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Rede von Ursula Krechel anlässlich der Verleihung des Jean Paul-Preises

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Foto: Andreas Gebert

Der Jean Paul-Preis des Freistaats Bayern ging 2019 an die Schriftstellerin Ursula Krechel. Kunstminister Bernd Sibler begründete die Auszeichnung Krechels unter anderem mit der Aufarbeitung von Traumata, Schuld und Verdrängung durch akribisch recherchierte und literarisch gestaltete Erinnerung. „Mit ihrem Lebenswerk hat sie die deutschsprachige Literatur bereichert, geprägt und verändert“, so der Minister. In der Bewertung der Jury heißt es: „Ursula Krechel schildert die Anfangsjahre der Bundesrepublik mit großer Empathie für die Verleumdeten, die Geflohenen und die Entrechteten. Ihre Literatur leistet unverzichtbare Erinnerungsarbeit. Sie gibt denen – in der Kunst – eine Stimme, die anderweitig kein Gehör fanden und finden. In einer Zeit, in der die besondere Erinnerungskultur in diesem Land wiederholt öffentlich in Frage gestellt wird, sind Ursula Krechels Romane von großer Relevanz.“

Der mit 15.000 Euro dotierte Literaturpreis des Freistaats wird alle zwei Jahre vergeben und würdigt das literarische Gesamtwerk eines deutschsprachigen Schriftstellers oder einer deutschsprachigen Schriftstellerin. Die Preisverleihung fand am 16. Dezember 2019 in München statt. Die Laudatio auf die Preisträgerin hielt Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Michael Stolleis (Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte).

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Rede von Ursula Krechel

 

Es ist schön, hier zu stehen,

sehr geehrter Herr Minister,

liebe Jurymitglieder,

verehrte Anwesende,

liebe Freunde und Freundinnen meiner Bücher und überhaupt ...

Es ist schön, aufrecht zu stehen. Es ist schön, gehört zu werden, und das sage ich natürlich nicht nur in meinem Namen, sondern im Namen derer, die in meinen Büchern auftauchen, die ich hineingebeten habe, die aus ihnen heraustreten, für die meine Bücher, zumindest die drei umfangreichen Romane sprechen. Vertretungsweise spreche ich auch im Namen der Wörter, die meine Bücher fluten, der Wörter, die untergründig da sind, verborgen oder schon im Tagebau zu schürfen. Manchmal braucht die Gegenwart auch eine Art von Tiefenbohrung in verdeckte, zugeschüttete Schichten, bis sie sich erschließt.  

Und da ist er, der diesem Preis großmütig seinen Namen gibt. Der irrlichternde, in vielerlei Gestalt auftauchende Dichter, mal in der Bürgerstube, dort grüßt man ihn am ehestens, dort denkt man ihn sich zuhaus. Das ist ein reduzierter Jean Paul, der Dichter light. Dann wuchtet er Prosagebirge hoch. Im kühnen Schwung entwirft er Welten, flicht Stränge ineinander, bindet Schleifen, jongliert mit fünf Kugeln. Und es macht nichts, wenn eine der Kugeln der Schwerkraft trotzt, in die Wolken steigt und dort verschwindet. Und es macht auch nichts, wenn eine auf den Boden knallt oder gar dem Dichter auf die Füße. Er schreit nicht auf. Schreiben, sich Aussetzen, sich Einbringen in die Welt ist gefährlich. Die Vernünftigkeit ist eine Maske, dahinter das mild gestimmte Wetter, das jederzeit umschlagen kann. Vulkane speien, und Lavaströme ergießen sich, Wolken ziehen, eine Windhose bläht sich. Und alle rabenschwarzen Vögel des Humors fliegen auf. Kometenerwartungswetter, rauchende Blumenwiesen, Triften, blühende Täler.

Ein Glückgestirn entwirft Jean Paul mit leichter Hand, die so schwer zu führen ist, und dann die Zweifel, ob dies alles nichts ist oder ob dies etwas ist, das aber mit einem einzigen Federstrich zunichte gemacht werden kann. Und er braucht die Gewissheit, dass nur ist, was geschrieben ist, was geschrieben werden kann. Es ist alles, alles, was das Wort hat, all das, dem der Autor das Wort erteilt. Satire und Idylle, Philippika und Predigt, Absturz und ungeahnter Höhenflug, das aus der Zeit Gefallene, das seiner Zeit Vorauseilende. Welt ist nicht nur das Erfahrbare, sondern auch das Denkbare, das Undenkbare, Entsetzen Erregende, auch das Unerhörte, Glück Spendende, Utopische. Die Masse der Einfälle ordnet sich wie mit einem Magneten und stiebt wieder auseinander. Wortgeröll, behände Fußnoten, systematisch durchpflügte Zitatfelder, kariöse Exzerpte, langwierige, ungeduldig ausgesessene Verbschwangerschaften, Verbensterben. Der Nachlass, aufbewahrt in der Berliner Staatsbibliothek umfasst allein 40.000 Blatt, ein „Dintenuniversum“, unfassbar sinnlich in einer Ausstellung im Liebermann-Haus in Berlin 2013 ausgebreitet.

Der Traum, das Nachtstück ist ein bedeutsamer Ort, um das, was die Gesellschaft nicht einlöst, durchzufechten. Im Komet, in der Vorrede zum 2. Bändchen heißt es: „Der Traummacher kann Jedem, sobald er seine Nachtmütze aufsetzt, die Bischofsmütze abnehmen — den Koadjutorhut — den Doktorhut — die Lorbeerkrone — die Krone.“ Der Träumer ist ein Revolutionär, der Wache knirscht am Morgen mit den Zähnen. Und im Sechsten Schalttag des Hesperus, fordert Jean Paul, aus der Erzählerrolle heraustretend auf, zu denken und zu hoffen statt nur zu träumen. Der Leser, die Leserin staunt, was der Autor sich traut. 

Manchmal steht die Sprache still, rührt sich nicht vom Fleck, will in keinen Erzählfluss tauchen. Es scheint so, als stünde sie unter Schock oder erhebe sich ins Visionäre. Der Ausnahmezustand will nicht erzählt werden. Dies ist in jeder Literatur ein vorzüglicher Augenblick, Texte in einen anderen Aggregatzustand zu tauchen, der behelfsweise „Poesie“ genannt werden könnte. Man könnte auch von Meditationen in Worten sprechen, einem sprachlichen Eingedenken. Im Schock verändert sich die Pulsfrequenz, der Atem stockt im Entsetzen, das Herz bleibt einem plötzlich stehen. Unverbunden lagern die Bausteine der Sprache da und verlangen nach einem Rhythmus. Rhythmus ist ein Urelement, nicht nur um Sprechakte und Erzählkomplexe zu gliedern, sondern auch um Wohlbefinden oder Ekstase auszudrücken – oder auch Trauer, Wut, Abscheu.

Und auch wo das Tröstliche ist, dreht sich die Situation blitzschnell um. Selbst das Schulmeisterlein Wutz, das es sich in seiner „Höhle“ des Bettes bequem macht, weiß, woraus und warum er flüchtet. „Und kroch er endlich in der letzten Stunde eines solchen Leidenstags unter sein Oberbett, so schüttelte er sich darin, krempelte sich mit den Knien bis zum Nabel zusammen und sagte zu sich: ‚Siehst du, Wutz, es ist doch vorbei!‘“ Auf zweierlei Weise lässt sich dieser Stoßseufzer verstehen. Einmal mit der Betonung auf dem letzten Wort: Es ist doch vórbéí. Es ist dies die Trauer um den verlorenen, erinnerungslosen Ort, das Bett, die Einbettung des Embryos, der er gewesen ist. Zum anderen mit der Betonung auf dem zweitletzten Wort: Es ist dóch vorbei!  Nach allem, was war, nach den Enttäuschungen, Jämmerlichkeiten einer Jugend ist es ein Dennoch, ein Trotzdem. Etwas ist überwunden in einer Art von Selbstermächtigung.  

Foto: Andreas Gebert

In meiner Arbeit ist, so hoffe ich, nichts vorbei. Alles muss gleichzeitig sein: In der Vergangenheit öffnet sich ein Fenster in die Gegenwart. Kalte Luft strömt ein, aber die Erkältungen von heute sind auch vertrauter als die historischen. So häufig bin ich gefragt worden— im fast verschwörerischen Ton— ob meine Recherchearbeit über Ausgegrenzte, Entrechtete, außer Land Getriebene etwas mit meinen biographischen Begebenheiten zu tun habe. Ich musste das immer verneinen. Erst als eine alte Dame bei einer Lesung in Amsterdam unverblümt fragte, was andere nur elaboriert umschrieben hatten: Sind Sie Jüdin?, war ich erleichtert. Da war sie heraus - die Fragestellung, die immer von neuem im Raum steht: Was ist der Anlass, die Motivation, was die Konsequenz eines Tuns, eines Schreibens? Nein, bin ich nicht. Umso besser, sagte die alte jüdische Dame. Und dass sie es sagte und ich nicht es mir selbst sagen musste, während ich langwierig an Formen und Fakten feilte, war gut.

Man darf doch noch sagen, dass.

Ein Text muss doch sagen, dass.

Literatur kann doch darauf hinweisen, dass. 

Dürfen, müssen, können – lauter Hilfsverben, denen tatkräftige Verben unter die Arme greifen.  

Und als ich dann bei den Geisterbahn-Leuten war, der Sinti-Familie, als ich mich schreibend jahrelang in den ärmlichen Quartieren von Emigranten in Shanghai, in Gerichtssälen, in einer Schulkasse voller eingeschüchterter Kinder, auf Jahrmärkten herumgetrieben hatte, fragte niemand mehr nach dem biographischen Zusammenhang. Nein, es ist möglich, einfach hinzuhören, hinzuschauen, Geduld mit Menschen, den realen und den erfundenen, zu haben, bis sie sich offenbaren. Es ist möglich, der Abbildhaftigkeit von Sprache zu misstrauen, es muss ihr widersprochen werden — mit keinem anderen Mittel als der Sprache selbst. Sprache schreit auch: Nimm mich! Oder: Finger weg! Lass mich in Ruh!

Jean Paul schreibt in der Vorschule zur Ästhetik: „Der äußere, mechanische Stoff“ hingegen, der uns als changierende Wirklichkeit umgibt, bedürfe der „Veredlung durch die Form der Poesie“. Diese Veredlung schlägt ja mitnichten einen hohen Ton an. Was ist diese Poesie anderes als ein Öffnen aller Sinne, eine Wahrnehmung aus Leibeskräften? Die Poesie bündelt Energien, fährt wie ein scharfer Strahl in die Ungewissheit des landläufigen Wortgebrauchs. Sie geht um die Gegenstände herum, von denen sie spricht, wenn es denn Gegenstände sind, und nicht Schimären der Wahrnehmung, auch der eigenen Existenz. Poesie nimmt die Sprache so ernst wie sie ist. Sie hat ein Ganzes im Blick, das aber erst noch konstruiert werden muss – im Gedicht, im Roman, in der Montage, im Zusammenschnitt des Materials. Sie ist furchtlos – aus der Erfahrung der Furcht, schamlos – weil sie die Schamschwelle kennen gelernt hat.

Nur so entsteht Welthaftigkeit in Texten, auch in der Hoffnung auf den Welt-Roman, den Jean Paul anstrebt, und der doch nie zu Ende geschrieben wird. Mit guten Gründen, so sehr es ihn bekümmert. Die Welt ist ja auch nicht zu Ende konstruiert worden, es blieb noch Zeit, Meridiane einzuzeichnen, Kontinente zu entdecken, eine Schrift, ja auch mehrere, auch digitale zu erfinden, Grenzzäune, Mauern zu errichten, sogenannte Naturkatastrophen herbeizuführen und ein apokalyptisches Ende zu beschwören, bei dem die eigene Existenz, auf Plastiktüten verzichtend, eine herausragende Rolle spielt.

„Schiffbruch mit Zuschauer“ heißt die dramatische Erzählmetapher, die der Philosoph Hans Blumenberg quer durch die Geschichte und die Literatur verfolgt. In der Zeit der Aufklärung sei das Wagnis und der Mut zum Aufbruch positiv gesehen worden. Wer im Hafen liegen bleibe, verfehle Lebenschancen und ein zukünftiges mögliches Glück. Die Zuschauer auf dem Land entsprächen einem Theaterpublikum, das aus der Distanz auf sicheren Plätzen eine fiktive Tragödie verfolge. Die Konvention habe Regeln, deren Übertretung mit Sanktionen geahndet werde. Der Zuschauer reagiere auf das Geschehen mit Mitleid und Schrecken, reflektiere aber aus der Position der Vernunft. Blumenberg, jeder Form des Aktivismus unverdächtig, spricht in der Fortführung des Bildes von einer „künstlichen Seenot“, bei  der wir vom komfortablen Kreuzfahrtschiff hinunter in die See springen müssten, um „ohne das Mutterschiff der natürlichen Sprache“, mit anderen Worten mit einem Denken vom Nullpunkt aus, „die Handlungen nachzuvollziehen, mit denen wir — mitten im Meer des Lebens schwimmend — uns aus bisher unbekannten, aus früheren Schiffbrüchen stammenden Materialien ein Floß oder gar ein Schiff erbauen.“

Foto: Andreas Gebert

Aber es ist nicht klar: Wo ist das Boot, wer ist im Boot, und wer sind die Zuschauer? Mit der Vorstellung „Das Boot ist voll“ verkehrt sich der Blick. Jetzt ist die Katastrophe auf der anderen Seite. Wo eben noch hier war, das Ufer, die Zuschauertribüne, wird die Seenot angesiedelt, wenn die „Flut“ der auf den Kontinent Drängenden steigt. Eher ist sie eine Seelennot des Beharrens, Versteinerns. Und die Zuschauer sind die anderen, die an der Grenze, die mit den großen, hungrigen Augen in den Wartesälen der Geschichte, die ja längst keine Säle mehr sind, sondern menschenunwürdige Camps. „Wartesaal Shanghai“, so hat man diesen von allem abgeschnittenen Ort der Emigration genannt. Und im Nachhinein bewundern wir diese tapferen Leute, die ihrer Lebenskatastrophe entronnen sind durch die mutige Entscheidung, nach China zu reisen, in eine Stadt, in der niemand auf sie gewartet hat. Das Denken ist elastisch, geht um die Gegenstände herum, schaut sich selbst über die Schulter und entdeckt dabei den dunklen Schatten des eigenen Gesichts, und das ist nicht immer angenehm. Man überlebt nicht zweimal einen Schiffsuntergang, man steigt nicht zweimal in denselben Fluss. 

Niemand hat die Gnade der späten Geburt, niemand hat die Gnade, in einem Haus mit Seeblick aufzuwachsen, einer Doppelgarage oder einer Ligusterhecke, einem Ausguck auf das Weltgeschehen. „Ach“ —, so heißt es in der Rede des toten Christus, „Ach, wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgeengel sein?“   

Die junge Königin von Preußen Luise, ja, genau die, die einige Jahre später, nach einer Zeit voller Schrecken, Toten, Bränden, nach vernichtenden Niederlagen nach Tilsit gereist ist und Napoleon um Gnade für ihr Land bat, war nicht nur ein kluger, politisch denkender Mensch, sondern auch eine begeisterte Leserin. Im Jahr 1800 lud sie Jean Paul nach Potsdam ein und schenkte ihm „ein herrliches ganz silbernes Theezeug mit silberner Platte etc“, wie er seiner Braut schrieb, und für das er beglückt dankte.

Im selben Jahr schlug Napoleon die Österreicher vernichtend bei Marengo, schrieb Schiller Das Lied von der Glocke, und Hölderlin schrieb vermutlich Brod und Wein. So legt es das Homburger Folioheft nahe. Und im darauffolgenden Jahr schrieb Jean Paul der Königin einen Glückwunsch zum 25. Geburtstag. Nein, es ist kein höfisch sich anschmeichelndes Carmen, sondern ein Verzeichnis der möglichen Gratulanten. Er reiht sich selbst unter Nr. 3 „Die Künstler“ ein, und dann unter Nr. 4 „Die Unglücklichen“, die danken für das Licht, „das so warm und freundlich in manches trübe leuchtet.“  

Und ich nehme mit Dank mein symbolisches „Theezeug“ und den Preis auf der silbernen Platte in Empfang, danke dem bayerischen Kultusministerium, der Jury, besonders für die Begründung, danke Michael Stolleis für seine Lobrede, meinem Verlag, der meine Arbeit aufs Schönste begleitet.


Mit freundlicher Genehmigung der Autorin