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04.08.2016, 14:33 Uhr
Laura Velte
Schullesereihe

Das Literaturportal startet eine Lesereihe an Münchner Schulen

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Schulleiterin Lydia Edenhofer; Lena Gorelik, Fridolin Schley; Fotos: Laura Velte

Seit fast zwei Jahren ist die sogenannte Flüchtlingskrise ein zentrales gesellschaftliches Thema. Nachhaltige Lösungen liegen noch fern, trotzdem lassen Solidarität und Engagement vielerorts nicht nach. Auch das Literaturportal Bayern beteiligt sich mit mehreren Projekten: 2015 war es Kooperationspartner der Buchpublikation Fremd, einer Anthologie gegen Fremdenfeindlichkeit, es hat zudem etliche Lesungen veranstaltet und unterstützt das Aktionsbündnis Wir machen das. Nun geht es noch einen Schritt weiter, oder eher: tiefer, bis an die Graswurzeln der Gesellschaft, hinein in die Schulen. Die Reihe So fremd wie wir Menschen setzt auf Lesungen und Diskussionen nicht nur mit Erwachsenen und Tonangebern, die ihre festen Meinungen oft schon haben, sondern mit Heranwachsenden, mit Schülerinnen und Schülern, die von dem Flüchtlingsthema mindestens ebenso betroffen sind und ganz eigene Erfahrungen und Blickwinkel darauf haben. Die Schullesereihe möchte mit Jugendlichen aus allen Schultypen Texte lesen, die aktuelle Situation diskutieren, über Hoffnungen und Ängste sprechen – und Anregungen zum eigenen kreativen Umgang damit bieten. Geleitet von den Münchner Autoren Lena Gorelik und Fridolin Schley, unterstützt vom Bayerischen Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst und hervorragend vorbereitet von den Lehrkräften der Joseph-von-Fraunhofer-Realschule in München fand der Auftakt am 25. Juli 2016 statt.

*

Die letzte Schulwoche vor den Sommerferien in Bayern wird überschattet von einem Amoklauf in München. Die Stadt reagierte vehement – Abriegelung, Ausgangssperre, massives Polizeiaufgebot. Auch die Menschen reagierten stark – Angst, Panik, Unsicherheit. Lange Zeit war nicht klar, ob es sich um mehrere Täter, unterschiedliche Anschlagsorte und einen terroristischen Hintergrund handelte. Verfolgte man die Berichterstattung in den Medien an jenem Abend, die lange kaum etwas sagen konnten, weil man nicht viel wusste, hatte man das Gefühl, es herrsche Krieg auf Münchens Straßen.

Heute ist klar, dass es kein Terroranschlag war, die Reaktionen auf die Ereignisse vom 22. Juli zeigen aber, wie groß die Angst in der Gesellschaft vor Terror und Anschlägen ist. Nach Paris, Nizza, Ankara, Würzburg scheinen auch die Münchner einen solchen Vorfall schon fast zu erwarten.

Ein Wochenende mit gemischten Gefühlen liegt zwischen den Ereignissen am Freitag und der Schullesung am 25. Juli mit zwei neunten Klassen der Joseph-von-Fraunhofer-Realschule. Die Münchner AutorInnen Lena Gorelik und Fridolin Schley lesen aus der Anthologie Fremd, die vor über einem Jahr entstand, um Bewegungen wie PEGIDA etwas entgegenzusetzen. Doch obwohl PEGIDA momentan nicht mehr im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit steht, haben die Texte nicht an Relevanz verloren. Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz sind präsenter denn je. Bezeichnenderweise rücken auch im Fall des Amoklaufs von München rassistische Motive schnell in den Fokus. Der gefährlichen Angst vor dem Fremden sind entsprechend die beiden Schulstunden gewidmet.

Lena Gorelik liest ihren Text Ängste, in den zwei reale Gespräche eingeflossen sind, die sie vor längerer Zeit geführt hat. Dennoch klingt die Geschichte hochaktuell. Aus dem anschließenden Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern geht vor allem eines hervor: dass die Angst sich nicht nur auf uns selbst auswirkt, sondern auch darauf, wie wir uns anderen Menschen gegenüber verhalten. In den Antworten der Schüler auf die Frage nach der Stimmung in der Stadt ist sie stets präsent, die Angst.

 

Trauer. Anspannung. Verunsicherung. Ein ungutes Gefühl, wenn man nicht zu Hause ist. So lauten die Beobachtungen und Beschreibungen der Schüler für das Wochenende. Viele haben für den heutigen Schultag zum ersten Mal seit Freitag wieder das Haus verlassen.

Gleichzeitig reflektieren die Schülerinnen und Schüler das Erlebte, wünschen sich mehr Aufklärung, einen bewussteren, verantwortungsvolleren Umgang mit Bildern und Videos angesichts der Aufnahmen, die am Freitag in der Öffentlichkeit und im Privaten kursierten. Gerade das Nicht-Wissen, die fehlende Information, die anhaltende Skepsis, die offenen Fragen sind das Gefährliche, das Gefährdende, das die heftigen Reaktionen auf den Amoklauf hervorrief – und auch nachwirkt. Angst kann sich von ihrer Ursache lösen, umfassend werden. Lena Gorelik fürchtet deshalb vor allem das, was die anhaltende Angst längerfristig mit uns macht.

Auch für den Text von Fridolin Schley mit dem Titel Zwei Mädchen im Krieg gab und gibt es reale Vorbilder – wie den Fall zweier sogenannter „Jihad-Girls“ aus Österreich: zwei junge Mädchen, die sich radikalisierten und nach Syrien gingen. Diese Thematik geht den Jugendlichen auch deshalb nah, weil es im letzten Jahr an einer Nachbarschule einen ähnlichen Fall gab. Manche kannten das Mädchen sogar. Der Text versucht, sich in eines der Mädchen, die aus freien Stücken in den Krieg zogen, hineinzuversetzen, Hintergründe und Beweggründe zu verstehen und sich so der Aufgaben unserer Gesellschaft bewusster zu werden. Denn diese Jugendlichen sind keine Monster. Es gibt Gründe für ihr Handeln. Menschliche Regungen, die die Schülerinnen und Schüler sogar ansatzweise verstehen können: Man ist plötzlich wichtig. Man wird gebraucht. Man will helfen. Und nicht zuletzt: Man sucht Abenteuer, Erlebnisse, vielleicht sogar die große Liebe. Zu glauben, es handle sich in solchen Fällen einzig um das Resultat von falschen Versprechungen und Manipulationen, ist zu einfach und bequem gedacht. Die Verantwortung dafür, dass junge Menschen aus der Mitte der Gesellschaft nach Syrien in den 'Heiligen Krieg' ziehen, kann nicht allein auf die Verführung durch eine ferne, undurchdringbare „dunkle Macht“ abgeschoben werden. Sie liegt auch hier in unserer Gesellschaft.

Der Angst und der spürbaren, aber doch so häufig unbestimmt erscheinenden Bedrohung durch das dunkle Fremde haben die Schülerinnen und Schüler aber auch selbst etwas entgegenzusetzen. Sie wollen sich nicht einschüchtern lassen, fordern gegenseitige Hilfe, ein „Zusammenrücken“, wie es die Aktion „Offene Türen“ am Freitag gezeigt hat, sowie mehr Aufklärung und gesicherte Informationen. Verantwortung statt Panikmache oder Sensationslust. Denn das Wochenende hat auch verdeutlicht: die Angst kann sich wieder legen. Man kehrt zum Alltag zurück. Man lässt sich – mit dem gebührenden Respekt für die Opfer des Amoklaufs und der anderen Anschläge der vergangenen Zeit – die Lebensfreude nicht nehmen.

 

Am Ende der beiden Schulstunden steht deshalb eine Schreibaufgabe, die sich dem Fremden noch einmal von einer ganz anderen Seite nähert. Spielerisch. Die Schülerinnen und Schüler schreiben einen Text, fünf Minuten lang, ohne den Stift abzusetzen, und müssen jeweils auf ein Stichwort bestimmte Gegenstände – Fisch, Wecker, Kassette, Pistole, Kompass, Taschenlampe – in die Geschichten einbauen. Als erster Satz steht bei allen: „Als ich den Fremden zum ersten Mal sah …“ Absurde Miniaturen entstehen dabei, aber auch unerwartet Poetisches. Beim Vorlesen der Ergebnisse wird gewetteifert, gelacht. Eine Kostprobe:

 

Als ich den Fremden zum ersten Mal sah, durchschwemmte mich ein Fluss voller Ungewissheit wie ein Schwarm zielloser Fische. Es war komisch, die Zeit verflog nur so, als ich mir ausmalte, wer diese Person sein konnte. Ob sie nett war oder unberechenbar wie ein geladener Revolver. Ich war etwas betrübt, doch ich versuchte, mich durch diese Situation hindurchzuleuchten und sie zu verstehen. So etwas war mir lange nicht mehr begegnet, es kam von weit her – wie eine der alten Kassetten, auf denen wir früher immer unsere Lieblingsmusik gehört haben. Es ist seltsam, etwas nach langer Zeit wieder ausgesetzt zu sein. Es ist ein Weg ins Ungewisse, doch der Kompass wird mich leiten und zu meinem Ziel führen, dem Ziel, eine neue Begegnung mit einem Menschen zu erleben.

 

Wie ein erneuter tiefer Einschnitt erscheint es deshalb, als die Stunde von einer Durchsage der Direktorin beendet wird, die auf die Ereignisse des vergangenen Freitags, die Trauer und die Angst hinweist und das für den nächsten Tag geplante Sommerfest der Realschule absagt. Es folgt eine Schweigeminute. Sie fühlt sich viel zu lang an.

 

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