„Der Mensch erwacht hungrig“. Von Zelda Filiat

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© privat

Zelda Filiat wohnt in München und schreibt an ihrem ersten Roman. Unterstützt wird sie dabei von der Bayerischen Akademie des Schreibens als Stipendiatin des Förderprogramms „Die große Tour 2022/2023“. Einige ihrer Texte wurden in Anthologien oder online veröffentlicht. Als Politologin publiziert sie außerdem wissenschaftliche Artikel und Bücher. 

Mit dem folgenden Romanauszug aus Der Mensch erwacht hungrig beteiligt sich Zelda Filiat an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER

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Emanuela, eine gescheiterte Schriftstellerin, hat ihren Berufswunsch schon fast an den Nagel gehängt. Für einen letzten Versuch fährt sie nach Korsika und zeltet auf einem Campingplatz. Vor Ort macht sie die Bekanntschaft von Gästen und Personal, darunter die schöne Bademeister-Tochter Camille, die ihre Muse wird. Was niemand weiß: Seit ihrer Kindheit leidet Emanuela unter Wutanfällen, die sie nur dank der Einnahme von Tabletten im Griff hat. Als die Aussteigerin Sanne ihre Psychopharmaka klaut, dreht sich die Welt für Emanuela um hundertachtzig Grad.

Die Szene im Textauszug setzt ein nach einem Ausflug zum Supermarkt. Emanuela und Sanne trennen sich; Sanne möchte zu Fuß zurück zum Campingplatz gehen und Emanuela möchte den Bus nehmen.

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Ich flüchtete vor der Sonne in den Schatten eines Baumes, von dem in regelmäßigen Abständen geflügelte Käfer auf mich herunterfielen. Die Straße war lang und der Bus nirgends zu sehen. Um einen weiteren Krampf in den Füßen zu vermeiden, aß ich zwei Bananen und wippte von einem Bein aufs andere. Dann tauchte plötzlich eine Gruppe Kinder auf, die sich zügig auf die Bushaltestelle zubewegte. Definitiv keine Fatamorgana, denn dafür waren sie zu laut. Sie schrien und quäkten und traten sich gegenseitig in die Hacken, stolperten vorwärts mit ihren riesigen Rucksäcken, den Kopf gefährlich nah am Asphalt. Es waren zwei Jungs und drei Mädchen, und eins der Mädchen war so dick, dass seine Oberschenkel kaum den Weg aneinander vorbeifanden. Die Kinder riefen sich Sätze zu, fielen einander ins Wort, überboten sich an Lautstärke. Sie sprachen Französisch; trotzdem war mir schnell klar, dass es sich um verbale Attacken auf das dicke Mädchen handelte. Es ist doch interessant, wie viel man versteht, ohne zu verstehen.

„Ey, Sandra! Deine Mutter muss jeden Tag den Supermarkt leerkaufen, um dich satt zu bekommen, oder?“

„Ey, Sandra! Wieso können Dicke nicht in Ruhe am Strand liegen? Weil dann Greenpeace kommt und sie zurück ins Meer schiebt!“

Jedes Mal lachte die Gruppe, und Sandra, die bemitleidenswerte, höchstens achtjährige Sandra, versuchte mitzulachen. Sie verzog das Gesicht und stieß ein paar hilflose, kieksige Töne aus, die sofort im nächsten Angriff erstickt wurden. Sie kam mir vor wie ein taumelnder Boxer, der wieder und wieder niedergestreckt wird. Oder eine Maus, der die Katze nur soweit zusetzt, dass sie noch um ihr Leben rennen kann.

Was für eine erstaunliche Dynamik, dieses Alle-gegen-einen, wie befriedigend und gleichzeitig bodenlos böse. Ich wusste, wie es sich anfühlte, ein kleiner Satan zu sein, den Selbsthass auf andere zu projizieren und dabei auch noch angefeuert zu werden. Kudos dafür, dass ich die Dicken und Schwachen, die Bebrillten und die mit den Kopftüchern auf ihre Plätze am Rande der Gruppe verwies. Mein Opfer hieß Olga und hatte einen offensichtlichen Fehler: Sie trug die Haare kurz. Kurze Haare, beschloss ich, trugen Jungen, lange Haare trugen Mädchen, und wenn ein Mädchen kurze Haare trug, war das eine Anomalität, die es zu bestrafen galt. Olga durfte nicht mehr mitspielen, sie durfte nicht mit uns in der Mittagspause sitzen, und wenn sie es doch tat, nahmen wir ihr das Mittagessen weg. Abgesehen von den Haaren war auch alles andere an Olga komisch, sie sprach wenig, trug selbstgestrickte Pullis und aß hartgekochte Eier, deren Schale sie nach dem Pellen zu kleinen Haufen zusammenschob. Niemand widersprach, wenn ich ihr Laub in den Rucksack schüttete oder sie Eierkopf nannte. Dass ich meine Wut an ihr ausließ, hatte für alle anderen etwas Erbauliches, und diese Erbauung bestand darin nicht das Opfer zu sein. Wenn das Opfer jemand anderes war, war man selbst vermutlich ganz in Ordnung.

Ich trat auf die Gruppe zu und legte eine Hand auf die Schulter der kleinen dicken Sandra. Sandra quiekte, das Gelächter verstummte. Meine Körpergröße, mein Umfang und meine wilden, roten Haare, die ich seit drei Tagen nicht gekämmt hatte, taten ihre Wirkung. Ich spürte, dass Sandra die Luft anhielt, so als erwarte sie, jeden Moment von mir geköpft zu werden. Also ging ich neben ihr in die Hocke, meine Knie knacksten in die Stille hinein. Ich sah in vier erschrockene Gesichter. In jedem dieser Gesichter entdeckte ich mein eigenes.

„Basta!“, sagte ich, und noch im selben Moment wurde mir klar, dass das Italienisch war, nicht Französisch. Die Kinder hatten mich trotzdem verstanden. Sie stoben auseinander und rannten los. Sie rannten so schnell sie konnten zurück von wo sie gekommen waren. Ich konnte förmlich hören, wie die Rucksäcke auf die schmalen Wirbelsäulen donnerten. Sandra, noch immer versteinert unter meinem Griff, begann zu weinen. Ihre Tränen fielen zischend vor uns auf den Asphalt. Ich ließ sie los, erhob mich, wich zurück auf meinen Platz unter dem Baum. Als der Bus kam stieg sie ein, und ich sah ihr Profil durch die Fensterscheibe, die dicken Backen und die fest aufeinandergepressten Lippen. Wahrscheinlich hatte ich alles nur noch schlimmer für sie gemacht.