Kultur trotz Corona: „Die Vogelsinger“. Von Daniel Bayerstorfer

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Li Bai, Tuschmalerei von Liang Kai (12./13. Jhdt.). Von ihm stammt das Gedicht "Gefühle beim Erwachen aus einem Rausch an einem Frühlingstag", aus dem folgende Verszeile für "Die Vogelsinger" entnommen ist: "Qū jìnyǐ wàngqíng" (Das Lied ist aus, ich lass mich gehen).

Daniel Bayerstorfer (* 1989 in Gräfelfing bei München) ist Organisator der Münchner Lesereihe meine drei lyrischen ichs sowie des Festivals „Großer Tag der Jungen Münchner Literatur“. Als Übersetzer überträgt er u.a. die chinesischen Lyriker Han Bo und Jiang Tao ins Deutsche, zudem unterrichtet er Kreatives Schreiben für Schülerinnen und Schüler am Literaturhaus München. Sein erster Gedichtband Gegenklaviere erschien 2017, 2018 folgte sein zweiter unter dem Titel Die Erfindung des Rußn in Zusammenarbeit mit Tobias Roth. Für sein Lyrikprojekt „Neulich starb Antigone“ erhielt Daniel Bayerstorfer 2021 das Literaturstipendium der Stadt München. Er lebt und arbeitet in München. 

Mit dem folgenden unveröffentlichten Gedichtzyklus beteiligt sich Daniel Bayerstorfer an der Fortsetzung von Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

*

Die Vogelsinger

 

1

Die linke Hand zappelt nicht, sie ist in dieser
Liszt-Passage gefangen, die sie ständig wiederholt,
wie ein von Beute träumendes, strampelndes Tier.
Das Gesicht dagegen, begraben im Salz des Südwinds,
das aus dem Meer gebrochen, in sehr geringen, doch
grimmigen Dosen reiste, reicht vom Ozean bis zur
Zementwand der Psalmen und Popsongs.
Meine Bonsais sind mir alle eingegangen,
war keine Absicht, aber den letzten hab ich erwürgt
und dabei an diese schöne und einschüchternde
Sicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau gedacht,
vom Thunersee aus, wie still, kalt und bedrohlich sie auf
Menschen warten, die sie erklettern und an das
Wetter, das sich dann gierig auf sie schmeißt. Und dabei
ist keiner der Toten ihren Mineralien, ihrem
helvetischen Kalkstein natürlich ein Begriff. Sie wachsen
keine 2 mm pro Jahr, die drei, aber gemeinsam mit den
Zähnen meiner Tochter im Schlaf. Das Brustbein der
Wälder ist, ich  sag’s mal so: Am Bersten und unter
uns: Den Vögeln schab ich mit einem Messer
(ganz vorsichtig) ihre Schatten vom Leib.

 

2

Der Tag als die Fischer die Makrelen aus dem Vokabular zogen,
neigte sich dem Ende zu und wich dem schwarzen Wasser, in
die die Galaxis ihren Ellenbogen rammte. Gesalzene Sternenmilch,
die man im Meer nicht sah. Und dann vom Algenteppich penibel

gesondert die Begriffe, länger in den Wellen als Blut, Öl, Pottwal-
sperma oder Tinte. Als die Luft in den Lungen an Bord der
sinkenden Titanic. Olympic hieß ihr baugleiches Schwesterschiff
und wie ihre Namensgeber ging die eine in den Orkus und die

andere durfte noch ein wenig tuckern, weiter oben. Also Obacht.
Hartnäckig haftet der Eichenprozessionsspinner an der Eiche, und
eine Burg ist ganz schnell eingespeichelt von Gespenster-Motten,
aufgestiegen aus den Reben am Rhein. Abwesenheit kann Winter

bedeuten, und Dasein Timeline. Käferhirsche schlafen in den
Bäumen. Und die Käferkitze ducken sich ängstlich an der
Zimmerdecke. Das Prinzip ist klar. Der Tümpelgrund diesig
und duster. Nebel hängt im Schilf, da schieben sich barocke

Bühnenbüsche von der Seite ins Bild, fette Buckelwolken
bebauschen die Ecke und von der Decke (?) senkt sich schau-
kelnd ein Händel-Sänger, aufgebrezelt und immens gefiedert,
herab. Die Welt ist ein Moschusbock und winkt mit ihren Fühlern,
zieht den Vorhang zu. Gewittermaschinen rumpeln und bumpern.

 

3

Ich habe die Singvögel in einem kleinen Erdhügel
begraben, die spektakulären Käfer, Mäuse und die
Fische aus meinem Aquarium, die am Morgen an
der Wasseroberfläche trieben, von den anderen Fischen
beknabbert und zerfetzt, während ich daneben
schlief. Der Wunsch einen Friedhof im eigenen
Garten zu haben, und damit ein matschiges Portal
zu gegenüberliegenden Küsten des Lichts (Lukrez),
lass uns darüber reden. Oder lieber nicht.

Wie die beiden in der Bar bei Sonnenaufgang, wenn
sie einmal während dem Besäufnis unter dem
Heliumball hindurchgetaucht sind, einmal auf dem
Kopf standen und wieder am Ausgangspunkt
und doch dem gleichen Ecktisch saßen, als sie
mit den Zeigefingern ihre Wimpernkrümmung
beschrieben. Sie sagen sich ein Wort und warten,
bis es sich im Gegenüber formt, verändert und
verschwindet.

Sie sind sich gegenseitig eine Mastaba. Ein Bett
aus Gras, Milch und Enzian. Getrocknet wie
Alpine Sagen, wo der Teufel in der Scheune zundert,
den Finger auf die Lippen drückt und türmt.

 

4.

Wer hat das Shaolin-Kloster angezündet? Und wer
hat mich aufgehoben in 鳳凰, der vom Fluss ver-
doppelten Stadt, und mich auf den lehmigen Fuß-
boden gelegt, unter die Feuerstelle und die langsam
schaukelnden Pfannen. Draußen knatterte die
Plane, die tausende und abertausend Schnecken,
grau und erdig, schützte, vielleicht vor der Sonne,
damit das Weichtierfleisch nicht trocknet oder
ich hab ja keine Ahnung. Die nächste Gasse war
mir von einer heftigen Zikade in der Brust verstellt
und damit der Zugang zu den weiten, strauchigen
Hügeln. Und meine Ahnungslosigkeit mündete in
den Tag, den die wild gewachsenen Mauern
begrenzten. Das Tal, mein Mund und die Straßen:
Lücken, die ein Name riss.

 

5.

Warum hat man die Hauptstadt in den Norden verlegt?
Obwohl die Grenze so nah war und konkret wie die
Fasane aus dem Elften Jahrhundert, in schwarzen
Kiefern, die aus der Tiefe der Wände knorrig
in die Gemälde wuchsen. Ich konnte die Namen der
Maler nicht lesen, die roten Stempel nicht und die
bräunliche Schwebe des Papiers nicht durchblicken.

Hinter der Sprache legten die Eunuchen ihre Ohren
an die Zeichen. Verhielten sich still und wagten
kaum, zu atmen.

Ng Mui, Meisterin des wing chun, war eine frühe
Pina Bausch der Martial Arts. Der Mozart der
Muskelkontraktionen. (詠春 yǒngchūn, der Frühling
sang: Komm lieber Mai... lass mich betrunken sein.
           曲盡已忘情 Qū jìnyǐ wàngqíng:
Das Lied ist aus, ich lass mich gehen)

Rote Himmelslaternen steigen über dem Teich und in ihm
sinken blutige Organe.