Kristina Becker: „Die letzten Buchstaben des Worts“

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(c) Kristina Becker

„Woher kommt diese Hitze im Gehirn, das unbedingte Gefühl, schreiben zu wollen, zu müssen? Was baut sich in unseren Köpfen auf, wenn der Cursor in einem noch leeren Dokument blinkt oder wir auf eine eng bedruckte Seite starren?“ In dem von Milena Adam und Thomas Lang geleiteten Seminar „Magmakammer des Schreibens“ der Bayerischen Akademie des Schreibens hat es gebrodelt. Das Literaturportal Bayern stellt die Texterzeugnisse, die dabei ausgespuckt wurden, vor.

Kristina Becker, geboren 1992 in Zwiesel, studierte Komparatistik in Augsburg, Cinéma in Paris und studiert aktuell Ethik der Textkulturen in Augsburg. Sie interessiert sich für Geopolitik und lernt derzeit Dari.

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So the words you could not say, I’ll sing them for you

George Michael, Jesus to a Child

 

Du nimmst einen Bissen und schaust auf den Teller. Das Essen ist fast kalt geworden. Es bilden sich keine Dampffäden mehr, die sich langsam in der Luft, in Schleifen verlieren. Der Tellerrand lauwarm, der Löffel heiß von der Spülmaschine. Du siehst mich starr an, als du merkst, dass nicht das Essen heiß ist, sondern der Löffel. Es schmeckt trotzdem. Aber jeder Bissen irritiert. Wie gut würde es schmecken, würde es heiß gegessen werden? Jeder Bissen hinterlässt einen Rest Verlangen, ein Unbehagen. Der heiße Löffel, fast höhnisch, erinnert uns an das, was gewesen sein könnte. Du löffelst deine rote Suppe und sagst etwas auf Russisch. Du wischst dir mit dem Handrücken deinen Mund ab und siehst mich fragend an.

Rot heißt auf Russisch Mund. Es heißt, wenn wir die Sprache wechseln, wechseln wir die Persönlichkeit. Ich sehe dich an, wenn du sprichst. Manchmal denke ich, wir wechseln unser Aussehen, wenn wir die Sprache wechseln. Ich sehe, wie dein Mund sich krümmt und die glänzenden Zähne freilegt. Sie sind weiß und liegen dicht nebeneinander. Eingereiht. Erinnerst du dich, wie ich mir einmal einen Zahn gezogen habe? Er war locker und hing an einem dünnen Gewebefaden in meinem Mund. Ich nahm einen Faden und band ein Ende um den Zahn. Das andere legte ich um den Griff meiner Kinderzimmertür und machte einen Knoten. Ich musste sie nur zuschlagen und der Zahn war weg. Ich stand und sah auf die Tür, die weiß war, wie der Zahn in meinem Mund, der an zwei dünnen Fäden, aus zwei verschiedenen Richtungen hing. Mach einen Schritt weg von der Tür. Schlag sie zu und der Zahn ist weg. Ich hob die Hand und wollte die Tür von mir wegdrücken, wollte mich gegen sie lehnen und sie ins Schloss hauen. Als ich einatmete und einen Schritt zurück ging, lag der Zahn auf dem Boden.

Jedes Mal, wenn mir ein Zahn ausfiel, legte sich meine Zunge in den entstandenen Zwischenraum. Sie bohrte sich in das weiche, wackelige Gewebe. Als würde sie etwas suchen. Als würde sie versuchen, die Lücke zu füllen. Sie stocherte in dem weichen Fleisch, bis Blut kam.

Manchmal ist etwas so lange her, dass wir wieder mittendrin sind. Die Geschichten ziehen ihre Kreise und kommen zu uns zurück. Manchmal liegen die Dinge so weit zurück, dass wir nicht mehr wissen, wann sie waren. Sie liegen so weit zurück, manchmal wissen wir nicht mehr, ob sie waren. Die Gedanken kommen zurück und die Geschichten kommen zurück und mit jeder Erinnerung, erzählen wir sie uns neu. Jede Erzählung unterscheidet sich von der letzten. Jede Erzählung unterscheidet sich von der nächsten. Sie trägt die Spuren der letzten und die nächste wird ihre Spuren tragen. Wenn wir erzählen, weben wir. Wenn wir erzählen, verknoten wir. Das löchrige Netz der Geschichten spinnt sich von selbst weiter.

Wir kauen. Du wischst dir mit der Serviette den Mund ab und faltest das saucenbefleckte Stück nach vorne. Du verschließt die Spuren vor dem Blick der anderen und legst die gefaltete Serviette unter deinen Tellerrand. »Und schmeckt es euch?«, fragst du. »Ja. Ist da schwarzer Knoblauch drin?« – »Ja, den habe ich gestern im Rewe gesehen! Habe ihn gleich mitgenommen.« – »Ist da was drin? Schwarzer Knoblauch?« fragt er. »Ja, den gibt’s auch, der ist fermentiert.« –»Achso« sagt er, während er zum Teller schaut und den nächsten Bissen nimmt. »Übrigens« fängt er an und verschluckt sich.

Auf Dari macht man sich keine Sorgen. Auf Dari isst man Sorgen. Lass mich deine Sorgen essen. Gib mir deine Sorgen und ich esse sie und ich spucke sie aus. Und wenn sie ausgespuckt auf dem Boden liegen, werden sie anders sein. Sie werden sich in meinem Inneren verknotet und verheddert haben. Sie werden auf dem Boden verschwimmen, wenn das M des Munds, als das W des Wassers rauskommt. Wie das Wasser, das ich verschütte, wenn ich zu Besuch bin und wir am Tisch sitzen.

Sprache heißt auf Russisch yasik. Dasselbe Wort bedeutet Zunge. Ich hasse es, wenn du rauchst. Wir stehen draußen auf der Terrasse und du bläst den Rauch in die Schwärze der Nacht. Du stehst da mit meinem Schal über deinen Schultern. Der Schal mit den zwei Brandlöchern, weil ich meine Zigarette am Toaster angezündet habe und ein paar brennende Krümel rausgefallen sind. Du sagst: »Wenn ich darüber nachdenke, habe ich das, was ich nicht gesagt habe, immer mehr bereut, als das, was ich gesagt habe. Du entschuldigst dich so oft für das, was du sagst, aber immerhin sagst du es. Das, was dir wichtig ist. Ich konnte das nie, ich habe mich immer nicht getraut oder dachte, es ist nicht so wichtig. Daran denke ich oft noch lange.« Du bläst den Rauch aus, während du deinen Kopf zur Seite drehst, und fängst an, mit deinem Fuß ein Steinchen unter der Sohle hin und her zu schieben. Ein Frosch unterbricht unsere Stille mit seinem Quaken. Ich sage: »Drück sie aus. Drück die Zigarette aus. Drück sie aus auf meiner Zunge, damit keine Wörter mehr rauskommen.«

Wenn du mit mir sprichst und ich dich nicht verstehe, ist es, als würden deine Fragen zwischen uns stehen. Kommen sie zurück zu dir? Hörst du ein Echo, in der Stille unserer Antworten? Erinnerst du dich an die Stille der Fragen, die du deinen Eltern nicht gestellt hast? Hast du mir deine Sprachlosigkeit gegeben, damit ich dich nicht fragen muss? Wen siehst du noch, wenn du mich ansiehst? Oma kann mich nicht mehr ansehen. Wenn sie mich sieht, sieht sie ihren Vater und weint. Ich kannte ihn nicht. Sie weint und spricht in den Raum zwischen uns. Ihr kennt diesen Raum, ihr wart dort. Ihr habt zwischen uns gesprochen und ich habe euch nicht verstanden. Die Stille füllte den Raum. Sie hallt nach, reißt Löcher, zieht Grenzen. Ich besuche Oma nicht mehr.

Hörst du, wie meine Stimme nach oben geht, auch wenn ich nichts frage? Diese Nacht liege ich früh im Bett und lasse das Fenster einen Spalt offen. Ab und zu fährt ein Auto vorbei. Aber ich warte auf die Tram. Genau alle siebeneinhalb Minuten fährt sie mit einem Klingeln ein. Ich wickle mich in die Decke ein und döse vor mich hin, als ich das leise Bremsen und Quietschen auf den Gleisen höre. Die Türen öffnen sich. Steigt jemand ein? Die Türen schließen sich und mit einem Aufheulen des Motors fährt die Tram rauschend weiter. In dieser Nacht träumte ich wieder, dass meine Zähne ausgefallen wären.

Ich beiße zu hastig zu und meine Zähne reiben quietschend aneinander. Wir haben zu lange gewartet, bis wir mit dem Essen angefangen haben und jetzt ist es schon kalt geworden. »Also, was ich sagen wollte«, fängt er an, während er auf den Teller sieht und den nächsten Bissen nimmt. Er kaut und spricht weiter, bevor er runterschluckt. Mit halbvollem Mund sagt er: »Wir hatten«, nicht ohne eine Pause zu machen um weiterzukauen »vor einer Weile«, er nimmt einen Schluck Wasser und spült den Rest runter. »Wir haben darüber gesprochen«, sagt er und schiebt den nächsten Löffel nach. »Ihr habt es noch nicht gewusst«, presst er zwischen Kartoffelstückchen heraus, die er zwischen den Worten hin und her schiebt. »Deswegen sage«, er räuspert sich. »Deswegen sage ich es«, fängt er an und verschluckt sich ein zweites Mal. »Sag mal, warum schluckst du nicht einfach runter, bevor du sprichst?«, sagt sie zu dir. »Ja aber ehrlich, was soll das eigentlich?«, sage ich, worauf du zum ersten Mal ohne Essen im Mund sprichst. »Wenn ihr mich gelassen hättet, hätte ich es schon längst gesagt! Wenn ihr mich nicht unterbrochen hättet.« – »Ja, wann denn, du hast doch die ganze Zeit gegessen, statt einfach zu sprechen?« – »Und das ist auch nicht besonders schön am Tisch, ehrlich gesagt.« – »Ihr lasst mich doch gar nicht sprechen« sagte er und legte seinen Löffel ab. »Die ganze Zeit unterbrecht ihr mich, ihr wollt es doch gar nicht hören, was ich sagen will.« – »Dann sag es doch einfach, wir haben vorher genug gewartet und nur dein Kauen gehört« sage ich zu dir, worauf ich auch meinen Löffel ablege.

Die Tomaten, die wir jeden Sommer essen, sind seit dreißig Jahren die gleichen. Jedes Jahr trocknest du die Samen auf einem Küchenpapier in der Sonne und hebst sie für das nächste Jahr auf. Wir essen immer wieder die gleichen Tomaten und sie werden mehr. Für ein oder zwei Monate im Jahr stehen die kleinen Pflanzen im Wohnzimmer entlang der Terrasse und im Esszimmer in der Sonne. Sie wachsen langsam, bis es warm genug ist, um sie rauszubringen. Einmal hast du mir eine Pflanze vorbeigebracht und sie auf meinem Balkon eingepflanzt. Du pflegst die Tomaten, deren Samen Oma damals mitgenommen hat. Der Balkon war sonnig und der Topf war groß, aber ich habe sie vergessen und sie sind vertrocknet. Ich wollte sie nicht, ich dachte schon, ich würde nicht an sie denken, aber ich wollte es dir nicht sagen. »Nimm sie«, hattest du gesagt. »Hier, ich habe eine Schaufel dabei und pflanze sie gleich ein. Wo ist dein Topf?« – »Er steht draußen auf dem Balkon.« Ich wusste nichts über Tomaten und auch nichts über andere Pflanzen. Du hattest mir gesagt, wie oft ich sie gießen sollte. Ich hätte dich fragen können, aber ich habe sie vergessen und es erst bemerkt, als sie vertrocknet waren.

Die kleinen Buchstaben liegen vor deinen Füßen. Weißt du noch, wie Oma mich einmal angeschrien hatte, warum meine Füße so groß sind? »Sie sind viel zu groß, du bist doch eine Frau! Deine Mutter hat nicht so große Füße. Ich auch nicht. Niemand hat so große Füße! Warum du als einzige?«, warf sie mir vor und merkte nicht, wie ich vor mich hin gelacht habe. Entnervt ging sie nach nebenan und holte ein Paar Hausschuhe. Ich wusste nicht, dass sie Socken für mich gestrickt hatte, die zu klein waren. Sie hat sie aufgetrennt und jede zuvor geknüpfte Masche herausgezogen, um von vorne zu beginnen und sie alle erneut aufzunehmen. Sie fragte mich, ob ich ihr eine Notiz auf einem Zettel vorlesen könnte. Sie konnte ihre Brille wieder nicht finden und ohne konnte sie die Buchstaben nicht sehen. Ich stand auf und meine Füße knackten, als ich auftrat.

Wieso haben so viele Sprachen dasselbe Wort für Zunge wie für Sprache? Wie konntet ihr mir eine Sprache geben, die ihr nicht hattet? Wenn wir miteinander sprechen, schweigen wir gemeinsam in der Sicherheit der Stille. Diese Stille kennt kein Missverstehen, sie kennt nur das Warten. Die Worte liegen mir auf der Zunge, aber mein Mund lässt sie nicht raus. Ich setze an, etwas zu sagen, aber die Wörter stecken fest. Die letzten Buchstaben bleiben im Mund hängen. Sie kleben sich an meine Zähne und ich kriege sie nicht weg, egal wie oft meine Zunge über die Stellen geht.

Nachts beiße ich die Zähne fest zusammen. Der Druck zieht tagsüber bis hoch in die Ohren. Wir sitzen am Tisch, die Gespräche drehen sich im Kreis, das Ohr pocht. Ein Kloß im Hals verfestigt sich. Er schwillt an und der Hals wird immer enger, bis sich die Mundwinkel nach unten ziehen und die Augenbrauen zusammen. Der Druck wandert nach oben, den Mundboden entlang und seitlich den Kiefer hinauf, bis genau neben das Ohr. Das Kiefergelenk versteift sich, die Muskulatur verspannt sich, du presst die Zähne zusammen und der Kloß fängt an zu pochen. Das Essen vor deinen Händen, du kannst den Löffel nicht in die Hand nehmen. Der Hunger bleibt, denn der Kloß ist zu groß. Wie konntet ihr mir eine Sprache nicht geben, die ihr hattet?  Das erste russische Wort, das du mir beigebracht hast, ist chleb. Brot. Ich kann dein Essen nicht mehr hinunterschlucken. Wenn ich den Kühlschrank aufmache, ist er voll. In ihm stehen Gläser mit eingemachten Tomaten, mit Essiggurken, Auberginen, Kraut. Sie stehen dort, seitdem du sie gebracht hast. Manchmal öffne ich sie, aber ich mache sie selten leer. Ich versuche alles zu essen, aber ich kann nicht. Es heißt, wir verdauen Geschichten. Es heißt, der Darm ist das zweite Gehirn. Es heißt, Spinnen spinnen ihre Netze aus dem Bauch heraus.