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Revue der Neuerscheinungen mit Volker Braun, Shida Bazyar und Jo Lendle beim 41. Erlanger Poetenfest

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Literatur aktuell: Antje Rávik Strubel beim Erlanger Poetenfest – Foto: Erich Malter, 2021. Lesung und Gespräch mit Maike Albath, Stadtmuseum Innenhof

Am Abend des 29. Augusts endete das 41. Erlanger Poetenfest, das zum zweiten Mal nicht als Großereignis im Erlanger Schlossgarten, sondern in über 140 über das ganze Stadtgebiet verteilten Einzelveranstaltungen für ein begrenztes Publikum organisiert wurde, und damit auch eine der beliebten Veranstaltungsreihen des Festivals: die Revue der Neuerscheinungen. Alljährlich werden dort neue Werke der deutschsprachigen Literaturlandschaft präsentiert, die die Autor*innen vortragen und im Einzelgespräch mit den Moderator*innen vertiefen. Unter den diesjährigen Literaturschaffenden befanden sich: Shida Bazyar, Nava Ebrahimi, Jenny Erpenbeck, Dana Grigorcea, Joshua Groß, Monika Helfer, Michael Köhlmeier, Jo Lendle, Sharon Dodua Otoo, Sasha Marianna Salzmann, Mithu Sanyal, Ferdinand Schmalz, Elke Schmitter, Nadine Schneider und Antje Rávik Strubel.

Der besondere Reiz der Veranstaltungsreihe ergibt sich für die Festivalgäste insbesondere dann, wenn sie mehrere Veranstaltungen an einem Stück besuchen. Denn nur so können sie quer durch die deutschsprachige Literaturlandschaft wandern und diese für sich erschließen. Am vergangenen Samstag traf man im Erlanger Stadtmuseum auf den aus Sachsen stammenden, 81-jährigen Dichter und Dramatiker Volker Braun mit seinem nachdenklichen Gedichtband Große Fuge. Aber auch Shida Bazyar fand sich ein, Tochter zweier iranischer Widerstandskämpfer, deren zweiter Roman Drei Kameradinnen auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises steht. Den Nachmittag rundete der Schriftsteller und Verleger Jo Lendle mit seinem Roman Eine Art Familie ab, einem norddeutschen Familienroman über seine eigene Familie und deren NS-Vergangenheit. Die drei Autor*innen hätten unterschiedlicher nicht sein können.

Volker Braun (l.) beim Erlanger Poetenfest – Foto: Erich Malter, 2021. Lesung und Gespräch mit Michael Braun, Stadtmuseum Innenhof

Volker Braun, gewissermaßen eine Herausforderung für jedes politische System – sei es die DDR oder die Bundesrepublik – hat mit seinem Werk Große Fuge (Suhrkamp), angelehnt an Beethovens Fuge, ein Buch über eine verstörte Gesellschaft geschaffen. In den Gedichten bezieht sich er auf die aktuelle Pandemie, langjährige Freundschaften, aber auch auf die Vergänglichkeit des menschlichen Körpers. Das Weltende sei allerdings nicht sein Gegenstand, denn Dinge gingen nun einmal zu Ende, so Braun.

Shida Bazyar beim Erlanger Poetenfest – Foto: Simone Voggenreiter, 2021. Lesung und Gespräch mit Dirk Kruse, Bürgertreff Die Villa

Ein völlig anderes poetisches Terrain betrat Shida Bazyar in ihrer modernen Publikumsanklage Drei Kameradinnen (Kiepenheuer & Witsch), welche die deutsche Leserschaft auf produktive Art und Weise provoziert und durch den Alltag dreier Migrantinnen führt. Und auch dem Erlanger Publikum blieb oft ein zweideutiges Lachen über sich selbst im Halse stecken, während Shida Bazyar ihren Text las. Es geht ihr explizit darum, eine Erzählerin zu schaffen, die sich einiges herausnimmt, im weiteren Sinne um Frauen, die etwas zu sagen haben, und nicht um Powerfrauen. Es geht ihr aber auch darum, wer was erzählen darf und was der*die Leser*in lesen will. Die studierte Kulturwissenschaftlerin aus Hildesheim kommt übrigens aus einer Familie, die Geschichtenerzählen ritualisiert hat und sich immer wieder von Neuem Geschichten erzählt.

Jo Lendle (l.) beim Erlanger Poetenfest – Foto: Erich Malter, 2021. Lesung und Gespräch mit Dirk Kruse, Stadtmuseum Innenhof

So auch die Familie Jo Lendles, der ebenfalls in Hildesheim Kulturjournalismus sowie Kreatives Schreiben studierte. Der Verleger und Autor vermischt gerne Welten, nicht nur beruflich. In seinem Familienroman Eine Art Familie (Penguin) kommen an die 160 Charaktere vor, die Hälfte davon erfunden. Darin beschreibt er deutschen Geist und Selbstüberhöhung, das protestantische Ringen mit sich selbst, die frühen Stunden des Nationalsozialismus, das Tagebuch des Großvaters, welches nach dessen Tod eigentlich verbrannt hätte werden sollen, aber auch die moderne Schlafforschung sowie historische Perioden des Übergangs. Diese gehören unweigerlich zur deutschen Literaturlandschaft dazu.

Und so war sich am Ende nicht einmal Volker Braun mehr sicher, ob der über seiner Lesung schwirrende Hubschrauber nun die „Stasi“ oder der Verfassungsschutz gewesen sei. Die Anwesenden verbrachten insgesamt einen ästhetisch kurzweiligen und anregenden Nachmittag, der auch nicht durch die coronabedingte Begrenzung der Platzwahl und das herbstliche Wetter getrübt zu sein schien.