Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 27: Max Mohr, Frau ohne Reue (1933)
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
*
Das Buch kann noch im Oktober 1933, lektoriert von Peter Suhrkamp, im S. Fischer Verlag herauskommen, obwohl sein Autor aus einer jüdischen Familie stammt und ein linksliberaler Freigeist ist. Die Geschichte, die Max Mohr in Frau ohne Reue erzählt, entwickelt sich vor der bröckelnden Kulisse der Weimarer Republik. Grassierende Arbeitslosigkeit, bettelnde Kinder auf den Straßen und öffentliche Suppenküchen prägen das Bild Berlins. Doch die braunen Kohorten marschieren noch nicht.
Paul Fenn, ein Professor, der einst in den USA gelehrt hat, nun jedoch ohne Arbeit dasteht, möchte sich als „journalistischer Landstreicher“ durchschlagen und hat eine Korrespondentenstelle in China in Aussicht. Dafür muss er bei einem Bankier in Halensee vorsprechen, der mit seinen Millionen eine Zeitung finanziert. Dieser ist der Ehemann von Lina Gade. Statt jedoch mit einem Arbeitsvertrag verlässt Fenn die Villa gemeinsam mit der Gattin des Hausherrn. Denn Lina will ausbrechen. Gefangen in der Leere ihres bürgerlichen Daseins als Ehefrau und Mutter, fühlt sie sich leblos: „Sie lebte schlafend, schleppte sich immer weiter dahin in dieser toten Ehe, nur weil sie nicht wusste, was sonst.“ Linas Gatte, ein vermögender, rücksichtsvoller Mann, gehört zu denen, die ihre Frau liebevoll „mein liebes Kind“ nennen. Das Leben in ihrem großen Haus verläuft „wie in Watte gepackt und auf die Minute.“ Gerade deshalb sehnt sie sich nach einer Gelegenheit zu entkommen.
Es beginnt eine Liebe auf der Flucht, die das Paar über London, San Francisco und Hongkong bis nach Tokio führt. Nach einem Jahr „voller Seligkeit“ sind der „Gentlemantramp“ und seine Freundin jedoch pleite. Auf einem Fischdampfer namens „Rossini“, der sie nach Europa zurückbringt, lassen sich Lina und Paul trauen. Zurück in Berlin entführen die frisch Verheirateten Linas Tochter und fahren mit ihr nach Tirol. Dort, in einem abgelegenen Almhof auf 1.500 Metern Höhe, den Lina von ihrem Erbe erworben hat, wollen sie sich niederlassen und ein neues Leben beginnen. Doch die Pläne scheitern, und auch die Natur selbst stellt sich als unversöhnlich heraus.
In seinem Roman schildert Max Mohr die Suche einer Frau nach Liebe, Freiheit und Selbstständigkeit in einer Zeit, in der die weibliche Emanzipation weder gesellschaftlich anerkannt noch fest verankert war. Mohrs unerschrockene Protagonistin schlägt einen für ihre Epoche außergewöhnlichen Weg ein und folgt dem Drang, ihr Leben selbst zu gestalten. Lina Gade verkörpert das selbstbewusste Rollenbild der „Neuen Frau“ der Zwanzigerjahre. Dabei gerät ihr Streben nach Selbstverwirklichung immer wieder in Konflikt mit dem Verantwortungsgefühl gegenüber ihrem Kind. Mit großer Empathie für die innere Zerrissenheit seiner Protagonistin schildert Max Mohr ihren inneren Kampf. Dabei erzählt er in einem spöttischen Parlando, das zugleich amüsant und unterhaltend ist, wobei immer wieder prägnante Sprachbilder und treffende Aphorismen hervorstechen.
Max Mohr wird 1891 in Würzburg geboren. Er ist Arzt, Autor, Orientreisender und Alpinist, geprägt von Freiheitsdrang und einer tiefen Sehnsucht nach Heimat. Nach seiner Kriegsgefangenschaft praktiziert er zunächst in München, zieht jedoch bald mit seiner Frau auf einen abgelegenen Hof in der Nähe des Tegernsees, den Löblhof, ein kleines Anwesen in der Wolfsgrub bei Rottach. Dort lernt er den englischen Schriftsteller D. H. Lawrence kennen, den Autor des skandalumwitterten Romans Lady Chatterley’s Lover, und freundet sich mit ihm an. Die Abgeschiedenheit der Wolfsgrub bietet Mohr die nötige Zeit und den Raum zum Schreiben. Gleichzeitig zieht es ihn immer wieder in das pulsierende Berlin, wo er sich neue Inspirationen und Einnahmequellen erhofft. Das Berlin der späten 1920er-Jahre bildet auch den Schauplatz vieler seiner gesellschaftskritischen Romane.
In den 1920er-Jahren zählt Mohr zu den erfolgreichsten Dramatikern Deutschlands. Die großen Bühnen reißen sich um seine Stücke, und sein Drama Ramper wird 1927 unter der Regie von Curt Braun in einer stummen Version verfilmt, wobei der Leinwandstar Heinrich George die Hauptrolle übernimmt. Hörspielfassungen seiner Werke werden in London und New York gesendet.
Doch 1934 findet er sich in einer schwierigen Situation wieder: Während seine Romane nicht den Erfolg seiner Theaterstücke wiederholen, werden die finanziellen Mittel knapp, und aufgrund seiner jüdischen Herkunft kann er in Deutschland nicht mehr als Arzt arbeiten. So entschließt er sich, als einer der ersten deutschen Emigranten, nach Shanghai auszuwandern. Seine Frau Käthe und seine achtjährige Tochter lässt er in der Wolfsgrub zurück. In Shanghai nimmt er seine Tätigkeit als Arzt wieder auf und behandelt unter anderem die Schriftstellerin Vicki Baum. Drei Jahre später, im Alter von 46 Jahren, erliegt Max Mohr einem Herzversagen.
Max Mohr: Frau ohne Reue. Roman. Mit einer biografischen Skizze von Roland Flade und einem Nachwort von Stefan Weidle. Weidle Verlag, Bonn 2019
Lesen Sie nächste Woche, welche Wiener Autorin ein Kabarett gründete und darüber einen viel beachteten Roman schrieb.
Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 27: Max Mohr, Frau ohne Reue (1933)>
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
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Das Buch kann noch im Oktober 1933, lektoriert von Peter Suhrkamp, im S. Fischer Verlag herauskommen, obwohl sein Autor aus einer jüdischen Familie stammt und ein linksliberaler Freigeist ist. Die Geschichte, die Max Mohr in Frau ohne Reue erzählt, entwickelt sich vor der bröckelnden Kulisse der Weimarer Republik. Grassierende Arbeitslosigkeit, bettelnde Kinder auf den Straßen und öffentliche Suppenküchen prägen das Bild Berlins. Doch die braunen Kohorten marschieren noch nicht.
Paul Fenn, ein Professor, der einst in den USA gelehrt hat, nun jedoch ohne Arbeit dasteht, möchte sich als „journalistischer Landstreicher“ durchschlagen und hat eine Korrespondentenstelle in China in Aussicht. Dafür muss er bei einem Bankier in Halensee vorsprechen, der mit seinen Millionen eine Zeitung finanziert. Dieser ist der Ehemann von Lina Gade. Statt jedoch mit einem Arbeitsvertrag verlässt Fenn die Villa gemeinsam mit der Gattin des Hausherrn. Denn Lina will ausbrechen. Gefangen in der Leere ihres bürgerlichen Daseins als Ehefrau und Mutter, fühlt sie sich leblos: „Sie lebte schlafend, schleppte sich immer weiter dahin in dieser toten Ehe, nur weil sie nicht wusste, was sonst.“ Linas Gatte, ein vermögender, rücksichtsvoller Mann, gehört zu denen, die ihre Frau liebevoll „mein liebes Kind“ nennen. Das Leben in ihrem großen Haus verläuft „wie in Watte gepackt und auf die Minute.“ Gerade deshalb sehnt sie sich nach einer Gelegenheit zu entkommen.
Es beginnt eine Liebe auf der Flucht, die das Paar über London, San Francisco und Hongkong bis nach Tokio führt. Nach einem Jahr „voller Seligkeit“ sind der „Gentlemantramp“ und seine Freundin jedoch pleite. Auf einem Fischdampfer namens „Rossini“, der sie nach Europa zurückbringt, lassen sich Lina und Paul trauen. Zurück in Berlin entführen die frisch Verheirateten Linas Tochter und fahren mit ihr nach Tirol. Dort, in einem abgelegenen Almhof auf 1.500 Metern Höhe, den Lina von ihrem Erbe erworben hat, wollen sie sich niederlassen und ein neues Leben beginnen. Doch die Pläne scheitern, und auch die Natur selbst stellt sich als unversöhnlich heraus.
In seinem Roman schildert Max Mohr die Suche einer Frau nach Liebe, Freiheit und Selbstständigkeit in einer Zeit, in der die weibliche Emanzipation weder gesellschaftlich anerkannt noch fest verankert war. Mohrs unerschrockene Protagonistin schlägt einen für ihre Epoche außergewöhnlichen Weg ein und folgt dem Drang, ihr Leben selbst zu gestalten. Lina Gade verkörpert das selbstbewusste Rollenbild der „Neuen Frau“ der Zwanzigerjahre. Dabei gerät ihr Streben nach Selbstverwirklichung immer wieder in Konflikt mit dem Verantwortungsgefühl gegenüber ihrem Kind. Mit großer Empathie für die innere Zerrissenheit seiner Protagonistin schildert Max Mohr ihren inneren Kampf. Dabei erzählt er in einem spöttischen Parlando, das zugleich amüsant und unterhaltend ist, wobei immer wieder prägnante Sprachbilder und treffende Aphorismen hervorstechen.
Max Mohr wird 1891 in Würzburg geboren. Er ist Arzt, Autor, Orientreisender und Alpinist, geprägt von Freiheitsdrang und einer tiefen Sehnsucht nach Heimat. Nach seiner Kriegsgefangenschaft praktiziert er zunächst in München, zieht jedoch bald mit seiner Frau auf einen abgelegenen Hof in der Nähe des Tegernsees, den Löblhof, ein kleines Anwesen in der Wolfsgrub bei Rottach. Dort lernt er den englischen Schriftsteller D. H. Lawrence kennen, den Autor des skandalumwitterten Romans Lady Chatterley’s Lover, und freundet sich mit ihm an. Die Abgeschiedenheit der Wolfsgrub bietet Mohr die nötige Zeit und den Raum zum Schreiben. Gleichzeitig zieht es ihn immer wieder in das pulsierende Berlin, wo er sich neue Inspirationen und Einnahmequellen erhofft. Das Berlin der späten 1920er-Jahre bildet auch den Schauplatz vieler seiner gesellschaftskritischen Romane.
In den 1920er-Jahren zählt Mohr zu den erfolgreichsten Dramatikern Deutschlands. Die großen Bühnen reißen sich um seine Stücke, und sein Drama Ramper wird 1927 unter der Regie von Curt Braun in einer stummen Version verfilmt, wobei der Leinwandstar Heinrich George die Hauptrolle übernimmt. Hörspielfassungen seiner Werke werden in London und New York gesendet.
Doch 1934 findet er sich in einer schwierigen Situation wieder: Während seine Romane nicht den Erfolg seiner Theaterstücke wiederholen, werden die finanziellen Mittel knapp, und aufgrund seiner jüdischen Herkunft kann er in Deutschland nicht mehr als Arzt arbeiten. So entschließt er sich, als einer der ersten deutschen Emigranten, nach Shanghai auszuwandern. Seine Frau Käthe und seine achtjährige Tochter lässt er in der Wolfsgrub zurück. In Shanghai nimmt er seine Tätigkeit als Arzt wieder auf und behandelt unter anderem die Schriftstellerin Vicki Baum. Drei Jahre später, im Alter von 46 Jahren, erliegt Max Mohr einem Herzversagen.
Max Mohr: Frau ohne Reue. Roman. Mit einer biografischen Skizze von Roland Flade und einem Nachwort von Stefan Weidle. Weidle Verlag, Bonn 2019
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