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17.08.2022, 16:12 Uhr
Christopher Bertusch
Text & Debatte
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(c) bp-Verlag

Zu Michael Kleinhernes neuem Roman „Der Mann auf dem Foto“

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Die Golden Gate Bridge in San Francisco. Ein Symbol für die Imposanz der USA.

Der Autor Michael Kleinherne (*1964 in Westfalen) arbeitet als Universitätsdozent, Kulturjournalist, Dramaturg und Englischlehrer in Ingolstadt. Seit 2012 veranstaltet er das jährliche Literaturfestival LiteraPur in Eichstätt. Im selben Jahr gibt er auch sein literarisches Debüt mit dem Kurzgeschichtenband Drehpause. Kleinherne verfasst Kurzgeschichten, Novellen und Romane. 2020 ist sein zweiter Roman Der Mann im Foto erschienen. Christopher Bertusch hat ihn für uns gelesen.

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Die fotografische Macht der Erinnerung

Die Fotografie bietet dem Menschen die Fähigkeit, Momente festzuhalten, die ansonsten für immer verschwunden bleiben. In Michael Kleinhernes Der Mann auf dem Foto werden solche Momente auf zwei Bildern fixiert. Auf dem ersten ist ein junges Paar zu sehen. Es sind zwei junge deutsche Studenten, die 1969 für ein Auslandssemester nach Berkeley, die Universität Chicagos, gehen. 1969, das war eine „andere Zeit“, wie es so oft im Roman zu hören ist. Eine Zeit voller revolutionärer Glut und linkem Gedankengut. Das junge Paar, dessen Namen Marianne und Heinz lautet, steht im People's Park, dem Ort, an dem 1969 studentische Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg blutig enden. Der damalige Gouverneur Ronald Reagan möchte Härte beweisen und schickt die Polizei gegen die Demonstranten. Schüsse fallen, mehrere Studenten werden verwundet, einige erliegen ihren Verletzungen. Auch Marianne und Heinz stehen mittendrin in diesem politischen Tumult.

Es ist aber nicht ihre Geschichte, die der Roman erzählt, sondern die ihres Sohnes Harry. Jahrzehnte nach dem Ableben seiner Eltern findet dieser das Foto derselben in Amerika in ihren Hinterlassenschaften. Daneben liegt das Notizbuch seiner Mutter. Beide Dinge klären ihn auf über eine Vergangenheit, von der er bislang nichts wusste. Warum hatten sie nie erzählt, dass sie bei den Protesten dabei waren? Dass sie überhaupt in Amerika waren? Sonst zögerten seine Eltern nicht, ihre politischen Ambitionen zu zeigen, besaßen sie doch einen Bücherladen, in dem viele politische Streitschriften über die Ladentheke gereicht wurden. Oft fühlte es sich so an, als wären ihnen die Ungerechtigkeiten der Welt wichtiger als die eigene Familie. Denn mehr als ein Mal ließen Marianne und Heinz ihre Kinder allein, um zu Protesten in ganz Deutschland zu fahren. Auf der Autofahrt zu so einer Demo verloren sie schließlich ihr Leben. Zurückblieben zwei kleine Kinder und ein Haufen ungeklärter Fragen.

Neben dem ersten Foto der Eltern existiert ein zweites, das noch mehr Rätsel aufgibt. Hier ist Marianne neben einem fremden Mann zu sehen. Die beiden stehen ebenfalls im People's Park, sie halten Händchen und wirken eher als ein Paar, verglichen mit Marianne und Heinz. Liegt in der Identität dieses Mannes die Erklärung, warum die Beziehung der Eltern ein Leben lang so angespannt wirkte? Lässt sich hier auch eine Begründung für das distanzierte Verhältnis zwischen Harry und seinem „Vater“ Heinz finden? Als Harry durch seine Arbeit als Journalist eine Autoshow in Detroit besucht, fasst er kurzerhand den Entschluss, der Vergangenheit seiner Eltern auf den Grund zu gehen und sich an Kontakte zu wenden, die er aus eigenen Studententagen in den USA kennt. Mit den verbliebenen Gegenständen seiner Eltern im Gepäck beginnt er eine befremdliche Reise durch ein riesiges Land.

Der Beginn des Romans in Detroit zeichnet das Porträt eines abenteuerlustigen Alleingängers. Harry lernt im Hotel Sandra, eine deutsche Journalistin, kennen. Seine Idee eines romantischen First Date ist ein Spaziergang in die heruntergekommensten Teile der Stadt, bei dem sie auf Drogendealer und bewaffnete Teenager stoßen. Anders als Sandra nimmt Harry alles gelassen hin. Er scheint viel mehr fasziniert von Detroit zu sein, diesem mittlerweile zum Klischee gewordenen Symbol für den amerikanischen Verfall und sozialen Abstieg. Harry erscheint zuerst schroff und emotional distanziert. Zwischen ihm und Sandra entwickelt sich ein beständiges Hin und Her, ein Ritual der versuchten Annäherung. Der fehlende Abschied von den Eltern, ihr Tod und die Enthüllungen der Fotos lasten schwer auf ihm. Während er, angetrieben von diesen, durch die USA reist, liegt seine Schwester Barbara hochschwanger daheim. In ihren beinahe täglichen Telefonaten mit Harry enthüllt sich die liebevolle und enge Beziehung der Geschwister, ihre einzige Konstante nach dem Ableben der Eltern.

Entwicklungsroman mit offenem Ende

Detroit ist nur der erste Schritt seiner Reise und Sandra nur eine von mehreren Wegbegleitenden. Harrys Nachforschungen bringen ihn in Kontakt mit alten Freunden, Doktoren, illegalen Immigranten und Ausreißern, ehemaligen Hippies und abgeschotteten Kommunen. Ständig wird er weitergeschickt, immer auf der Suche nach dem Mann, der über die Vergangenheit seiner Eltern Bescheid wissen könnte. Die Figuren, auf die Harry trifft, verweilen nur allzu gerne bei ihren eigenen Erinnerungen. Sie erzählen ihm von Liebesgeschichten, Studentenprotesten, dem Leben abseits der Gesellschaft oder der Aussichtslosigkeit der Moderne. Sie alle sind so divers wie das Land, in dem sie leben. Michael Kleinherne porträtiert eindrücklich die Details dieses fremden Landes, das anders als die deutsche Heimat nur so von vollen Möglichkeiten, Freiheiten und Rätseln zu sprießen scheint. Es ist aber gleichzeitig auch ein Land, das über die Jahrhunderte hinweg durch politische Unterdrückung, Sklaverei, Aufstände und Wandel gekennzeichnet ist.

Kleinhernes Roman behandelt das Thema der persönlichen Erinnerung, dargestellt im Motiv einer Reise durch die vielfältigen Landschaften Amerikas, die mehr zu einer Reise durch die Vergangenheit wird. Harry und Barbara symbolisieren dabei zwei Seiten derselben Medaille: Barbara erwartet ein neues Leben und die Zukunft mit ihrem Kind, Harry hingegen fixiert sich auf die Vergangenheit und forscht dem Leben seiner Eltern nach. Zuerst besessen von der Vergangenheit lernt er im Laufe der Geschichte seinen Blick auf die Zukunft und sein eigenes Leben zu richten, symbolisiert durch die Schwangerschaft seiner Schwester und einer neuen, möglichen Beziehung zu Sandra. Das Ende des Romans lässt einige wichtige Fragen offen im Raum stehen, doch Harry kann schließlich seiner Obsession entfliehen und realisiert, was er sich wirklich wünscht. Weitere Nachforschungen zum Leben seiner Eltern stehen zwar an, doch zuerst kehrt Harry nach Hause zurück.

Der Mann auf dem Foto vermittelt beinahe das Gefühl eines Thrillers. Harry sieht Schattengestalten bei einer Wanderung am Torch Lake und findet einen Pfeil in einer Hauswand. Doch hinter den Fotos, die den Rahmen seiner Reise bilden, verstecken sich keine Verschwörungstheorien oder Dunkelmänner. Stattdessen ermöglichen sie den Sprung in eine von Aufschwung und Wandel geprägte Zeit in den USA und noch mehr die Möglichkeit für Harry, ein für alle Mal mit der Vergangenheit seiner Familie abzuschließen.

Der Mann auf dem Foto erzählt eindrücklich von der Macht der Erinnerung, den Fängen der Vergangenheit und der Hoffnung auf die Zukunft.

 

Michael Kleinherne: Der Mann auf dem Foto. Roman. Bayerischer Poeten- & Belletristikverlag, Reichertshofen-Hög 2020, 350 S., € 10, ISBN 978-3-944000-31-2