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Norbert Göttlers „Begegnung mit Albrecht Haushofer"

Die 141. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunkt Schuld und ... Darin rezensiert Hannes S. Macher eine literarische Collage von Norbert Göttler.

Auf einem Traktor durchpflügt er den Boden, Moorerde, pechschwarz. Vögel zwitschern, Schmetterlinge fliegen vorbei, Birkenspaliere, Brombeer- und Holunderbüsche säumen das Feld. Eine Idylle im Dachauer Land. Und doch erspäht der jugendliche Traktorfahrer hinter dem Acker verrostete Reste eines Stacheldrahts, eine von Einschusslöchern durchsiebte Betonruine und Patronenhülsen auf gelbem Sand.

Patronenhülsen und gelber Sand auf schwarzer Moorerde? Wie passt das alles zusammen? Und welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang ein Gedicht von Albrecht Haushofer über tote Ratten, das er als Schüler im Deutschunterricht zunächst nicht interpretieren konnte? Der Rattenzug sei Teil der Moabiter Sonette, dozierte der Gymnasiallehrer. Doch was hatte dieses Gedicht mit dem jugendlichen Traktorfahrer und dessen Entdeckungen rund um den Acker zu tun?

Auf Spurensuche begibt sich der 1959 geborene, im elterlichen Bauernhof in Walpertshofen bei Dachau aufgewachsene Norbert Göttler, der sich in der Person des Schülers auf die Hintergründe der Moabiter Sonette und der Lebensumstände des Autors begibt. Keine Biografie im herkömmlichen Sinne über den Schöpfer dieses Werkes »von überwältigender Ehrlichkeit und Klarheit«, mit dem Haushofer (so Göttler) sich »eingereiht hat in die großen Geister, die der Barbarei widerstanden«, ist diese Hommage. Sondern in klug ineinander verwobenen 36 Stationen spürt Göttler wie in raffinierten Filmschnitten dem Leben und Wirken dieses innerlich zerrissenen Menschen nach, »mit dem sich die offizielle Geschichtsschreibung immer schwer­ getan hat, weil sie nicht recht wusste, ob sie ihn überhaupt zum deutschen Widerstand rechnen sollte oder nicht«.

Ein ideales Drehbuch für eine Filmdoku

Eine »literarische Collage« nennt Göttler, Kreisheimatpfleger des Bezirks Oberbayern, dieses Mosaik, bei dem historische Quellen, Briefe, Archivfunde, Gespräche mit Zeitzeugen und Interviews mit Nachfahren der Haushofer-Familie, der Mitglieder der »Weißen Rose« und des Stauffenberg­-Kreises sowie fiktive Unterhaltungen, innere Monologe und persönliche Erinnerungen des Autors ineinander übergehen. Bestens ist das alles nicht nur recherchiert, sondern wie ein Drehbuch für eine Filmdokumentation aufbereitet. Dazu blendet Göttler zu den geschilderten Ereignissen die jeweils passenden Passagen aus den Moabiter Sonetten ein. Eine faszinierende Zusammenschau, bei der Historisches und Literarisches, Familiäres und Politisches eine Symbiose bilden.

Am spannendsten freilich ist die Lektüre dieser Begegnung mit Albrecht Haushafer (so der Untertitel), wenn der Autor – gestützt auf authentische Quellen – in die Gedanken und Gefühle dieses »Einzelgängers« sich hineinversetzt, die Psyche des »melancholischen Zögerers und Zauderers« (so Göttler) zu ergründen und Haushofers innere Zerrissenheit zu analysieren versucht: Geboren 1903 in München, in großbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, Sohn eines erzkonservativen, übermächtigen Vaters, eines Generalmajors im Ersten Weltkrieg, der dann Professor für Geopolitik in München war und in seinen Schriften vermutlich geistiger Urheber von Hitlers Lebensraumideologie; die Mutter Halbjüdin und Frauenrechtlerin. Beide begingen im März 1946 in ihrem zwischen Pähl und Andechs gelegenen Hartschimmelhof Selbstmord aus »unheilbarer Trauer um das Schicksal von Land und Volk«.

Zunächst NSDAP-Mitläufer, schließlich Mann des Widerstands

Von »depressiver Grunddisposition« sei, so Göttler, der älteste Haushofer-Sohn gewesen, der sich selbst überschätzte und esoterischen Neigungen nicht abgeneigt war. »Erdgebunden und weltläufig, (...) der Überlieferung unentwurzelbar treu und in jeder Wendung der modernen Welt zu­ hause«, charakterisierte ihn sein Freund Carl Friedrich von Weizsäcker nach dem Krieg. Obwohl Haushofer viele Freunde in der NSDAP hatte, habe er »das moralische Scheitern« des Nazi-Staates frühzeitig erkannt, so Göttler, und in vielen Briefen, vor allem an seine Mutter, den Ausbruch des Krieges vorhergesagt und den Frieden beschworen.

Einer der Widerstandsgruppen hat er sich zwar nicht angeschlossen, jedoch Beziehungen zu ihnen unterhalten. Und doch hat er sich lange Zeit mit der NS-Herrschaft arrangiert und durch Kontakte zu hochrangigen NSDAP-Mitgliedern Karriere gemacht: 1933 wird er Geografiedozent an der Berliner Hochschule für Politik, 1939 Professor für politische Geografie, und im Auftrag des Reichsaußenministeriums nimmt er diplomatische Gespräche im Ausland (vor allem in England) auf, fungiert als Dolmetscher für Adolf Hitler und erörtert 1941 in der Schweiz mit Carl Jacob Burckhardt Friedensmöglichkeiten. Zudem verfasst er neben Gedichten Theaterstücke über Scipio, Sulla und Augustus, in denen verschlüsselt und doch klar erkennbar die Frage nach dem Machtmissbrauch der Herrschenden thematisiert wird.

Rudolf Heß und der 20. Juli 1944

Doch Haushofer stand als »Vierteljude« unter dem besonderen Schutz von Rudolf Heß, der im Ersten Weltkrieg Adjutant seines Vaters war. Als der »Stellvertreter des Führers« im Mai 1941 mit dem Duke of Hamilton, einem Bekannten und früheren Gesprächspartner von Haushofer, geheime Friedensverhandlungen mit Großbritannien auslotete, war Haushofers Protektion durch Heß beendet. Aus dem Außenministerium wurde er entlassen, mehrere Wochen inhaftiert und von der Gestapo verhört, um seine vermuteten Beziehungen zu Widerstandsgruppen wie dem Kreisauer Kreis und der Roten Kapelle offenzulegen. Nach dem Stauffenberg-Attentat am 20. Juli 1944, in das er eingeweiht war, taucht er unter, wird im Dezember auf dem Bauernhof Mittergraseck in der Nähe der Partnachklamm verhaftet und ins berüchtigte Berliner Gefängnis Moabit eingeliefert. Diese Passage in Göttlers Begegnung mit Albrecht Haushafer gehört – neben den Schilderungen der Torturen der SS, »der Männer in den schwarzen Uniformen«, gegenüber den Gefangenen im KZ Dachau und des Alltagslebens in der Stadt an der Amper während der NS-Zeit – zweifellos zu den anrührendsten Kapiteln dieses Buches.

In der Nacht vom 22. auf den 23. April 1945 wird Albrecht Haushofer mit weiteren Häftlingen von einem SS-Schergen durch Genickschuss ermordet. Nur einer überlebte, Herbert Kosney, der nach der Eroberung Berlins durch die Sowjetarmee Albrechts Bruder Heinz zum Exekutionsort führte. In Haushofers Manteltasche fanden sie die im Gefängnis auf fünf Blätter geschriebenen 80 Moabiter Sonette, das ergreifende Zeugnis des Widerstands, das er in Erwartung seiner baldigen Hinrichtung als Reflexion über sein Leben verfasst hat. Das 39. Sonett trägt den Titel Schuld und endet: »Ich klage mich in meinem Herzen an: / ich habe mein Gewissen lang betrogen, / ich hab mich selbst und andere belogen / ich kannte früh des Jammers ganze Bahn – / ich hab gewarnt – nicht hart genug und klar! / und heute weiß ich, was ich schuldig war.«