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23.12.2022, 12:58 Uhr
Johanna Mayer
Text & Debatte

Rezension zu Muchtar al Ghusains Gedichtsammlung „wunde heimat“

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(c) Verlag Königshausen & Neumann

Muchtar Al Ghusain (*1963 in Kuwait) wurde als Sohn palästinensisch-deutscher Eltern geboren und zog mit sieben Jahren nach Deutschland, wo er Musik in Würzburg und Kulturmanagement in Hamburg studierte. Ab 1994 war er Musikschul- und Kulturamtsleiter in Schwäbisch Gmünd, ab 2000 Referent im Ministerium für Wissenschaft und Kultur in Hannover, ab 2006 Kultur-, Schul- und Sportreferent in Würzburg. Seit 2018 ist er Dezernent für Jugend, Bildung und Kultur in Essen und an der Gründung verschiedener Festivals, Jugendorchester sowie an der Initiierung von Kulturpreisen und -vereinen beteiligt. Neben seiner Konzerttätigkeit widmet er sich seit einigen Jahren dem Vertonen von Gedichten bekannter Autor*innen zu eigenen Songs. Die von ihm vertonten Gedichte des Projekts wunde heimat handeln „von der alten oder auch neuen Heimat Deutschland, von Flucht und Krieg, von Klimakrise und vom Gefühl der Heimatlosigkeit – Themen, die musikalisch in einer Stilistik aus Jazz, Chanson und Pop scheinbar leicht daherkommen, die Abgründe der Texte aber umso deutlicher hervortreten lassen“. Johanna Mayer hat hineingehört und -gelesen. 

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Federn und Holz zieht ein Meer nicht hinab,
Doch sind für das Wasser die Kinder zu schwer.
„Töte mich, Mama, ich kann nicht mehr“,
Weinte ein Kind, und dann sank es und starb.

(„Töte mich, Mama“, Thomas Gsella)

Kaum ein Gefühl tut so weh, brennt sich so tief ein und lässt eine so tiefe Wunde zurück wie Heimweh. Die Sehnsucht nach Altbekanntem, nach vertrauter Umgebung und einer Geborgenheit, die nur das Zuhause uns geben kann, ist so alt wie die Menschheit selbst. Ob auf langer Irrfahrt, ins Exil vertrieben oder auf der Flucht: Die Sehnsucht nach der Heimat, vor allem aber die Unerreichbarkeit dieser, ist eine Wunde, die nie verheilt. Mit eben diesem Schmerz konfrontiert die Gedichtsammlung wunde heimat von Muchtar al Ghusain ihre Leser*innen.

Doch war nun auch ein Ort gemieden,
der tief ins Fleisch gedrungen ist.
Als fremder Brief mit sieben Siegeln
ist mir im Herzen fern das Land.
Doch hinter allen starken Riegeln
ist mir sein Name eingebrannt.

(„Mit Heine“, Kurt Drawert)

Die Texte handeln von Flucht, Vertreibung, Exil, Einsamkeit und Verlust, von Abschiednehmen und Erinnern. Unter diesen Themenschwerpunkten findet sich ein buntes Mosaik aus Texten von Heinrich Heine, Paul Celan, Mascha Kaléko, Thomas Gsella, Barbara Köhler, Mahmud Darwish, Jehuda Amichai, Ales Steger, Kurt Drawert, Marion Poschmann, Jakob von Hoddis, Jan Wagner, Ulla Hahn und Peter Rühmkorf zusammen. So unterschiedlich die Gedichte auch sind, so ähnlich sind doch ihre Stimmungen und Bilder, die gezeichnet werden: melancholische Erinnerungen, die Hand in Hand mit tiefer Sehnsucht gehen, und von Seite zu Seite immer mehr den erdrückenden, schweren Schmerz fühlen lassen, den die „Wunde Heimat“ nach sich zieht.

Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen.

(„Nachtgedanken“, Heinrich Heine)

Doch nicht nur die Texte, die Muchtar al Ghusain über Jahre „zugeflogen“ sind, haben hohen künstlerischen Wert: Die gesamte Gedichtsammlung stellt ein kleines Kunstwerk in sich da – gibt es doch zu jedem Gedicht auch eine davon inspirierte Illustration, die nicht nur zum Betrachten, sondern mehr noch zum Nachdenken, Träumen und Gedanken-kreisen-lassen auffordert. Dazu laden die vertonten Gedichte auf der dem Buch beiliegenden CD (auch auf Spotify/ YouTube) ein: Mit einer Mischung aus Jazz, Chanson und Pop verlieren die Texte nicht etwa an Schwere – sie scheinen erst hier ihre Wirkung ganz zu entfalten.

(...) Die Zukunft hat uns eingeholt, die Zeit.
Wir teilen eine Art von Einsamkeit,
wir fallen auseinander: du und ich.
Und halten uns. Und halten uns bereit.

(„Anfang III“, Barbara Köhler)

Und dennoch: So düster die Texte anmuten, so ruhig und aufgehoben fühlt man sich zwischen den Wörtern. „Die Kunst baut überall eine Heimat“, so sprach schon Goethe. Zwar mögen die Autor*innen ihre Heimat verloren haben – sei es durch Flucht, Exil oder Vertreibung. Doch sie haben der Nachwelt etwas hinterlassen: etwas, was für andere Menschen Heimat werden kann.

Und nur der Toren Herz wird weise:
sieh, auch der große Mensch ist klein.
Ihr lauten Lärmer, leise, leise.
Und laßt uns sehr bescheiden sein.

(„Zeitgemäße Ansprache“, Mascha Kaléko)

 

Muchtar Al Ghusain: wunde heimat. Vertonte Gedichte von Heinrich Heine über Mascha Kaléko bis Jan Wagner mit Illustrationen von Susanne Topitsch. CD mit 14 Songs (Spieldauer: 52 min.). Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2022, 80 S., 21,00 €, ISBN: 978-3-8260-7733-3.