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Kultur trotz Corona: Corona-Blog von Lena Gorelik (9)

Lena Gorelik (* 1981 in Sankt Petersburg) kam 1992 mit ihrer Familie als sogenannter Kontingentflüchtling nach Deutschland. Sie studierte Journalismus und Osteuropastudien in München, wo sie auch heute lebt. Bisher hat die vielfach ausgezeichnete Autorin belletristische und journalistische Texte sowie Reiseliteratur veröffentlicht. Ihr bislang letzter Roman Mehr Schwarz als Lila erschien 2017 und war für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. 2018 erhielt Lena Gorelik das Arbeitsstipendium für Autor*innen der Stadt München. 2020 wurde die Autorin und Essayistin als Ordentliches Mitglied in die Bayerische Akademie der Schönen Künste aufgenommen.

Bereits im Frühjahr 2020 hat Lena Gorelik einen Corona-Blog geschrieben. Mit dem folgenden Text einer mehrteiligen Reihe im Literaturportal Bayern schließt sie ihren Corona-Blog vorerst ab und beteiligt sich an Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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28.12.2020

Weihnachten ist vorbei, ich habe noch nicht alle Weihnachtskarten geschrieben. Auf alle Weihnachtskarten, die ich geschrieben habe, habe ich geschrieben, dass ich hoffe, dass das kommende Jahr anders wird als dieses, dieses verwirrende, vertrackte Jahr. Ich lasse all die anderen Adjektive, die mit „ver“ beginnen, weg. Ich gehe spazieren, beinahe jeden Tag. Ich langweile mich beim Spazierengehen. Ich sehne mich danach, die Stadt zu verlassen, andere Menschen, andere Anblicke, sehne mich danach, an einem Rezeptionstresen zu stehen, guten Tag, ich habe ein Zimmer gebucht. Ich habe kein Zimmer gebucht, in alle Weihnachtskarten schreibe ich Gesundheits-Wünsche, aber das habe ich vermutlich auch vor Corona getan, in all den anderen Jahren. Bei einem Spaziergang fliegt zwei Mal ein ADAC-Hubschrauber über meinen Kopf hinweg Richtung Krankenhaus, was geschieht, wenn sie nicht da ist, diese Gesundheit.

Am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages werde ich vom Kreischen des Kindes geweckt: Er muss spucken. Er muss den ganzen Tag spucken, das arme Kind, traut sich erst einmal gar nicht aus dem Bad heraus, also machen wir ein Lager auf dem Fliesenboden: Decken, Kissen, er spuckt, schlummert, ich lege ihm einen kalten Waschlappen ins Gesicht. So gemein, sagt er, so gemein, an Weihnachten krank zu werden, später, als wir auf der Couch liegen, er in meinem Arm, mit halb geschlossenen Augen, und sein Bruder sitzt neben uns, wir spielen ein Spiel, das er geschenkt bekommen hat, ich spiele so gut es geht in dieser Position, mit einem kranken Kind im Arm, müde, und immer diese Frage im Hinterkopf: Müssen wir ihn testen lassen? Magen-Darm-Beschwerden können bei Kindern ein Symptom sein. Ich will nicht in einem Leben sein, in dem ich alle Symptome einer Krankheit kenne.

Am nächsten Tag gehe ich spazieren, schon wieder. Der Himmel ist blau, es gehen sehr viele Menschen spazieren. Nachher kehren sie in ihre Häuser, Wohnungen zurück, machen sich etwas zu essen, lesen, schauen Netflix. Stören sie sich ob der Monotonie, vermissen sie Menschen, sehnen sie sich nach Umarmungen, nach fremden Stimmen? Als ich am nächsten Tag zur Notapotheke fahre, weil das Kind immer noch spuckt, sind die Parkplätze in diesem belebten Viertel leergefegt, als seien alle weggefahren, über Weihnachten, in die Ferien, als wäre das ein ganz normales Jahr, als wäre es nicht das C-Jahr. Irgendwann hört das Kind auf zu spucken, freut sich auf den Braten, der für ihn aufgehoben wurde, auf Knödel, ich gehe immer noch spazieren, nehme mir vor, die Weihnachtskarten bis Silvester zu Ende geschrieben zu haben. Schreibe diesen letzten Blogtext, und vermute, dass er nicht der letzte sein wird, irgendwie, leise. Wünsche allen ein gesundes, neues Jahr.

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