Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 40: Grete Weil, Der Weg an die Grenze (2022)
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
*
Im Rahmen eines Buchprojekts gab es Anfang 1989 eine kurze Korrespondenz zwischen Grete Weil und mir. Da dies der einzige direkte Kontakt zu einer Autorin bzw. einem Autor war, die in dieser Reihe vorgestellt werden, möchte ich den Lebenslauf, den mir Grete Weil-Jockisch (so steht es auf dem Briefkopf) geschickt hat, hier zitieren:
Geboren am 18. Juli 1906 in Rottach-Egern als Tochter des Münchner Rechtsanwaltes Dr. Siegfried Dispeker und seiner Frau Isabella, geb(orene) Goldschmidt. Meine beiden Eltern waren in München geboren und stammten aus alten Münchner jüdischen Familien. Unser Haus war in jeder Hinsicht sehr liberal. Gefeiert wurden Weihnachten und Ostern.
Ich hatte einen Bruder, der zwölf Jahre älter war als ich. Unsere Ferien verbrachten wir immer am Tegernsee, wo sich meine Eltern nach meiner Geburt ein Haus gebaut hatten. Zur Schule ging ich in München in das Mädchen-Lyzeum am Annaplatz, das ich mit fünfzehn Jahren verließ. Erst einige Jahre später habe ich mich entschlossen, auf das Abitur hinzuarbeiten, teils durch Privatstunden, teils durch eine ‚Presse‘. Zu Ende der Zwanzigerjahre oder zu Beginn der Dreißigerjahre machte ich in München am Luisengymnasium das externe Abitur und fiel durch – vor allem im deutschen Aufsatz. Weil die Sache mich ärgerte, machte ich das externe Abitur ein Jahr später in Frankfurt am Main in der viel moderneren Knabenschule ‚Musterschule‘. Danach begann ich Germanistik zu studieren in Frankfurt am Main, Berlin und München, konnte aber das Studium nicht beendigen, weil in der Zwischenzeit das Dritte Reich ausgebrochen war.
Mit meinem ersten Mann, dem Germanisten Dr. Edgar Weil, damals Dramaturg an den Münchner Kammerspielen, emigrierte ich nach Holland. Um mich im Ausland ernähren zu können, erlernte ich noch in München die Fotografie. Da mich keine Schule mehr aufnahm, lernte ich in dem damals sehr bekannten Fotoatelier Wasow in der Leopoldstraße. In Holland hatte ich ein Fotoatelier in Amsterdam, das mir schließlich samt der Einrichtung von den Deutschen weggenommen wurde. Mein Mann, der ein kleines pharmazeutisches Unternehmen hatte, wurde 1941 bei einer Straßenrazzia verhaftet, ins KZ Mauthausen gebracht und dort ermordet. Ich konnte untertauchen und habe so den Krieg überlebt. 1947 kehrte ich nach Deutschland zurück … Seit 1974 lebe ich in Grünwald bei München, vorher mit meinem zweiten Mann, dem Opernregisseur Walter Jockisch, der 1970 starb, in Stuttgart, Darmstadt, Berlin, Hannover und Frankfurt.
Seit 1989 ist im Leben von Grete Weil viel passiert. Schon 1988 wird ihr, der anerkannten Widerständlerin, der renommierte Geschwister-Scholl-Preis verliehen, weitere Auszeichnungen folgen, mehrere Bücher erscheinen. 1999 stirbt Grete Weil. 2019 wird eine Straße in München nach ihr benannt. All dies ließe vermuten, dass Grete Weil der Öffentlichkeit hinlänglich bekannt und in einem „Schattenkanon“ fehl am Platze wäre. Doch nach ihrem Tod erfolgt „ein jahrzehntelanges Absinken erst ins Halb-, dann ins verlegerische Volldunkel“ (Alexander Kluj). Ihr Werk wird erst jetzt neu aufgelegt. 2022 erscheint ihr erster, bislang unveröffentlichter Roman Der Weg zur Grenze, der in mehrerlei Hinsicht eine Entdeckung ist.
Der Roman entsteht in den Jahren 1944/45 in einem Versteck hinter einer Bücherwand in Amsterdam, wohin sie sich zu Freunden geflüchtet hat. Die Handlung ist frei erfunden, doch webt Grete Weil der Erzählung autobiografische Elemente ein. Eingepasst in eine Rahmenhandlung, die 1936 spielt, wird erzählt, wie der junge Dichter Andreas von Cornides am Münchner Hauptbahnhof einer Frau, Monika Merton, begegnet, die einen Zug zur bayerischen Grenze nehmen will, um sich vor dem zunehmenden NS-Terror in die Schweiz abzusetzen. Cormides entscheidet sich, sie bis zur Grenze zu begleiten. Merton erzählt ihm während einer Nacht auf einer Berghütte ihre Lebensgeschichte.
Grete Weil flieht zwar selbst nicht über die Berge wie ihre Protagonistin im Roman, sondern emigriert bereits 1935 nach Amsterdam. Doch wie die Romanheldin heiratet sie ihren Cousin, der später wie im Roman von den Nazis verschleppt und im KZ Mauthausen umgebracht wird. Als Hitler 1940 binnen fünf Tagen die neutralen Niederlande besetzt, sitzen Grete und Edgar Weil in der Falle: „Wir alle haben es so weit kommen lassen, ohne ernstlich etwas dagegen zu tun. Wir haben mit in den Schoß gelegten Händen zugesehen, wie die Dämonen über unser Land gekommen sind. Die Sorge um Deutschland hat uns nicht um unsern Schlaf gebracht. Wir haben vorgegeben, Leben und Freiheit zu lieben, und waren zu faul, von unsern weichen Betten aufzustehen.“
Klaus und Monika Merton lassen alle Gelegenheiten verstreichen, sich vor den Nationalsozialisten ins Ausland zu retten. Sie wollen nicht wahrhaben, wie sich die politische Realität zuspitzt, und warten, bis es zu spät ist. Die wenigsten Deutschen können sich vorstellen, was ihnen bevorsteht. Als Hitler Reichskanzler wird, „tröstete man sich in Bayern damit, dass Berlin ja weit und nach Tradition und Gebrauch eigentlich feindliches Ausland war".
Dabei fehlt es an Warnungen nicht: Ein Studienfreund wird von nationalsozialistischen Studenten erschossen, eine kommunistische Freundin in ihrer Gefängniszelle ermordet und Monikas Vater stirbt an den Folgen seiner Verhaftung stirbt. Trotzdem reagieren sie nicht. Die Briefe von Klaus' Mutter, die in die USA emigriert ist, „legten sie fort, ohne darüber zu sprechen“. Sie verpassen eine Gelegenheit nach der anderen.
Grete Weil arbeitet in Amsterdam für den Jüdischen Rat. Als sie zum Arbeitseinsatz nach Deutschland und damit in den sicheren Tod geschickt werden soll, taucht sie bei Freunden unter. Mit ihnen gründet sie im Herbst 1943 die Widerstandsgruppe „Hollandgruppe Freies Deutschland", schreibt Flugblätter und Puppenspiele für eine Marionettenbühne. Und ihren ersten, erschütternden Roman.
Grete Weil: Der Weg zur Grenze. Roman. Verlag C.H. Beck, München 2022
Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 40: Grete Weil, Der Weg an die Grenze (2022)>
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
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Im Rahmen eines Buchprojekts gab es Anfang 1989 eine kurze Korrespondenz zwischen Grete Weil und mir. Da dies der einzige direkte Kontakt zu einer Autorin bzw. einem Autor war, die in dieser Reihe vorgestellt werden, möchte ich den Lebenslauf, den mir Grete Weil-Jockisch (so steht es auf dem Briefkopf) geschickt hat, hier zitieren:
Geboren am 18. Juli 1906 in Rottach-Egern als Tochter des Münchner Rechtsanwaltes Dr. Siegfried Dispeker und seiner Frau Isabella, geb(orene) Goldschmidt. Meine beiden Eltern waren in München geboren und stammten aus alten Münchner jüdischen Familien. Unser Haus war in jeder Hinsicht sehr liberal. Gefeiert wurden Weihnachten und Ostern.
Ich hatte einen Bruder, der zwölf Jahre älter war als ich. Unsere Ferien verbrachten wir immer am Tegernsee, wo sich meine Eltern nach meiner Geburt ein Haus gebaut hatten. Zur Schule ging ich in München in das Mädchen-Lyzeum am Annaplatz, das ich mit fünfzehn Jahren verließ. Erst einige Jahre später habe ich mich entschlossen, auf das Abitur hinzuarbeiten, teils durch Privatstunden, teils durch eine ‚Presse‘. Zu Ende der Zwanzigerjahre oder zu Beginn der Dreißigerjahre machte ich in München am Luisengymnasium das externe Abitur und fiel durch – vor allem im deutschen Aufsatz. Weil die Sache mich ärgerte, machte ich das externe Abitur ein Jahr später in Frankfurt am Main in der viel moderneren Knabenschule ‚Musterschule‘. Danach begann ich Germanistik zu studieren in Frankfurt am Main, Berlin und München, konnte aber das Studium nicht beendigen, weil in der Zwischenzeit das Dritte Reich ausgebrochen war.
Mit meinem ersten Mann, dem Germanisten Dr. Edgar Weil, damals Dramaturg an den Münchner Kammerspielen, emigrierte ich nach Holland. Um mich im Ausland ernähren zu können, erlernte ich noch in München die Fotografie. Da mich keine Schule mehr aufnahm, lernte ich in dem damals sehr bekannten Fotoatelier Wasow in der Leopoldstraße. In Holland hatte ich ein Fotoatelier in Amsterdam, das mir schließlich samt der Einrichtung von den Deutschen weggenommen wurde. Mein Mann, der ein kleines pharmazeutisches Unternehmen hatte, wurde 1941 bei einer Straßenrazzia verhaftet, ins KZ Mauthausen gebracht und dort ermordet. Ich konnte untertauchen und habe so den Krieg überlebt. 1947 kehrte ich nach Deutschland zurück … Seit 1974 lebe ich in Grünwald bei München, vorher mit meinem zweiten Mann, dem Opernregisseur Walter Jockisch, der 1970 starb, in Stuttgart, Darmstadt, Berlin, Hannover und Frankfurt.
Seit 1989 ist im Leben von Grete Weil viel passiert. Schon 1988 wird ihr, der anerkannten Widerständlerin, der renommierte Geschwister-Scholl-Preis verliehen, weitere Auszeichnungen folgen, mehrere Bücher erscheinen. 1999 stirbt Grete Weil. 2019 wird eine Straße in München nach ihr benannt. All dies ließe vermuten, dass Grete Weil der Öffentlichkeit hinlänglich bekannt und in einem „Schattenkanon“ fehl am Platze wäre. Doch nach ihrem Tod erfolgt „ein jahrzehntelanges Absinken erst ins Halb-, dann ins verlegerische Volldunkel“ (Alexander Kluj). Ihr Werk wird erst jetzt neu aufgelegt. 2022 erscheint ihr erster, bislang unveröffentlichter Roman Der Weg zur Grenze, der in mehrerlei Hinsicht eine Entdeckung ist.
Der Roman entsteht in den Jahren 1944/45 in einem Versteck hinter einer Bücherwand in Amsterdam, wohin sie sich zu Freunden geflüchtet hat. Die Handlung ist frei erfunden, doch webt Grete Weil der Erzählung autobiografische Elemente ein. Eingepasst in eine Rahmenhandlung, die 1936 spielt, wird erzählt, wie der junge Dichter Andreas von Cornides am Münchner Hauptbahnhof einer Frau, Monika Merton, begegnet, die einen Zug zur bayerischen Grenze nehmen will, um sich vor dem zunehmenden NS-Terror in die Schweiz abzusetzen. Cormides entscheidet sich, sie bis zur Grenze zu begleiten. Merton erzählt ihm während einer Nacht auf einer Berghütte ihre Lebensgeschichte.
Grete Weil flieht zwar selbst nicht über die Berge wie ihre Protagonistin im Roman, sondern emigriert bereits 1935 nach Amsterdam. Doch wie die Romanheldin heiratet sie ihren Cousin, der später wie im Roman von den Nazis verschleppt und im KZ Mauthausen umgebracht wird. Als Hitler 1940 binnen fünf Tagen die neutralen Niederlande besetzt, sitzen Grete und Edgar Weil in der Falle: „Wir alle haben es so weit kommen lassen, ohne ernstlich etwas dagegen zu tun. Wir haben mit in den Schoß gelegten Händen zugesehen, wie die Dämonen über unser Land gekommen sind. Die Sorge um Deutschland hat uns nicht um unsern Schlaf gebracht. Wir haben vorgegeben, Leben und Freiheit zu lieben, und waren zu faul, von unsern weichen Betten aufzustehen.“
Klaus und Monika Merton lassen alle Gelegenheiten verstreichen, sich vor den Nationalsozialisten ins Ausland zu retten. Sie wollen nicht wahrhaben, wie sich die politische Realität zuspitzt, und warten, bis es zu spät ist. Die wenigsten Deutschen können sich vorstellen, was ihnen bevorsteht. Als Hitler Reichskanzler wird, „tröstete man sich in Bayern damit, dass Berlin ja weit und nach Tradition und Gebrauch eigentlich feindliches Ausland war".
Dabei fehlt es an Warnungen nicht: Ein Studienfreund wird von nationalsozialistischen Studenten erschossen, eine kommunistische Freundin in ihrer Gefängniszelle ermordet und Monikas Vater stirbt an den Folgen seiner Verhaftung stirbt. Trotzdem reagieren sie nicht. Die Briefe von Klaus' Mutter, die in die USA emigriert ist, „legten sie fort, ohne darüber zu sprechen“. Sie verpassen eine Gelegenheit nach der anderen.
Grete Weil arbeitet in Amsterdam für den Jüdischen Rat. Als sie zum Arbeitseinsatz nach Deutschland und damit in den sicheren Tod geschickt werden soll, taucht sie bei Freunden unter. Mit ihnen gründet sie im Herbst 1943 die Widerstandsgruppe „Hollandgruppe Freies Deutschland", schreibt Flugblätter und Puppenspiele für eine Marionettenbühne. Und ihren ersten, erschütternden Roman.
Grete Weil: Der Weg zur Grenze. Roman. Verlag C.H. Beck, München 2022
