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27.01.2023, 10:32 Uhr
Michaela Meßner
Literarische Notizen aus Québec
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„Le moment fugitif“

Meine Projekte. Bericht aus Québec (2)

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Maison de la littérature, Québec. Alle Bilder © Michael Meßner

Im Rahmen der seit 1989 bestehenden Partnerschaft zwischen Bayern und Québec vergibt der Freistaat Bayern jedes Jahr ein Aufenthaltsstipendium für Schriftsteller*innen, Comic/Graphic Novel-Künstler*innen sowie literarische Übersetzer*innen. Die bayerische Stipendiatin bzw. den bayerischen Stipendiaten erwartet ein Aufenthalt von Mitte September bis Mitte November in der kanadischen Stadt Québec, bekannt für ihre dynamische Kreativ- und Literaturszene. Für einen Aufenthalt im Jahr 2022 wurde die Münchner Übersetzerin Michaela Meßner ausgewähltIm Literaturportal Bayern berichtet sie darüber in sechs Folgen. Alle Folgen finden Sie HIER.

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Durch die pandemiebedingte Verzögerung war mein Ursprungsprojekt bereits in einer Phase, in der ich nur noch auf die Druckfahnen warten konnte. Angereist war ich mit zwei neuen Romanübersetzungsprojekten in unterschiedlichen Stadien. Am 30. September gab es einen kleinen Umtrunk im Literaturhaus, zu dem die Vertretung der Regierung Bayerns in Québec sowie die Stipendiaten der letzten Jahre geladen waren. Dominique Lemieux vom ICQ war auch anwesend, und ich durfte auf der Bühne neben den Landesflaggen von Bayern und Québec kurz meine Arbeit vorstellen und aus einer meiner Übersetzungen lesen. Dort lernte ich auch die Stipendiatin Valérie Forgues kennen, die wenige Tage später nach Bayern aufbrechen sollte.

Die Wohnung im Stadtviertel Saint-Jean Baptiste, die man für mich angemietet hatte, war sehr schön, doch alleine dort hocken und arbeiten wollte ich nicht – und so fand ich bald zwei ideale Arbeitsstätten, beide mit schnellem WLAN ausgestattet: zum einen die Cabinets d'écriture im Literaturhaus, ruhige, helle Räume, in denen man sich bestens konzentrieren kann, sowie die kleine feine Bibliothèque Claire Martin, ebenfalls in einer ehemaligen Kirche untergebracht. Jede Québecer Bibliothek verfügt über einen allen zugänglichen Tisch mit einem 1000-Teile-Puzzle, bei dem man sein Hirn mal kurz auf Pause schalten und entspannen kann. An diesen beiden Orten konnte ich wunderbar arbeiten.

 

Links: Maison de la littérature – Saal. Mitte: Cabinets d'écriture. Rechts: Puzzletisch

Auf diesem Tisch wurden meine Lektüreempfehlungen ausgestellt. Es fehlen die bereits ausgeliehenen Werke: T. Coraghessan Boyle: Musique d’eau; Sten Nadolny: La découverte de la lenteur; Philippe Djian: 37°2 le matin; Kobo Abe: La femme des sables; Gerbrand Bakker: Là-haut, tout est calme; Uwe Timm: La Découverte de la saucisse au curry – der Uwe Timm war offenbar gleich als erstes weg ...

 

Links: Bibliothèque Claire-Martin. Rechts: La liseuse, Bronzeskulptur von Rose-Aimée Bélanger

Die Übersetzung von Die Postkarte von Anne Berest war ein sehr eiliges Projekt in der Endphase, das zu Anfang meines Aufenthalts fertiggestellt und mit einer Online-Besprechung zwischen Berlin, Québec und Turin glücklich abgeschlossen wurde. Herrlich, was seit Corona alles möglich ist, wir mussten uns nur auf eine Zeit einigen, zu der ich schon wach und die anderen noch einsatzfähig waren. Mein zweites Übersetzungsprojekt war Der Magier im Kreml von Giuliano da Empoli. Die beiden Texte zogen mich in ein jeweils ganz eigenes Universum hinein, doch beim Übersetzen im Kopf ganz woanders zu sein, darin hatte ich ja nun schon jahrzehntelange Übung. Meine unbändige Neugierde auf diesen neuen Ort kam mir manchmal ein wenig in die Quere. Ich war physisch in der Fremde und im Kopf in wieder einer anderen Welt – das fühlte sich manchmal etwas ortlos an. In Québec wollte ich neben dem Flanieren und Schauen und Staunen vor allem auch viel lesen, und zwar so viele Québequer Autoren wie nur irgend möglich. Futter fand ich in den Bibliotheken und Buchläden mehr als genug ...

Ich fühlte mich in dieser Stadt nie allein und, selbst wenn ich nachts unterwegs war, nie bedroht. Und was mich in Québec von Anfang an erstaunt hat, war die unglaubliche Rücksichtnahme und Freundlichkeit der Menschen, egal ob beim Schlangestehen im Supermarkt oder im Straßenverkehr. Die Welt der Schubser und Drängler war plötzlich sehr weit weg. Als ich einmal frühmorgens den Bus nahm, beobachtete ich voll stiller Begeisterung, dass die Busfahrerin nicht nur jedes einzelne Schulkind, sondern überhaupt jeden einzelnen Fahrgast mit einem freundlich geschmetterten „Bonjour“ begrüßte.

Fasziniert war ich auch vom Bénévolat, der Freiwilligenarbeit, die als eine Art Bürgerpflicht begriffen wird – sie umfasst nicht nur den sozialen Bereich der Gesellschaft, sondern noch viele weitere, darunter auch die Kultur. Ohne die aktive Beteiligung all der vielen Freiwilligen wäre eine Veranstaltung wie das Literaturfestival deutlich schwerer zu stemmen gewesen. Es meldeten sich Helfer aus allen Berufssparten, vorwiegend mit dem Motiv, den direkten Kontakt zu Künstler*innen und Autor*innen zu suchen. Sehr sympathisch.

Avenue Cartier – beste Eisdiele ever. Meine Empfehlung: une trempée: Crème glacée in Schokolade getaucht. Der ältere Herr, der hier so genüsslich ein Eis isst, lief mit mir durch die ganze Stadt, ohne dass wir je ein Wort gewechselt hätten. Er war sehr viel langsamer, aber ich musste ja immer wieder stehenbleiben und fotografieren, so dass wir immer genau gleich schnell waren – und Ampeln waren für ihn im Wesentlichen Staffage ;-)

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Michaela Meßner hat Romanistik und Ethnologie in Mainz und München studiert und arbeitet seit 1990 als freie Übersetzerin. 1993 wurde sie mit dem Raymond-Aron-Preis ausgezeichnet. 2017 nahm sie im Magisterstudiengang Literarisches Übersetzen einen Lehrauftrag an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität wahr. Sie hat bislang rund 60 Titel aus dem Französischen, Spanischen, Englischen und Lateinischen übersetzt, darunter Klassiker wie Emily Brontës Wuthering Heights, Alexandre Dumas‘ La Dame aux camélias oder Les Trois Mousquetaires sowie Sachbuchtitel, Monographien, Unterhaltungsliteratur oder Anthologien zur spanischen, lateinamerikanischen oder kubanischen Literatur. 2017 erhielt sie das Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern für ihre Erstübersetzung des Romans Désorientale der französischen Autorin Négar Djavadi.