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Allein zu Hause, niemand in der Schule

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Alle Bilder © Alexander Milstein

Der 1963 in Charkiw geborene Schriftsteller und bildende Künstler Alexander Milstein lebt seit 1995 in München. Nach dem Studium der Mathematik beginnt er 1988 zu schreiben. Seitdem hat er acht Bücher mit Prosa veröffentlicht, die Hälfte davon in Russland und die andere Hälfte in der Ukraine, wo 2017 das Buch Pjatipol erscheint, in dem neben Texten erstmals Bilder des Autors zu sehen sind. Seine Malerei bezieht sich teilweise auf seine literarischen Werke. Er zeigt sie in Ausstellungen und fügt sie seit Pjatipol auch in seine Bücher ein.

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Manchmal, nicht allzu oft, aber dennoch, wurde der kleine Maleev nach unten geschickt, um Milch zu holen. Ein Teil des Kanisters wurde für den hausgemachten Quark verwendet, den Maleevs Großvater herstellte. Auf den runden, weißen, feuchten Quarkstücken blieb ein Netzabdruck. Er mochte keinen Quark, aber man zwang ihn, ihn zu essen: Du wächst schnell, deine Knochen müssen stark sein. In einer anderen Wohnung wurde aus Quark Kasein-Temperafarbe hergestellt, und manche kochten Kasein-Kleber, und irgendwie blieb das alles an den Fetzen der Tage haften, die ganze Landschaft hinter der Gardine, selbst wie Quark, der in der Gaze allmählich dick wird … Quark und die Quarks, ja, das ist eine Geschichte nicht nur über Milch, sondern auch über Klebstoff.

Maleev war eine Zeitlang in der Redaktion der Wandzeitung seiner Schule, bis er wegen ungleichmäßiger und ungleicher Buchstaben weggejagt wurde, aber aus dieser Zeit blieb ihm ein Blatt dickes weißes Papier, das, wie sich herausstellte, für sein Ziel ausreichte. Das erste Mal allein zu Hause – „Du bist kein kleiner Junge mehr“ – beide Eltern waren auf Geschäftsreise, eine kleine Lücke – für einen Tag und eine Nacht, das erste Mal in Maleevs Leben. Wäre Maleev älter gewesen, hätte er diese Gelegenheit vielleicht anders genutzt, wäre später ins Bett gegangen oder gar nicht oder nicht allein ... Aber mit seinen zwölf Jahren tat er genau das, was er am liebsten tun wollte. Er kam vor allen anderen zur Schule. Zum Glück lag sie nicht weit entfernt, und nachdem er den Zettel an die Tür geklebt hatte, kehrte Maleev nach Hause zurück, legte sich ins Bett und lag zwei Stunden lang wach, während er mögliche Szenarien in seinem Kopf durchspielte. Dann aß er das Frühstück, das man ihm im Kühlschrank hinterlassen hatte, ging wieder zur Schule, kam aber nicht dort an. Noch bevor er den Schulhof erreichte, sah er eine Menge fröhlicher Schüler, die ihm entgegenkamen und ihm zuriefen: „Quarantäne! Masern! Alle Unterrichtsstunden wurden abgesagt! Die Schule ist wegen Quarantäne für eine Woche geschlossen! Es heißt: Alle gehen nach Hause!“ Maleev hatte einen solchen Effekt nicht erwartet, er dachte, dass die Lehrer die Ankündigung höchstwahrscheinlich zunichtemachen würden, aber offensichtlich kamen zu den ersten Stunden nicht die Lehrer, die in der Lage waren, den Befehl des Direktors von Maleevs Traum zu unterscheiden, und als diese kamen, war es bereits zu spät, der Prozess glich einem Schneeball, der bei der Schule ins Rollen kam und alle mitriss, die ihm begegneten. Zu Hause verspürte Maleev einen solchen Glücksrausch, dass er beschloss, die Abwesenheit der Erwachsenen noch ein weg auszunutzen: Zum ersten Mal schenkte er sich etwas Cognac aus der Flasche seines Vaters in ein Kristallglas und trank es aus. Dann noch eins. Und noch ein bisschen. Und noch ein kleines bisschen. Er füllte die Flasche mit starkem Tee bis zum vorherigen Stand auf, ging dann in sein Zimmer, legte sich auf sein Bett und schloss die Augen. Es war reines, unverfälschtes Glück. Einmal im Leben. Bilder schossen ihm durch den Kopf, er versank für eine Weile in ihnen und erwachte durch einen Schrei, den er zunächst für gewöhnlich hielt, aber im nächsten Moment begriff er, dass etwas unheimlich Seltsames vor sich ging. Erstens wurde der Schrei von einem unerhörten Glockengeläut begleitet, das wie aus dem Nichts in ihren Schlafkatakomben erklang ... Nach einer Sekunde wurde ihm klar, dass es sich nur um eine einzige Glocke handelte, deren Herkunft ebenfalls unbekannt war … wer war bloß auf die Idee gekommen, damit den Schulbeginn anzukündigen ... Und was war das für ein Schrei ... Maleev, der zum ersten Mal in seinem Leben einen Kater hatte, dachte zunächst, die Milchfrau sei verrückt geworden und schreie: „Trinkt Milch, Kinder, dann bleibt ihr gesund!“ Er ging zum Fenster und berührte vorsichtig, als könnte man ihn im achten Stock sehen, mit der Stirn das kalte Glas, schaute nach unten, sah aber nichts. Das war nicht verwunderlich, denn die Quelle des ewigen Rufs war von oben nie zu sehen, sie war immer vom Nebel verdeckt, so dass es auch jetzt dieselbe Milchfrau sein konnte, nur dass sie jetzt eine andere Aufgabe hatte, sie läutete die Glocke und rief: „Kinder, zur Schule!“