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1. Auszug aus dem Roman „Cooks Kontor“

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Alle Bilder (c) Alexander Milstein

Der 1963 in Charkiw geborene Schriftsteller und bildende Künstler Alexander Milstein lebt seit 1995 in München. Nach dem Studium der Mathematik beginnt er 1988 zu schreiben. Seitdem hat er acht Prosa-Bücher veröffentlicht, die Hälfte davon in Russland und die andere Hälfte in der Ukraine, wo 2017 das Buch Pyatipol erscheint, in dem neben Texten erstmals Bilder des Autors zu sehen sind. Seine Geschichten werden auch in der Süddeutschen Zeitung und der Zeitschrift Der Freund veröffentlicht. 2017 nimmt er an Eine Brücke aus Papier in Kijiw teil. 2023 illustriert Milstein den Band Durch die Zeiten und trägt außerdem einen Text dazu bei. Seine Malerei bezieht sich teilweise auf seine literarischen Werke. Er zeigt sie in Ausstellungen und fügt sie seit Pjatipol auch in seine Bücher ein. „INTERVIEW“ ist ein Auszug aus dem Roman Cooks Kontor, der im Original 2013 erschien.

*

Pascha Schestopalow träumte, er gehe durch einen Zoo. Plötzlich stand er vor einem Käfig, an dem eine Tafel mit seinem eigenen Namen hing.

Darunter standen, in der gleichen roten Farbe, aber in kleinerer Schrift, weitere Informationen, zum Beispiel: Art, Gattung, Verbreitungsgebiet, Bestandsgröße, vermehrt sich in Gefangenschaft …

Oder vermehrt sich nicht … Natürlich erinnerte sich Pascha, als er aufwachte, nur ungenau an den Inhalt des Texts und an die Tierart selbst.

Der Zoo ähnelte dem in seiner Kleinstadt N. an der Wolga. Das Tier war nicht sehr groß und hatte ein langes schwarzes Fell oder Stacheln.

„Ja“, dachte Pascha unter der Dusche, „es könnte ein Stachelschwein gewesen sein oder ein schwarzbrauner Polarfuchs … Und? Was bedeutet das jetzt?“

Er rieb sich mit dem für ihn vorgesehenen Handtuch ab und ging ins Gästezimmer, wo er, bevor er sich anzuziehen begann, die fremde Kleidung betrachtete, die auf dem Sessel lag. Sein Blick war beunruhigt, als hätten sie es sich über Nacht anders überlegt und Teile davon wieder zurückgenommen.

Tatsächlich gab es einen ganz konkreten Gegenstand der Besorgnis, und Pascha wurde nervös, als er ihn nicht gleich erblickte. Nicht so sehr, weil der Gegenstand hätte verschwinden, sondern eher, weil er sich hätte auflösen können.

Na ja, irgendwie aufgehen eben … Das wäre wirklich schlimm gewesen, denn Pascha hätte den Knoten allein nicht wieder binden können. Und es war niemand da, ihm zu helfen: Die Schirins waren zur Arbeit gegangen.

Die Befürchtung war unbegründet: Gleichsam um den Hals der Leere gebunden, fand sich die Krawatte hinter dem einen Schoß des Jacketts, und das erinnerte Pascha erneut an etwas längst Vergangenes und überaus Seltsames, aber jetzt war keine Zeit für Reminiszenzen, vielleicht ein anderes Mal, zumal er es tags zuvor auch nicht erzählt hatte … Er bereute nicht, dass sie ihn unterbrochen hatten – die Geschichte wäre sicher zu lang geworden, die Schirins hätten am Ende gelacht, wie schon bei zwei oder drei ähnlichen Anlässen: „Da hat er sich wieder mal hinreißen lassen …“

Und überhaupt lag es Pascha nicht, vor einer großen Ansammlung von Menschen lange zu salbadern, im Gegenteil, er litt an klassischer „Bühnenangst“ … In diesem Fall aber hatte er, vielleicht unbewusst, versucht, eine noch stärkere Nervosität einfach durch Reden in Griff zu kriegen.

Doch dann hatte man ihn mitten im Wort unterbrochen, und die Geschichte war irgendwie untergegangen.

Ja, es war laut gewesen in der Wohnung der Schirins am Vorabend des Vorstellungsgesprächs – ein wahrer Zirkus … Pascha wurde eingekleidet, und jeder der Freunde trug sein Scherflein bei: Die einen hatten Jacketts gebracht, die anderen Hosen …

Schirin selbst war gut doppelt so breit wie Pascha und hätte beim besten Willen nichts von seinen Sachen mit ihm teilen können – höchstens eine Krawatte …

Die Menge der angeschleppten Hemden und Schuhe war fast schon komisch.

Jemand hatte sogar Manschettenknöpfe mitgebracht, wahrscheinlich genauso ein Fettwanst wie Schirin – na ja, um nicht mit leeren Händen … Sicher, das Ganze war auch ein guter Anlass, eine „Party“ zu schmeißen. Obwohl … Hätten die Schirins nicht diesen Aufruf gestartet, sondern einfach nur all ihre Bekannten zu einem geselligen Abend eingeladen, es wären wohl kaum weniger Menschen erschienen … Aber so war es vielleicht sogar interessanter, und Pascha benötigte ja wirklich anständige Sachen für das Vorstellungsgespräch.

Schirins Gattin Lilja und ihre Nachbarin Vera banden ihm gerade vierhändig eine himbeerfarbene Krawatte mit silbernen Punkten um, als jemand von den Gästen anstimmte: „Flackernde Feuer, tiefblaue Nächte, wir sind Pioniere …“

„Letztes Mal habe ich so was bei meinem Abschluss angehabt …“, begann Pascha, doch plötzlich brach der Gesang ab, und auch er verstummte, denn jemand forderte ihn auf, sich umzudrehen.

Er dachte, er habe es sehr leise, fast zu sich selbst gesagt, und niemand habe es gehört. Aber dann fragte jemand:

„Bei der Abschluss- … feier?“

„Nein“, begann Pascha bereitwillig zu erklären, nun mit dem Rücken zu den anderen stehend, „am Abend trug ich die Krawatte nicht mehr – Freiheit … Aber bei der Abschlussprüfung in Literatur … da hatte ich sie an, das weiß ich noch genau … denn nur dank ihr bekam ich den Aufsatz hin …“

„Dreh dich weiter“, sagte Lilja. „Nein, noch mehr … so … Was hat die Literatur mit deinem Halstuch zu tun?“

„Eine Menge“, antwortete Paschа und wollte schon fortfahren, doch in diesem Augenblick sagte Vera, er solle sich noch mal umdrehen, und das Thema vergaß sich irgendwie von selbst, denn man hatte Wichtigeres zu besprechen: Die Damen, die Pascha einkleideten, nahmen die Anprobe ziemlich ernst, ständig wechselten sie seine Jacketts und Hosen, forderten ihn auf, mal die Arme zu heben, mal sie wieder zu senken, mal die Ellenbogen seitlich auszustrecken …

Woraufhin sie Pascha baten, auf einem eigens in die Mitte des Zimmers gestellten Stuhl Platz zu nehmen, denn sie wollten sehen, „wie sich die Hosen benehmen“, ob die Socken lang genug waren, das Schienbein nicht hervorlugte und so weiter.

All das war ungewohnt, irgendwie peinlich, manchmal kitzelte es sogar, aber egal, er hielt es aus… Er musste an den Tannenbaum denken, der in seiner Kindheit auch immer von „mehreren Händen“ geschmückt wurde, wenn die Familie Neujahr bei Bekannten feierte und andere Kinder anwesend waren. So wie dieser Tannenbaum fühlte er sich jetzt.

„Weder Flaum noch Feder!“, sagten ihm seine Wohltäter auf Russisch zum Abschied, und Pascha schickte sie alle, wie es sich gehörte, zum Teufel, einschließlich jener, die ihm „Hals- und Beinbruch“ wünschten und ihm erklärten, das sei die deutsche Entsprechung, wobei jedoch niemand die Frage, wohin einen die Deutschen anschließend schickten, wirklich beantworten konnte, sodass Pascha sie eben auch zum Teufel schickte.

„Oder hieß es 'Frosch im Hals'?“, versuchte er sich zu erinnern und lockerte den Knoten etwas, doch dann zog er ihn wieder fest und musterte sich im Spiegel.

„Grjus Got. Ikh bin Pafel Schestopaloff“, sagte er, streckte seinem Spiegelbild die Hand entgegen und erinnerte sich an eine weitere Ergänzung seines Wortschatzes: Laut Schirin nannten die Deutschen das, was ihm bevorstand, „Vorstellungsgespräch“.

„Das heißt, alles spielt sich in deiner Vorstellung ab“, scherzten die Schirins, „ein 'eingebildetes' Gespräch sozusagen.“

Und außerdem … Nun, da er so vor dem Spiegel stand, fiel ihm plötzlich wieder ein, was dieses „Außerdem“ war … nämlich genau das, was er zuvor als „kategorischen Imperativ“ bezeichnet hatte, ohne zu wissen, wie sehr er dabei in die Kristallkugel geblickt hatte, und ohne wirklich zu begreifen, was Kant damit eigentlich meinte.

„Pascha, ich weiß, was du tun musst“, hatte Schirin vor etwa zwei Wochen gesagt. „Du musst mit Vera in die Kiste steigen.“

„Wie bitte?“

„Genau. Mit meiner Nachbarin, Vera Komarowskaja.“

„Lew, machst du Witze?“

„Damit sie dir in ihrer Firma einen Job besorgt. Sie hat das schon mal gemacht für so einen jungen Burschen, der dort fast ein Jahr lang durchhielt – bis er plötzlich die Fliege machte.“ „Wie meinst du das?“

„Na ja, so halt.“

Lew machte eine flatternde Bewegung mit den Armen. „Hat alles stehen und liegen gelassen und ist ab nach Hause, hat sich wohl an irgendeine Flamme von früher erinnert … Und in der Firma gefiel es ihm auch nicht besonders … Aber die Hauptsache ist doch: Es hat schon mal funktioniert. Was schaust du mich so an? Wir alle wissen, dass Vera auf jüngere Männer steht. Jeder hat nun mal seine Schwächen.“

„Aber ich … ich kann das nicht“, sagte Pascha.

„Ach komm“, entgegnete Lew auf Deutsch und machte eine lässige Handbewegung nach hinten über die Schulter. Dann wandte er sich und sah, dass seine Frau das Wohnzimmer betreten hatte.

„Lilja, lass uns mal“, sagte er. „Das hier ist ein Männergespräch.“

Pascha war sicher, dass Lilja ihrem Gatten gehörig die Meinung geigen würde. Er zog sogar automatisch den Kopf ein, wie immer, wenn zwischen den Schirins ein Gewitter heraufzog.

Diesmal kam es jedoch anders. Lilja sagte nur: „Jaja, bin schon weg“, und verließ so eilig das Zimmer, dass Paschа begriff: Sie hatten schon vorher darüber gesprochen.

Es war offensichtlich: Sein Aufenthalt im Haus der Schirins zog sich in die Länge.

Als „Frosch im Hals“ fühlte er sich noch nicht, aber … Vielleicht war er einfach nicht sensibel genug, um sich in andere hineinzuversetzen?

Aber er begriff auch so: Es zog sich.

Schirin sah Pascha unverwandt in die Augen. (Was er dachte, war ziemlich banal: „Der Junge hier, das bin doch ich selbst – ich, Lew, nur zwanzig Jahre früher …“)

„Aber ich bin doch kein …“

„Kein was?“

„Kein Playboy“, sagte Pascha, und Lew brach in Gelächter aus.

„Wie bitte? So nach dem Motto: Küsse niemals ohne Liebe? Na ja, du musst es natürlich selbst wissen, junger Mann. Aber überleg es dir noch mal. Vera hat nämlich nicht nur einen großen Appetit, sondern ist auch selbst noch ziemlich appetitlich.“

„Sie könnte meine Großmutter sein.“

„Da übertreibst du jetzt aber.“

„Außerdem wäre sie auch in jüngeren Jahren nicht mein Fall gewesen!“

„Woher willst du das wissen?“

„Du hast mir doch selber Fotos von ihr gezeigt, aus eurem Archiv …“ Pascha schüttelte energisch den Kopf. „Nein und nochmals nein. Ihr müsst schon entschuldigen, mir ist klar, wie sehr ich euch auf die Nerven gehe …“

„Ach, weißt du … gar nicht so sehr.“ Schirin runzelte die Stirn. „Wir haben ja keine eigenen Kinder, aber mehr als genug Wohnraum … Nach unserer Moskauer Rumpelkammer ist das hier ja die reinste Ödnis … Wohnen kannst du hier einstweilen, solange du willst. Aber wir machen uns nun mal Sorgen um deine Zukunft. Dir eine normale Arbeit besorgen, ohne Genehmigung … und dann auch noch mit abgelaufenem Visum … das kann nur Vera.“

„Wer ist sie denn: Zarin – oder Gott? Gehört die Firma ihr?“

„Nein, aber …“

„Was kann sie dann überhaupt entscheiden, wenn sie für irgendeinen 'Onkel' arbeitet?“

„Sag das nicht. Sie hat großen Einfluss … darunter auch auf den 'Onkel'.“

„Nein! Lieber fahr ich nach Moskau oder … gleich ganz nach Hause zurück.“

„Und wo ist das, dein Zuhause …“, brummte Schirin. „Dort, wo du keine Zukunft hast außer bei diesen Eseln, vor denen du doch weggelaufen bist … Damit die dich dort endgültig fertigmachen?“

„Das werden wir noch sehen. Mit eurer Vera fang ich jedenfalls nichts an, tut mir leid.“

„Hast du vielleicht Angst, dass du ihn nicht hochkriegst? Komm schon! Die Komarowskaja, die steht noch, wie sagt man so schön … voll im Saft!“

„Dann mach‘s doch selber … mit deiner Komarowskaja!“

„Wozu?!“ Lew lachte auf. „Wer von uns beiden braucht hier einen Job? Koma und ich sind eng befreundet. Sie ist für mich wie eine Schwester. Aber gut, ich wollte ja nur das Beste, bitte entschuldige mich alten Mann, wenn ich irgendwie … Und glaub ja nicht, dass dich irgendwer vor die Tür setzen will … oder auf den Strich, nein, nein … Du bist ein freier Mann, also treib’s mit wem und wann immer du willst.“

Lew wollte schon wieder loslachen, doch als er bemerkte, dass Pascha das gar nicht komisch fand, sagte er nur:

„Na schön, dann vergiss dieses Gespräch einfach. Spielen wir lieber noch eine kleine Partie, hm, Blitz-Blitz?“

„Keine Lust“, antwortete Pascha verärgert. „Für heute hab ich genug von deinen Winkelzügen.“

„Ich lass dir auch einen Vorteil. Meine Dame!“

„Dann erst recht nicht.“ Paschа schüttelte den Kopf.

„Na gut, dann trinken wir halt noch was. Zum Wohlsein, junger Mann.“

Interview (Auszug aus Cooks Kontor), Teil 2

Aus dem Russischen von David Drevs