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Kultur trotz Corona: Aus dem Kino-Gedichtzyklus „Breitwand“. Von Thomas Kraft

Thomas Kraft (*1959 in Bamberg), promovierter Germanist, war zwischen 1996 und 1999 Programmleiter des Münchner Literaturhauses. Heute arbeitet er als Autor, Herausgeber, Literaturkritiker und Organisator kultureller Veranstaltungen. Er hat mehrere Bücher verfasst, u.a. zum Thema Franken, zu Autoren wie Robert Musil, Jakob Wassermann, Oskar Maria Graf und Michael Ende sowie zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Zuletzt sind von ihm die Gedichtbände Jukebox (2016) und gangsters of love (2019) erschienen. Thomas Kraft lebt mit seiner Familie in Herrsching am Ammersee.

Mit den folgenden Kino-Gedichten aus seinem aktuellen Zyklus Breitwand, die an den unbeschwerten Genuss von Filmen auf der großen Kinoleinwand erinnern sollen, beteiligt sich Thomas Kraft an Kultur trotz Corona, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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Breitwand

hellblau

der magische vogel leitet uns
wenn wir durch die nacht gehen
wir werden die welle nicht aufhalten
aber der himmel über paris beschützt uns

ich trage deinen schirm
und sehe dich schweigend an
während das segelboot an uns vorbei fährt

du bist meine königin
ich nur der kleine blaue frosch
der die hand auf deine schulter legen darf

man kann nichts festhalten
alles ist nur augenblick oder
eine geste die sich wiederholt
es gibt kein unschuldiges vergnügen

nicht einmal wenn du catalani singst
das wissen wir jetzt

Jean-Jacques Beineix: Diva (1981)

 

 

50 lire

chaplin und die carabinieri
john wayne und die wochenschau
jean gabin mit gottes segen
dreimal bekreuzigt und nie bezahlt
zelluloid aus rom ein schöner traum

gestillt gevögelt das elend kurz vergessen
im haus an der piazza kommt
das licht aus dem maul des löwen
offene münder doch nie ein kuss
da ist die klingel des pfaffen vor

das geld kommt vom neapolitaner
alles trugbilder des lebens
denn das land ist verflucht
verbrannte erde und
gesprengte häuser
für toto

mit dem losen mundwerk
bleibt die erinnerung
an alfredos augenzwinkern
und die filmküsse aus tausend jahren

Giuseppe Tornatore: Cinema Paradiso (1988)

 

 

John Wayne und Gail Russell in Der schwarze Reiter (1947)

 

schnee in minnesota

es ist diese andere art von schnee
kein sanftes flockengetrissel auf eisblumenwiesen
keine weißpudrigen baumkronen im stadtwald
kein graupeldichter altfirn oben am gletscher

es ist diese andere art von schnee
wie ein nebelschlund verschluckt er dich am ende der straße
kaltlichtig und grauzapfig ein im dunkeln lauernder unhold
er knirscht unter deinen füssen, wenn du die sicherheit verlässt

es ist diese andere art von schnee
in der der cutless ciera seine blutspur zieht
entlang der schwarzen totenpfähle
die die piste nach brainerd säumen

es ist diese andere art von schnee
unter dem violetten himmel durch den die sonne sticht
kaltwüstig und rotfleckig im stummen verharren die idioten
du hast keine fünfzig meter sicht, und irgendeiner sagt immer „No“

Joel Coen: Fargo (1996)

 

 

hagakure

drei schwerter an der roten wand
sushi am fliessband und schon am eingang diese fettschwangere luft
ich glaube nicht dass er herein kommen wird
lieber sitzt er im park und füttert die tauben
aug in aug mit dem hässlichen hund
der den Kopf schief legt und solange schweigt
bis er ihn wegschickt
er
schwarz und schwer ein geist unter geistern
zeitlebens ein gefolgsmann und krieger der selten spricht
höchstens mit raymond dem eisverkäufer und der kleinen pearline
der er das buch schenkt bevor er seinen letzten gang geht
fest entschlossen
denn er hat alles gesehen
was nötig war

Jim Jarmusch: Ghostdog (1999)

 

 

Schnee in Minnesota. Foto 2018

 

beckham

eine stadt
in der die katzen auf drei beinen laufen
jedes winken ein judasgruss ist
und das rufen des muezzins wie ein falsches ostinato
klingt inmitten eines rastlosen geschiebes
dem keiner trauen mag

der mann
ein wilder geselle für ihn ist
jede tüte eine falle
jede ecke ein schussfeld
jeder tag ein spiel
„jala! jala!“ – räum die strasse

der junge
heißt beckham die strandratte
was geht mann
alles fünf dollar alles cool
ein guter junge
bis ihm die drähte aus dem bauch wachsen

der mann
muss noch das blut abwaschen
sein kind ins bett bringen
die platte im kopf auswechseln
alles wird wieder gut rock 'n'roll, baby
fahr los die jagd geht weiter

in einer stadt
in der gelbe drachen am himmel fliegen

Kathryn Bigelow: Tödliches Kommando (2009)

 

 

der weisse himmel

alles wächst empor
die dürrastigen fichten kurz vor der baumgrenze
die speerspitzigen holzlatten am rande des dorfes
das genagelte kreuz auf dem kleinen steinhaufen
die angst unter den dielen

es ist wie jedes jahr
das holz schießt zu tal
das frische blut gebiert die neue saat
der schnee verwischt die spuren
nur der spiegel hat ein gedächtnis

das ist kein ort für dich
speien sie ihm gleich ins gesicht
aber der gast bleibt unbeirrt
legt sich die sporen an
und bricht das fünfte gebot

die racheteufel galoppieren durch die nacht
während die fackeln brennen
und die totenglocke achtmal läutet
eine sagt danke für die weiße braut
aber das tal bleibt nahe am himmel

freiheit
ist ein geschenk
das sich nicht jeder gerne machen lässt

Andreas Prohaska: Das finstere Tal (2014)

 

 

Vernebelte Berglandschaft. Foto 2018

 

Ventilklappe

zart sind deine töne
scheu wie dein blick
beweg dich langsam in mir
als würdest du eine einzelne note spielen

hab keine angst vor dizzy und miles
auch wenn du blut und zähne spuckst

alle warten sie auf den großen auftritt
du kennst das risiko deine letzte chance
ich weiß du wirst dich für die kunst entscheiden
und gegen das leben

Robert Budreau: Born to be blue (2015)