2. Auszug aus dem Roman „Cooks Kontor“
Interview (Auszug aus Cooks Kontor), Teil 1
Eine Woche später kam das Gespräch erneut auf die Möglichkeit, in „Veras Firma“ eine Anstellung zu finden, diesmal jedoch ohne fragwürdige „Imperative“. Schirin sagte einfach, er habe mit Koma gesprochen, und sie glaube, man könne es ja mal versuchen. Natürlich könne sie nichts garantieren, aber sie meine, es gebe gewisse Chancen, die Firma sei gerade auf der Suche nach einem Immobilienmakler für die GUS-Staaten, der zugleich auch Programmierer sei: Zwei volle Stellen mit normalem Gehalt könne sich die Firma derzeit nicht leisten, dafür sei die Lage momentan zu kompliziert … „Mit einem Wort: zug-zwang-mitten-drin-drang-nach-osten“, ratterte Lew herunter, „und deshalb hast du, Pascha, trotz fehlender Arbeitserlaubnis, ja sogar ohne Visum und Deutschkenntnisse, tatsächlich einen ziemlich attraktiven Job in Aussicht. Nach so was würden sich sogar Leute mit Visum, ja selbst Einheimische die Finger ablecken. Um die Formalitäten müssen die sich kümmern – das Wichtigste ist: Es hat schon mal geklappt, es liegt also im Bereich des Möglichen … Ach ja, und was ich dir letztes Mal gesagt habe … Vergiss es, war nur ein Scherz.“
„Das heißt, du glaubst, man kann mit der Alten auch Kirschen essen gehen, ohne sie zu vernaschen?“
„Ja“, antwortete Lew und lachte, „aber Koma ist keine 'Alte', das finde ich jetzt ziemlich undankbar von dir, du schwarzer Makler!“
„Also erstens bin ich noch gar kein Makler, und auch kein Programmierer, weder schwarz, noch weiß … und zweitens ist mir das jetzt nur so rausgerutscht, ich sag es nie wieder, nicht mal unter uns, eisernes Ehrenwort … Aber sag, wie soll ich als Immobilienmakler in die GUS fahren, wenn ich gar kein Visum habe? Ich komm von dort doch nicht mehr zurück!“
„Halt, halt“, sagte Lew, „ein Problem nach dem anderen … Das müssen die regeln, wenn es soweit ist. Sie werden dir ein Visum machen, eine Green Card oder irgendwas in der Richtung … Bis dahin arbeitest du eben von hier aus, alles zu seiner Zeit … Oder glaubst du etwa, dass das hier ein linkes Spiel irgendwelcher anonymer Einwanderungsgegner ist … um dich aus Deutschland rauszuschmeißen? Lächerlich!“
„Nein“, antwortete Pascha und dachte: Hätte Lew die Notwendigkeit, mit der Nachbarin zu schlafen, nicht zurückgenommen, so hätte Pascha genau etwas in der Art vermutet, zwar keine „Einwanderungsgegner“, aber doch ein durchaus konkretes betrügerisches Komplott: Die Nachbarin hätte ihren Schwerenöter bekommen, und der Schwerenöter einen feuchten Händedruck, wenn auch immerhin … Was das jedoch Lew gebracht hätte, wusste Pascha nicht zu beantworten, und so schüttelte er nur leicht den Kopf und sagte:
„Nein. Das glaube ich nicht.“
„Na dann: Was meinst du, junger Mann?“ Lew rieb sich die Hände, offensichtlich freute er sich schon darauf, den Anlass quasi präventiv mit hundert oder hundertfünfzig Gramm zu begießen …
„Witzig“, meinte Pascha, „wer weiß, vielleicht nehmen die mich ja wirklich … so eine Art Schnäppchen?“
Das Vorstellungsgespräch verlief auf Englisch.
Ein paar Mal nutzte Pascha die Tatsache, dass Vera dabei war: Sie sprang immer dann ein, wenn sich ihm irgendwelche Ausdrücke nicht gleich von selbst übersetzten …
Umgekehrt hatte ihr Chef auch nicht immer gleich die passenden englischen Ausdrücke parat, und dann dolmetschte sie mit Hingabe vom Deutschen ins Russische.
In der restlichen Zeit gab diese wohlgenährte Tante mit der großen Hornbrille deutlich zu erkennen, dass sie sich langweilte.
Jedenfalls gähnte sie, ohne die Hand vor den Mund zu nehmen, wie um damit ihre eigene Definition zu bestätigen, von der sie nichts wissen konnte – Pascha hatte sie nämlich auf den ersten Blick der Familie der „Kröten“ zugeteilt, aus der er sie nun allerdings wieder strich, als Dank für ihre guten Taten sozusagen … und nun eigentlich gar keine Schublade mehr für sie fand: „Na ja, so ne Tante halt … lächelt wie einer von diesen jüdischen Klassikern, keine Ahnung, wie der hieß …“
Gegen Ende des Gesprächs kam der Chef auf Paschas Vorgänger zu sprechen … und redete ausschließlich in seiner Muttersprache weiter, wobei seine Entrüstung auch ohne Verdolmetschung deutlich vernehmbar aus seinen Worten hervordröhnte …
Herr Astheimer war sichtlich froh über diese Gelegenheit, endlich mal richtig Dampf abzulassen: „Hat einfach alles stehen und liegen gelassen und sich verdrückt, dieser Mistkerl … über alle Berge … auf Nimmerwiedersehen“, dolmetschte Vera genüsslich, sozusagen den Schwarzen Peter weitergebend …
Als Pascha am Ende des Vorstellungsgesprächs erfuhr, man würde ihm innerhalb einer Woche eine Antwort zukommen lassen, begriff er, dass alles noch völlig offen war.
Unmöglich, etwas vorauszusagen.
Natürlich rechnete er mit dem Schlimmsten, sagte sich aber zugleich, vielleicht sei ja doch nicht alles verloren, man habe ihn nur vorwarnen wollen, wie in der Parabel, die ein idiotischer Lehrer irgendwann mal in den ersten Schuljahren erzählt hatte, von dem Zigeuner, der sein Kind verprügelte, bevor dieses den Krug zerbrach, denn „wenn es ihn kaputtmacht, ist es doch schon zu spät“ … Pascha musste dabei sofort an die jüngsten Nachrichten denken, wo von der Abschiebung rumänischer Zigeuner aus Frankreich die Rede gewesen war …
Er dachte, ein Glück, dass er nicht in Frankreich lebte und kein Zigeuner war …
Aber dann: Was war daran eigentlich so toll? Die wussten nicht nur, wohin sie gingen und woher sie kamen, sondern kriegten auch noch Reisegeld. Das war zwar Schwachsinn, die paar Cents, aber trotzdem, allein die Tatsache … Er dagegen … bekam höchstens einen Tritt in den Arsch.
Während Pascha den Krawattenknoten lockerte und wieder festzog, blickte er auf zwei feiste Typen, die ihm gegenübersaßen und auf Russisch sprachen, während sie um die Wette mit den Fingern auf ihren neumodischen Tablets herumtippten. Er hatte nicht die geringste Lust, ihnen zuzuhören.
Er fühlte sich beklommen und wollte die Schlinge bereits ganz vom Hals lösen, doch blieb er irgendwie „stecken“ – seine linke Hand verharrte auf dem Knoten, und dann erstarrte er ganz, seine Lider senkten sich bleischwer.
Ja, damals, bei der Abschlussprüfung …
Dank der Krawatte hatte Pascha seinen Aufsatz von einer „Ziehharmonika“, also einem zusammengefalteten Spickzettel, abschreiben können, den er sich auf wundersame Weise bei einem Modellflieger-Kurs im Palast der Pioniere von einem Jungen besorgt hatte, dessen Großvater Schriftsteller gewesen war – vom Vater war nie die Rede gewesen, vielleicht hatten die Gene bei dem eine Verschnaufpause eingelegt, im Enkel waren sie jedenfalls wieder erwacht: Jeder wusste, dass dieser bemerkenswert gute Aufsätze schrieb, weshalb die „Ziehharmonika“ eine Anschaffung von unschätzbarem Wert war …
Obwohl Paschа kaum hoffte, den Zettel nutzen zu können – er war zu lang und zu schmal – und ihn eher zur moralischen Unterstützung mitnahm, na ja, wie einem eben eine Pistole Selbstbewusstsein verschafft, selbst wenn sie einfach nur still im Halfter steckt, oder ein Messer im Stiefelschaft … Ungefähr so fühlte er sich, als er ihn in sein Jackett stopfte – einfach selbstbewusster. Eigentlich hoffte er ja, seine Zunge würde sich schon lösen und das Ganze sich irgendwie von selbst schreiben – gelesen hatte er ja so gut wie alles, zumindest den Pflichtstoff …
Doch nachdem er mehrmals die Themenliste an der Tafel überflogen hatte, wusste er: Wenn er „Die Figur Pierre Besuchows in Lew Tolstois Roman“ (es war das einzige von den aufgelisteten Themen, das auf seinem Spickzettel stand) nicht abzuschreiben versuchte, war er verratzt.
Seine eigenen Gedanken liefen nämlich gerade in alle möglichen Richtungen auseinander – wie sollte er sie da zu einem sinnvollen Text zusammenkneten …… wenn ihm von der ganzen, riesigen „Figur Pierres“ nur dieser dickliche Hanswurst in Erinnerung geblieben war, der es einem Offizier gleichtun wollte und groß ankündigte, eine ganze Flasche Rum auf einem Fenstersims sitzend auszutrinken, mit den Beinen nach außen – was er aber am Ende doch nicht tat.
Wobei ihm klar war, warum aus dem ganzen, enormen „Besuchow-Massiv“ (im algebraischen Sinne einer Matrix, also eines Indexes für all jene Romanseiten, auf denen die Besuchows auftauchten und in der Schicht … ebenjener Seiten … wieder verschwanden. Hier wäre anzumerken, dass Pascha im Fach Algebra, anders als bei der Literatur, nicht weniger, sondern sogar mehr als den Schulstoff kannte, denn er war in diesem Bereich eine Art Autodidakt), warum also von all diesen Besuchows ihm ausgerechnet dieser eine im Kopf geblieben war – gar nicht mal so sehr, weil dieser gleich am Anfang vorkam …
Ein gänzlich hirnloser Gedanke sprang jetzt aufs Dach eines 15-stöckigen Gebäudes, wo Pascha mit seinem Klassenkameraden Lunjow Cognacsprudel gebechert hatte …
Ja, wirklich. Erst goss man eine Flasche 4-Sterne-Cognac in den Siphon, dann fügte man Wasser und Kohlensäure hinzu …
Lunjow hatte zu Hause einen kleinen Kompressor, den seine Eltern aus dem Ausland mitgebracht hatten. Sie mussten also nicht erst zum Nachfüllpunkt gehen, wo man ihnen natürlich niemals Cognac statt Sirup eingefüllt hätte.
Paschа zog vorsichtig die „Ziehharmonika“ aus der Tasche, legte sie auf seinen hageren Oberschenkel und bedeckte sie schnell mit der einen Hälfte des Jacketts … Das alles war so durchschaubar, die Lehrerin ging ja zwischen den Reihen hindurch, und Pascha war fast sicher, man würde ihn gleich entlarven und in Schimpf und Schande aus dem Klassenzimmer schicken.
Aber jetzt war nichts mehr zu ändern. Er machte den Rücken gerade, um so den Jackettschoß anzuheben und den ersten Satz heraufzuziehen: „Die Figur Pierre Besuchows zieht sich wie ein roter Faden durch Lew Tolstois Roman.“ Gleich darauf deckte er den Papierstreifen auf seinem Bein wieder zu, denn er hörte bereits, wie die Russischpaukerin seine Reihe entlangmarschierte, direkt auf ihn zu, wie er glaubte, aber nein, sie ging an ihm vorbei, und so wurden die ersten Worte des Aufsatzes teletypiert oder -grafiert, auch wenn er im nächsten Augenblick dachte: „In Wirklichkeit ist es umgekehrt, beim Fernschreiber kommt der Papierstreifen am Ende … ein Dackel von Edinburgh bis London …“
All das beflügelte Pascha, er begriff, dass er den Spickzettel unbemerkt zurückschieben konnte – und zwar mit der Krawatte …
Genau, mit dem Ende der Krawatte … Mit einer Halsbewegung konnte Pascha, wann immer nötig, den Spicker zurück unter den Flügel befördern … also, den Jackettschoß eben … Und nötig war es alle zwei bis drei Minuten … Hauptsache nicht mit den Händen, die Hände waren … Da waren sie, seine Patschehändchen … Die eine schrieb, die andere hielt das Blatt fest, beide waren die ganze Zeit auf dem Tisch, sämtliche Bewegungen vollführte seine dritte, seidene „Hand“ („Dass ihr euch heute seidenweich benehmt!“, hatte die Klassenleiterin gesagt) sowie durch andere Körperteile, durch mikroskopische Muskelkontraktionen, gerade so viel, wie er den Hals recken oder die Schulter heben musste, damit unter dem Jackettschoß zwei bis drei Zentimeter Papierstreifen hervorlugten … und dann wieder verschwanden, angestupst von der Krawattenspitze, die für die Dauer des Aufsatzes zu einer direkten Verlängerung von Pascha Schestopalow geworden war.
Eine Zeitlang war Paschas ganzer Körper damals sich fremd gewesen, getrennt von sich selbst, auf eine Weise, wie er es weder davor, noch danach zustande brachte: Gerade eben versuchte er es erneut – hier und jetzt, in einer deutschen U-Bahn, und die blaue Streifenkarte, dem Ziehharmonika-Spicker nicht unähnlich, nur mit kräftigerem Papier, schien für derartige Anwandlungen eigentlich sogar noch besser geeignet …
Aber nein – diese bläuliche „Ziehharmonika“ ließ sich auf seinem Bein kein bisschen verschieben. Irgendwann segelte sie zu Boden, Pascha hob sie auf, legte sie wieder zurück, jedoch ohne Erfolg. Aus Sicht, sagen wir, einer Beobachtungskamera hätten die Zuckungen des jungen Mannes sicherlich ziemlich auffällig ausgesehen – wie der Breakdance eines Großstadtneurotikers.
Kurz, diesmal hätte Pascha die Prüfung kaum geschafft.
Nicht, dass er in den letzten Jahren zum Tollpatsch geworden wäre. Eher schon war damals, beim Abschlussaufsatz, in Pascha wohl eine andere – übermenschliche – Geschicklichkeit erwacht …
Nicht im Sinne einer Geschicklichkeit im Superlativ, nein … Vielmehr hatte Paschа damals das Gefühl gehabt, sein eigener Körper habe sich in ein System von Rollen, Antriebsriemen und Gewichten verwandelt, ja, genau wie im Physiklehrbuch für die achte Klasse …
Wie er so in der U-Bahn saß, sah er mit geschlossenen Augen vor sich den kinematischen Plan, den jemand an der Stelle, mit Kreide an jene Tafel gemalt hatte, wo vorher die Aufsatzthemen standen, doch nun war der Plan bereits dreidimensional, und dasselbe galt für den Bart, der auf einmal über der Tafel hing … Als habe der Verfasser des „Kapitals“ sich in den Autor von „Krieg und Frieden“ verwandelt, sein Porträt verlassen und bringe nun, hinter einem schwarzen Wandschirm stehend und wie im Puppentheater die Fäden ziehend, das ganze vielverzweigte System aus Aufhängungen, Zugrollen und Gegengewichten, also Paschas gesamten Körper in Bewegung – den Körper eines Traumgesichts …
Der Träumer saß jedoch in einer deutschen U-Bahn und bemerkte nun, wie sich etwas anderes in Bewegung setzte … die Schatten der beiden vergessenen Schlägertypen.
Nein, dieser Gedanke kam ihm erst etwas später, denn in diesem Augenblick glaubte er, es seien die Schatten von Zweigen, die vom Wind vor dem Fenster bewegt wurden, oder Sonnenstrahlen, die von draußen hereinfielen und wie beim Röntgen sein dünnes Buklee-Jackett durchleuchteten, wodurch nicht mehr nur der Bauplan, sondern all seine halb illegalen Machenschaften an die weiße Wand des Klassenzimmers projiziert wurden und ihn nach Strich und Faden überführten – schon knarzten die Bretter unter den Schuhsohlen der Russischpaukerin … Doch da klingelte der Wecker.
Besser gesagt: das Telefon, obwohl, vielleicht wachte Pascha auch einfach genau in diesem Moment wieder auf – er hatte in der Nacht schlecht geschlafen und verspürte nun, da das Vorstellungsgespräch bereits einige Zeit zurücklag und die Wirkung sowohl von Koffein als auch von Adrenalin verflogen war, eine extreme Müdigkeit …
Dem Klingelton nach zu urteilen, konnte es sein Telefon gewesen sein, obwohl dieser modische Retrosound – wie bei den alten Wählscheibenapparaten oder wie das Pausenklingeln in der Schule – damals gerade ziemlich weit verbreitet war … Pascha wartete faul ab, sollten die anderen zuerst nachschauen, schließlich befand er sich ja zum Teil noch in der 10А der Mittelschule Nr. 59 …
Mehrere Personen holten ihre Mobiltelefone heraus und steckten sie gleich wieder ein, und erst als Pascha seines hervorzog, hörte das Klingeln auf. Es war zu spät.
Die zwei Russen saßen ihm noch immer gegenüber, doch jetzt schwiegen sie. Auf das Klingeln hatten sie überhaupt nicht reagiert, offenbar hatten die Telefone der beiden einen anderen Ton … Wieder klingelte es – es war tatsächlich sein Telefon – und Pascha drückte auf den Knopf.
Ihm fiel ein, dass ihn die beiden ja verstehen konnten, was ihn verlegen machte. Hastig murmelte er, er werde zurückrufen, und nahm sein altes Nokia vom Ohr.
Dann sah er zum ersten Mal dem Kerl auf der linken Seite direkt in die Augen.
Und danach dem Typen, der auf der rechten Seite saß, der ihn dann auch fragte:
„Hör mal, du Komiker … Hast du das etwa alles mitgehört?“
„Was mitgehört?“, fragte Pascha. „Sie meinen die Durchsage von eben? Nein, ich kann kein Deutsch … Na ja, ich denke mal, der Zug hat einfach ein paar Minuten Verspätung …“
Die U-Bahn stand mitten im Tunnel, und gerade als Pascha versuchte, Schirin auf kürzestmögliche Art abzuwimmeln, war irgendein Text durch die Lautsprecher gekommen.
„Hast du mitgehört, worüber Pjotr und ich geredet haben?“
„Sie sind also Pjotr“, sagte Pascha zu dem Typen links. Er dachte, ob er ihm die Hand reichen und sich vorstellen solle, doch war der Tonfall, in dem die beiden mit ihm sprachen, nicht gerade ermutigend.
„Nein“, sagte er, „ich habe nichts gehört, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.“
„Du bist ja heftig, Mann“, sagte Pjotr und holte hörbar Luft.
„Ich?“, fragte Pascha verwundert.
„Kapierst du nicht, dass auf dieser Ebene der Transaktionsisolation …“, begann der Zweite, doch Pjotr unterbrach ihn, indem er seinem Kumpel die Hand auf die Schulter legte, als gäbe es dort einen Knopf zu drücken …
Woraufhin die beiden gut eine Minute lang schwiegen und dann von Pascha in der dritten Person zu sprechen begannen, als wäre er gar nicht mehr anwesend: „Er hat alles mitgehört.“ – „Er behauptet aber das Gegenteil.“ – „Glaubst du ihm?“
„Entschuldigen Sie“, sagte Pascha, „aber ich muss an der nächsten raus. Wiedersehen!“
„Hast du das mit dem Plan gehört?“
„Nun regen Sie sich doch nicht wegen so einer Lappalie auf, zumal ich wirklich nichts gehört habe. Ich habe geschlafen, sozusagen, geträumt … von der wunderbaren Schulzeit … Und das wünsche ich Ihnen auch.“
Mit diesen Worten stand er auf und bewegte sich in Richtung Waggontür, doch in diesem Moment kam aus dem Lautsprecher eine weitere Durchsage. Pascha verstand nichts, kehrte aber dennoch zurück und ratterte mechanisch, zu seiner eigenen Überraschung, wobei er mit Befriedigung feststellte, dass die Augenbrauen der beiden Typen immer weiter nach oben wanderten: „Wissen Sie, was die da durchsagen? 'Träum süß, im Bettchen geborgen, vom Esel am Abend, vom Böcklein am Morgen, schlaf tief und fest und ohne Sorgen!'“
Daraufhin ging Pascha wieder zum Ausgang.
Aus dem Russischen von David Drevs
2. Auszug aus dem Roman „Cooks Kontor“>
Interview (Auszug aus Cooks Kontor), Teil 1
Eine Woche später kam das Gespräch erneut auf die Möglichkeit, in „Veras Firma“ eine Anstellung zu finden, diesmal jedoch ohne fragwürdige „Imperative“. Schirin sagte einfach, er habe mit Koma gesprochen, und sie glaube, man könne es ja mal versuchen. Natürlich könne sie nichts garantieren, aber sie meine, es gebe gewisse Chancen, die Firma sei gerade auf der Suche nach einem Immobilienmakler für die GUS-Staaten, der zugleich auch Programmierer sei: Zwei volle Stellen mit normalem Gehalt könne sich die Firma derzeit nicht leisten, dafür sei die Lage momentan zu kompliziert … „Mit einem Wort: zug-zwang-mitten-drin-drang-nach-osten“, ratterte Lew herunter, „und deshalb hast du, Pascha, trotz fehlender Arbeitserlaubnis, ja sogar ohne Visum und Deutschkenntnisse, tatsächlich einen ziemlich attraktiven Job in Aussicht. Nach so was würden sich sogar Leute mit Visum, ja selbst Einheimische die Finger ablecken. Um die Formalitäten müssen die sich kümmern – das Wichtigste ist: Es hat schon mal geklappt, es liegt also im Bereich des Möglichen … Ach ja, und was ich dir letztes Mal gesagt habe … Vergiss es, war nur ein Scherz.“
„Das heißt, du glaubst, man kann mit der Alten auch Kirschen essen gehen, ohne sie zu vernaschen?“
„Ja“, antwortete Lew und lachte, „aber Koma ist keine 'Alte', das finde ich jetzt ziemlich undankbar von dir, du schwarzer Makler!“
„Also erstens bin ich noch gar kein Makler, und auch kein Programmierer, weder schwarz, noch weiß … und zweitens ist mir das jetzt nur so rausgerutscht, ich sag es nie wieder, nicht mal unter uns, eisernes Ehrenwort … Aber sag, wie soll ich als Immobilienmakler in die GUS fahren, wenn ich gar kein Visum habe? Ich komm von dort doch nicht mehr zurück!“
„Halt, halt“, sagte Lew, „ein Problem nach dem anderen … Das müssen die regeln, wenn es soweit ist. Sie werden dir ein Visum machen, eine Green Card oder irgendwas in der Richtung … Bis dahin arbeitest du eben von hier aus, alles zu seiner Zeit … Oder glaubst du etwa, dass das hier ein linkes Spiel irgendwelcher anonymer Einwanderungsgegner ist … um dich aus Deutschland rauszuschmeißen? Lächerlich!“
„Nein“, antwortete Pascha und dachte: Hätte Lew die Notwendigkeit, mit der Nachbarin zu schlafen, nicht zurückgenommen, so hätte Pascha genau etwas in der Art vermutet, zwar keine „Einwanderungsgegner“, aber doch ein durchaus konkretes betrügerisches Komplott: Die Nachbarin hätte ihren Schwerenöter bekommen, und der Schwerenöter einen feuchten Händedruck, wenn auch immerhin … Was das jedoch Lew gebracht hätte, wusste Pascha nicht zu beantworten, und so schüttelte er nur leicht den Kopf und sagte:
„Nein. Das glaube ich nicht.“
„Na dann: Was meinst du, junger Mann?“ Lew rieb sich die Hände, offensichtlich freute er sich schon darauf, den Anlass quasi präventiv mit hundert oder hundertfünfzig Gramm zu begießen …
„Witzig“, meinte Pascha, „wer weiß, vielleicht nehmen die mich ja wirklich … so eine Art Schnäppchen?“
Das Vorstellungsgespräch verlief auf Englisch.
Ein paar Mal nutzte Pascha die Tatsache, dass Vera dabei war: Sie sprang immer dann ein, wenn sich ihm irgendwelche Ausdrücke nicht gleich von selbst übersetzten …
Umgekehrt hatte ihr Chef auch nicht immer gleich die passenden englischen Ausdrücke parat, und dann dolmetschte sie mit Hingabe vom Deutschen ins Russische.
In der restlichen Zeit gab diese wohlgenährte Tante mit der großen Hornbrille deutlich zu erkennen, dass sie sich langweilte.
Jedenfalls gähnte sie, ohne die Hand vor den Mund zu nehmen, wie um damit ihre eigene Definition zu bestätigen, von der sie nichts wissen konnte – Pascha hatte sie nämlich auf den ersten Blick der Familie der „Kröten“ zugeteilt, aus der er sie nun allerdings wieder strich, als Dank für ihre guten Taten sozusagen … und nun eigentlich gar keine Schublade mehr für sie fand: „Na ja, so ne Tante halt … lächelt wie einer von diesen jüdischen Klassikern, keine Ahnung, wie der hieß …“
Gegen Ende des Gesprächs kam der Chef auf Paschas Vorgänger zu sprechen … und redete ausschließlich in seiner Muttersprache weiter, wobei seine Entrüstung auch ohne Verdolmetschung deutlich vernehmbar aus seinen Worten hervordröhnte …
Herr Astheimer war sichtlich froh über diese Gelegenheit, endlich mal richtig Dampf abzulassen: „Hat einfach alles stehen und liegen gelassen und sich verdrückt, dieser Mistkerl … über alle Berge … auf Nimmerwiedersehen“, dolmetschte Vera genüsslich, sozusagen den Schwarzen Peter weitergebend …
Als Pascha am Ende des Vorstellungsgesprächs erfuhr, man würde ihm innerhalb einer Woche eine Antwort zukommen lassen, begriff er, dass alles noch völlig offen war.
Unmöglich, etwas vorauszusagen.
Natürlich rechnete er mit dem Schlimmsten, sagte sich aber zugleich, vielleicht sei ja doch nicht alles verloren, man habe ihn nur vorwarnen wollen, wie in der Parabel, die ein idiotischer Lehrer irgendwann mal in den ersten Schuljahren erzählt hatte, von dem Zigeuner, der sein Kind verprügelte, bevor dieses den Krug zerbrach, denn „wenn es ihn kaputtmacht, ist es doch schon zu spät“ … Pascha musste dabei sofort an die jüngsten Nachrichten denken, wo von der Abschiebung rumänischer Zigeuner aus Frankreich die Rede gewesen war …
Er dachte, ein Glück, dass er nicht in Frankreich lebte und kein Zigeuner war …
Aber dann: Was war daran eigentlich so toll? Die wussten nicht nur, wohin sie gingen und woher sie kamen, sondern kriegten auch noch Reisegeld. Das war zwar Schwachsinn, die paar Cents, aber trotzdem, allein die Tatsache … Er dagegen … bekam höchstens einen Tritt in den Arsch.
Während Pascha den Krawattenknoten lockerte und wieder festzog, blickte er auf zwei feiste Typen, die ihm gegenübersaßen und auf Russisch sprachen, während sie um die Wette mit den Fingern auf ihren neumodischen Tablets herumtippten. Er hatte nicht die geringste Lust, ihnen zuzuhören.
Er fühlte sich beklommen und wollte die Schlinge bereits ganz vom Hals lösen, doch blieb er irgendwie „stecken“ – seine linke Hand verharrte auf dem Knoten, und dann erstarrte er ganz, seine Lider senkten sich bleischwer.
Ja, damals, bei der Abschlussprüfung …
Dank der Krawatte hatte Pascha seinen Aufsatz von einer „Ziehharmonika“, also einem zusammengefalteten Spickzettel, abschreiben können, den er sich auf wundersame Weise bei einem Modellflieger-Kurs im Palast der Pioniere von einem Jungen besorgt hatte, dessen Großvater Schriftsteller gewesen war – vom Vater war nie die Rede gewesen, vielleicht hatten die Gene bei dem eine Verschnaufpause eingelegt, im Enkel waren sie jedenfalls wieder erwacht: Jeder wusste, dass dieser bemerkenswert gute Aufsätze schrieb, weshalb die „Ziehharmonika“ eine Anschaffung von unschätzbarem Wert war …
Obwohl Paschа kaum hoffte, den Zettel nutzen zu können – er war zu lang und zu schmal – und ihn eher zur moralischen Unterstützung mitnahm, na ja, wie einem eben eine Pistole Selbstbewusstsein verschafft, selbst wenn sie einfach nur still im Halfter steckt, oder ein Messer im Stiefelschaft … Ungefähr so fühlte er sich, als er ihn in sein Jackett stopfte – einfach selbstbewusster. Eigentlich hoffte er ja, seine Zunge würde sich schon lösen und das Ganze sich irgendwie von selbst schreiben – gelesen hatte er ja so gut wie alles, zumindest den Pflichtstoff …
Doch nachdem er mehrmals die Themenliste an der Tafel überflogen hatte, wusste er: Wenn er „Die Figur Pierre Besuchows in Lew Tolstois Roman“ (es war das einzige von den aufgelisteten Themen, das auf seinem Spickzettel stand) nicht abzuschreiben versuchte, war er verratzt.
Seine eigenen Gedanken liefen nämlich gerade in alle möglichen Richtungen auseinander – wie sollte er sie da zu einem sinnvollen Text zusammenkneten …… wenn ihm von der ganzen, riesigen „Figur Pierres“ nur dieser dickliche Hanswurst in Erinnerung geblieben war, der es einem Offizier gleichtun wollte und groß ankündigte, eine ganze Flasche Rum auf einem Fenstersims sitzend auszutrinken, mit den Beinen nach außen – was er aber am Ende doch nicht tat.
Wobei ihm klar war, warum aus dem ganzen, enormen „Besuchow-Massiv“ (im algebraischen Sinne einer Matrix, also eines Indexes für all jene Romanseiten, auf denen die Besuchows auftauchten und in der Schicht … ebenjener Seiten … wieder verschwanden. Hier wäre anzumerken, dass Pascha im Fach Algebra, anders als bei der Literatur, nicht weniger, sondern sogar mehr als den Schulstoff kannte, denn er war in diesem Bereich eine Art Autodidakt), warum also von all diesen Besuchows ihm ausgerechnet dieser eine im Kopf geblieben war – gar nicht mal so sehr, weil dieser gleich am Anfang vorkam …
Ein gänzlich hirnloser Gedanke sprang jetzt aufs Dach eines 15-stöckigen Gebäudes, wo Pascha mit seinem Klassenkameraden Lunjow Cognacsprudel gebechert hatte …
Ja, wirklich. Erst goss man eine Flasche 4-Sterne-Cognac in den Siphon, dann fügte man Wasser und Kohlensäure hinzu …
Lunjow hatte zu Hause einen kleinen Kompressor, den seine Eltern aus dem Ausland mitgebracht hatten. Sie mussten also nicht erst zum Nachfüllpunkt gehen, wo man ihnen natürlich niemals Cognac statt Sirup eingefüllt hätte.
Paschа zog vorsichtig die „Ziehharmonika“ aus der Tasche, legte sie auf seinen hageren Oberschenkel und bedeckte sie schnell mit der einen Hälfte des Jacketts … Das alles war so durchschaubar, die Lehrerin ging ja zwischen den Reihen hindurch, und Pascha war fast sicher, man würde ihn gleich entlarven und in Schimpf und Schande aus dem Klassenzimmer schicken.
Aber jetzt war nichts mehr zu ändern. Er machte den Rücken gerade, um so den Jackettschoß anzuheben und den ersten Satz heraufzuziehen: „Die Figur Pierre Besuchows zieht sich wie ein roter Faden durch Lew Tolstois Roman.“ Gleich darauf deckte er den Papierstreifen auf seinem Bein wieder zu, denn er hörte bereits, wie die Russischpaukerin seine Reihe entlangmarschierte, direkt auf ihn zu, wie er glaubte, aber nein, sie ging an ihm vorbei, und so wurden die ersten Worte des Aufsatzes teletypiert oder -grafiert, auch wenn er im nächsten Augenblick dachte: „In Wirklichkeit ist es umgekehrt, beim Fernschreiber kommt der Papierstreifen am Ende … ein Dackel von Edinburgh bis London …“
All das beflügelte Pascha, er begriff, dass er den Spickzettel unbemerkt zurückschieben konnte – und zwar mit der Krawatte …
Genau, mit dem Ende der Krawatte … Mit einer Halsbewegung konnte Pascha, wann immer nötig, den Spicker zurück unter den Flügel befördern … also, den Jackettschoß eben … Und nötig war es alle zwei bis drei Minuten … Hauptsache nicht mit den Händen, die Hände waren … Da waren sie, seine Patschehändchen … Die eine schrieb, die andere hielt das Blatt fest, beide waren die ganze Zeit auf dem Tisch, sämtliche Bewegungen vollführte seine dritte, seidene „Hand“ („Dass ihr euch heute seidenweich benehmt!“, hatte die Klassenleiterin gesagt) sowie durch andere Körperteile, durch mikroskopische Muskelkontraktionen, gerade so viel, wie er den Hals recken oder die Schulter heben musste, damit unter dem Jackettschoß zwei bis drei Zentimeter Papierstreifen hervorlugten … und dann wieder verschwanden, angestupst von der Krawattenspitze, die für die Dauer des Aufsatzes zu einer direkten Verlängerung von Pascha Schestopalow geworden war.
Eine Zeitlang war Paschas ganzer Körper damals sich fremd gewesen, getrennt von sich selbst, auf eine Weise, wie er es weder davor, noch danach zustande brachte: Gerade eben versuchte er es erneut – hier und jetzt, in einer deutschen U-Bahn, und die blaue Streifenkarte, dem Ziehharmonika-Spicker nicht unähnlich, nur mit kräftigerem Papier, schien für derartige Anwandlungen eigentlich sogar noch besser geeignet …
Aber nein – diese bläuliche „Ziehharmonika“ ließ sich auf seinem Bein kein bisschen verschieben. Irgendwann segelte sie zu Boden, Pascha hob sie auf, legte sie wieder zurück, jedoch ohne Erfolg. Aus Sicht, sagen wir, einer Beobachtungskamera hätten die Zuckungen des jungen Mannes sicherlich ziemlich auffällig ausgesehen – wie der Breakdance eines Großstadtneurotikers.
Kurz, diesmal hätte Pascha die Prüfung kaum geschafft.
Nicht, dass er in den letzten Jahren zum Tollpatsch geworden wäre. Eher schon war damals, beim Abschlussaufsatz, in Pascha wohl eine andere – übermenschliche – Geschicklichkeit erwacht …
Nicht im Sinne einer Geschicklichkeit im Superlativ, nein … Vielmehr hatte Paschа damals das Gefühl gehabt, sein eigener Körper habe sich in ein System von Rollen, Antriebsriemen und Gewichten verwandelt, ja, genau wie im Physiklehrbuch für die achte Klasse …
Wie er so in der U-Bahn saß, sah er mit geschlossenen Augen vor sich den kinematischen Plan, den jemand an der Stelle, mit Kreide an jene Tafel gemalt hatte, wo vorher die Aufsatzthemen standen, doch nun war der Plan bereits dreidimensional, und dasselbe galt für den Bart, der auf einmal über der Tafel hing … Als habe der Verfasser des „Kapitals“ sich in den Autor von „Krieg und Frieden“ verwandelt, sein Porträt verlassen und bringe nun, hinter einem schwarzen Wandschirm stehend und wie im Puppentheater die Fäden ziehend, das ganze vielverzweigte System aus Aufhängungen, Zugrollen und Gegengewichten, also Paschas gesamten Körper in Bewegung – den Körper eines Traumgesichts …
Der Träumer saß jedoch in einer deutschen U-Bahn und bemerkte nun, wie sich etwas anderes in Bewegung setzte … die Schatten der beiden vergessenen Schlägertypen.
Nein, dieser Gedanke kam ihm erst etwas später, denn in diesem Augenblick glaubte er, es seien die Schatten von Zweigen, die vom Wind vor dem Fenster bewegt wurden, oder Sonnenstrahlen, die von draußen hereinfielen und wie beim Röntgen sein dünnes Buklee-Jackett durchleuchteten, wodurch nicht mehr nur der Bauplan, sondern all seine halb illegalen Machenschaften an die weiße Wand des Klassenzimmers projiziert wurden und ihn nach Strich und Faden überführten – schon knarzten die Bretter unter den Schuhsohlen der Russischpaukerin … Doch da klingelte der Wecker.
Besser gesagt: das Telefon, obwohl, vielleicht wachte Pascha auch einfach genau in diesem Moment wieder auf – er hatte in der Nacht schlecht geschlafen und verspürte nun, da das Vorstellungsgespräch bereits einige Zeit zurücklag und die Wirkung sowohl von Koffein als auch von Adrenalin verflogen war, eine extreme Müdigkeit …
Dem Klingelton nach zu urteilen, konnte es sein Telefon gewesen sein, obwohl dieser modische Retrosound – wie bei den alten Wählscheibenapparaten oder wie das Pausenklingeln in der Schule – damals gerade ziemlich weit verbreitet war … Pascha wartete faul ab, sollten die anderen zuerst nachschauen, schließlich befand er sich ja zum Teil noch in der 10А der Mittelschule Nr. 59 …
Mehrere Personen holten ihre Mobiltelefone heraus und steckten sie gleich wieder ein, und erst als Pascha seines hervorzog, hörte das Klingeln auf. Es war zu spät.
Die zwei Russen saßen ihm noch immer gegenüber, doch jetzt schwiegen sie. Auf das Klingeln hatten sie überhaupt nicht reagiert, offenbar hatten die Telefone der beiden einen anderen Ton … Wieder klingelte es – es war tatsächlich sein Telefon – und Pascha drückte auf den Knopf.
Ihm fiel ein, dass ihn die beiden ja verstehen konnten, was ihn verlegen machte. Hastig murmelte er, er werde zurückrufen, und nahm sein altes Nokia vom Ohr.
Dann sah er zum ersten Mal dem Kerl auf der linken Seite direkt in die Augen.
Und danach dem Typen, der auf der rechten Seite saß, der ihn dann auch fragte:
„Hör mal, du Komiker … Hast du das etwa alles mitgehört?“
„Was mitgehört?“, fragte Pascha. „Sie meinen die Durchsage von eben? Nein, ich kann kein Deutsch … Na ja, ich denke mal, der Zug hat einfach ein paar Minuten Verspätung …“
Die U-Bahn stand mitten im Tunnel, und gerade als Pascha versuchte, Schirin auf kürzestmögliche Art abzuwimmeln, war irgendein Text durch die Lautsprecher gekommen.
„Hast du mitgehört, worüber Pjotr und ich geredet haben?“
„Sie sind also Pjotr“, sagte Pascha zu dem Typen links. Er dachte, ob er ihm die Hand reichen und sich vorstellen solle, doch war der Tonfall, in dem die beiden mit ihm sprachen, nicht gerade ermutigend.
„Nein“, sagte er, „ich habe nichts gehört, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.“
„Du bist ja heftig, Mann“, sagte Pjotr und holte hörbar Luft.
„Ich?“, fragte Pascha verwundert.
„Kapierst du nicht, dass auf dieser Ebene der Transaktionsisolation …“, begann der Zweite, doch Pjotr unterbrach ihn, indem er seinem Kumpel die Hand auf die Schulter legte, als gäbe es dort einen Knopf zu drücken …
Woraufhin die beiden gut eine Minute lang schwiegen und dann von Pascha in der dritten Person zu sprechen begannen, als wäre er gar nicht mehr anwesend: „Er hat alles mitgehört.“ – „Er behauptet aber das Gegenteil.“ – „Glaubst du ihm?“
„Entschuldigen Sie“, sagte Pascha, „aber ich muss an der nächsten raus. Wiedersehen!“
„Hast du das mit dem Plan gehört?“
„Nun regen Sie sich doch nicht wegen so einer Lappalie auf, zumal ich wirklich nichts gehört habe. Ich habe geschlafen, sozusagen, geträumt … von der wunderbaren Schulzeit … Und das wünsche ich Ihnen auch.“
Mit diesen Worten stand er auf und bewegte sich in Richtung Waggontür, doch in diesem Moment kam aus dem Lautsprecher eine weitere Durchsage. Pascha verstand nichts, kehrte aber dennoch zurück und ratterte mechanisch, zu seiner eigenen Überraschung, wobei er mit Befriedigung feststellte, dass die Augenbrauen der beiden Typen immer weiter nach oben wanderten: „Wissen Sie, was die da durchsagen? 'Träum süß, im Bettchen geborgen, vom Esel am Abend, vom Böcklein am Morgen, schlaf tief und fest und ohne Sorgen!'“
Daraufhin ging Pascha wieder zum Ausgang.
Aus dem Russischen von David Drevs