskop. Sein Einsatz für die noch junge Kunst war nachdrücklich, wie noch der Beitrag in Kurt Pinthus’ (1556–1975) Kinobuch von 1913/14 zeigt, das eine Besinnung des Films auf seine eigentlichen Kunstmittel einforderte (das war damals noch der Stummfilm).

Was Lautensack mit den Dramen größtenteils verwehrt blieb – sie ans Licht der Öffentlichkeit bringen zu dürfen – realisierte sich zuletzt im Kino. Friedrich Brunner zufolge arbeitete Lautensack an sieben Verfilmungen mit – sein Beitrag für das Kinobuch Zwischen Himmel und Erde (1913) wurde realisiert. Zu den bekanntesten Filmen zählten Entsagungen (1916) und Mutter und Kind (1916) – beide Filme sind heute vergessen. Am 10. Januar 1919 starb Heinrich Lautensack in der Heilanstalt Eberswalde geistig umnachtet, Franz Blei zufolge an den Folgen der Syphilis.

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Es handelt sich hier um eine leicht geänderte Fassung des Beitrags aus der Literaturgeschichte Münchens, hg. v. Waldemar Fromm, Manfred Knedlik und Marcel Schellong. Regensburg 2019.