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13.02.2023, 11:50 Uhr
Michaela Meßner
Literarische Notizen aus Québec
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„Le moment fugitif“

Das Literaturfestival. Bericht aus Québec (4)

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Ceci n’est pas une pub – Das ist keine Werbung. Alle Bilder © Michael Meßner

Im Rahmen der seit 1989 bestehenden Partnerschaft zwischen Bayern und Québec vergibt der Freistaat Bayern jedes Jahr ein Aufenthaltsstipendium für Schriftsteller*innen, Comic/Graphic Novel-Künstler*innen sowie literarische Übersetzer*innen. Die bayerische Stipendiatin bzw. den bayerischen Stipendiaten erwartet ein Aufenthalt von Mitte September bis Mitte November in der kanadischen Stadt Québec, bekannt für ihre dynamische Kreativ- und Literaturszene. Für einen Aufenthalt im Jahr 2022 wurde die Münchner Übersetzerin Michaela Meßner ausgewähltIm Literaturportal Bayern berichtet sie darüber in sechs Folgen. Alle Folgen finden Sie HIER.

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Und dann nahte das große Event, dem im Literaturhaus alle entgegenfieberten: Das 13. Literaturfestival der Stadt Québec, das vom ICQ in Zusammenarbeit mit der Maison de la littérature veranstaltet wird, stand in diesem Jahr unter dem Motto „ton chemin, mon chemin se métissent“, nach einem Vers aus der Gedichtsammlung J'ai un arbre dans ma pirogue des haitianischen Autors Rodney Saint-Éloi. „Dein Weg, mein Weg, kreuzen sich“ – im Sinne einer befruchtenden Begegnung, der Vereinigung fremder künstlerischer Welten. Das Festival war von einer ungeheuren Vielfalt und Buntheit und nahm buchstäblich die ganze Stadt ein. Über die Straßenzüge waren riesige Transparente mit Zitaten gespannt, auf ausgewählten Plätzen wurden über Lautsprecher Gedichte vorgelesen, und in einigen Straßen standen sprechende Holzkuben mit Rundfenstern, in die man sich setzen und Texten von Jean Désy, Karoline Georges und Andrée Levesque Sioui lauschen konnte.

Abends begleitete die Lyrikerin Vanessa Bell eine kleine Gruppe auf einer poetischen Reise anhand traumhafter Bilder und Gedichte von der östlichen Nouvelle-Écosse bis nach Terre-Neuve. Tagsüber fuhren Briefträgerinnen im historischen Kostüm mit dem Fahrrad durch die Stadt und warfen Gedichte in Briefkästen. Wer sich den Tag mit Lyrik versüßen lassen wollte, konnte sich etwas vorlesen lassen. Leider bin ich ihnen nie begegnet.

In dem runden Vortragssaal im Untergeschoss des Literaturhauses erstellte eine an Jahrmarktinstallationen erinnernde interaktive Kartenlegemaschine ein einzigartiges literarisches Orakel mit Texten von Autoren der Éditions Alto. Die vom Théâtre à corps perdu konzipierte „Poesie-Sprechstunde“ fand ich besonders berührend – Rx: contes-gouttes (Erzählungstropfen), ein Wortspiel mit dem compte-gouttes, dem Tropf. Kurze Texte, die wie Balsam für die Seele wirken. Man konnte einen Schauspieler „buchen“, dem man in einem Poesie-Sprechzimmer mit Behandlungsliege begegnete. Nach der Beantwortung bestimmter Fragen bekam man zeitgenössische fabelartige Geschichten in maßgeschneiderter Dosierung verschrieben und sofort verabreicht, wurde eingeladen zu einem Moment der Selbstreflexion, angesiedelt zwischen Spiel und Träumerei. Ich wurde vom Schauspieler Pascal Contamine „behandelt“ – und war für Stunden euphorisiert. Corinne vom Festivalteam ging es genauso. Sehr zu empfehlen!

Um die örtlichen Buchhandlungen nicht nur auf ihre Büchertischrolle zu reduzieren, fanden in sechs Läden in Québec und Wendake sogenannte „micro-résidences“ statt: Die Autor*innen konnten zwei Stunden lang mit Lesungen, kurzen Performances oder Schreibwerkstätten ihre Leser*innen überraschen. Dann gab es noch La caravane, eine aus Musikern, Bewegungs- und Wortkünstlern bestehende Truppe, die in den Vierteln Limoilou und Saint-Roch mit dem Fahrrad durch die Parks fuhr und dort sehr phantasievolle kostenlose Vorführungen gab.

Links: La Caravane. Rechts: La Caravane – die Truppe.

Den alles umspannenden Rahmen bildeten Großveranstaltungen: eine Performance mit haitianischen Künstler*innen und einer sehr gelungenen szenischen Lesung eines Textes von Rodney Saint-Éloi, eine Lesung queerer Autor*innen, ein skurriles Theaterstück sowie eine Art Dichterwettstreit im Boxring – die letzten beiden haben mein Hörverständnis des Québecois voll an die Grenzen gebracht.

Außerdem waren insgesamt sechs Autor*innen zu anderthalbstündigen Interviews geladen. Die Journalistin und Schriftstellerin Emmelie Prophète, die zur Kulturministerin Haïtis ernannt wurde, Rodney Saint-Éloi, der aus Haiti stammende und in Montréal lebende Québequer Verleger und Schriftsteller, Heather O’Neill, Louis-Karl Picard Sioui, Wendat-Autor und Multitalent (Kitchike), die queere Autorin Fatima Daas aus Frankreich sowie Éliette Abécassis via Live-Schaltung. Die Begegnung mit Fatima Daas fand ich besonders inspirierend, sie hat mir zudem eine schöne Widmung in meine Ausgabe von La petite dernière geschrieben.

 V.l.n.r.: Fenêtre sur Haïti. „Autour du Rose enfer des animaux“ – surrealistisches Techno-Bankett. Accents queers.

Und ganz zum Schluss durfte ich bei einer der vier Podiumsdiskussionen selbst auf die Bühne. Anderthalb Stunden lang ging es um das Thema Übersetzung und Autofiktion, eine Table ronde mit mir und den drei Schriftstellerinnen Denise Desautels, Catherine Mavrikakis und Auður Ava Ólafsdóttir, moderiert von Mélissa Verreault. Als die sehr humorvolle isländische Schriftstellerin über ihre Erfahrungen mit ihren Übersetzerinnen sprach, hatte ich kurz den Wunsch, ich hätte zwei Leben und könnte noch Isländisch lernen, und sei es nur, um ihre Romane zu übersetzen. Aber man kann nun mal nicht alles im Leben.

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Michaela Meßner hat Romanistik und Ethnologie in Mainz und München studiert und arbeitet seit 1990 als freie Übersetzerin. 1993 wurde sie mit dem Raymond-Aron-Preis ausgezeichnet. 2017 nahm sie im Magisterstudiengang Literarisches Übersetzen einen Lehrauftrag an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität wahr. Sie hat bislang rund 60 Titel aus dem Französischen, Spanischen, Englischen und Lateinischen übersetzt, darunter Klassiker wie Emily Brontës Wuthering Heights, Alexandre Dumas‘ La Dame aux camélias oder Les Trois Mousquetaires sowie Sachbuchtitel, Monographien, Unterhaltungsliteratur oder Anthologien zur spanischen, lateinamerikanischen oder kubanischen Literatur. 2017 erhielt sie das Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern für ihre Erstübersetzung des Romans Désorientale der französischen Autorin Négar Djavadi.