Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 35: Friedrich Reck-Malleczewen, Tagebuch eines Verzweifelten (1947)
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
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Friedrich Reck ist der Sohn eines ostpreußischen Rittergutsbesitzers und führt den Namen Reck-Malleczewen, unter dem er später auch bekannt wird. Er erblickt 1884 auf Gut Malleczewen in Masuren das Licht der Welt, unweit der damaligen polnisch-russischen Grenze und 130 Kilometer von Königsberg entfernt. Das Gut ist seit 1850 im Besitz der Familie. Auf Wunsch seines Vaters tritt er im April 1904 als Einjährig-Freiwilliger in das 5. Thüringische Infanterie-Regiment in Jena ein und immatrikuliert sich zugleich für das Studium der Kameralwissenschaften. Doch der harte militärische Drill lässt sich nicht ertragen, und so wählt er als Ausweg die Aufnahme eines Medizinstudiums. In Königsberg, wo er sein praktisches Jahr absolviert, promoviert er im Juni 1911 mit einer Dissertation zur „Genese der Zylinder des Koma diabeticum“. Trotz seines medizinischen Abschlusses empfindet er keinen inneren Drang, Arzt zu werden. Mit 27 Jahren, bereits Familienvater, sehen seine Zukunftsaussichten düster aus. Besonders dramatisch wird seine Lage, als er seine Stellung als medizinischer Assistent an der Universität Königsberg verliert. Ein schwerer Streit mit seinem Professor führt zu einem endgültigen Bruch. So bleiben ihm nur das Bewusstsein seiner gesellschaftlichen Stellung und die Hoffnung auf ein Erbe, das ihm unter den damaligen Umständen ein sorgenfreies Leben als Privatier hätte sichern können.
Doch diese Hoffnungen erfüllen sich nicht. Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der die Zerschlagung der alten Junkerwelt bereits in vollem Gange ist, nimmt auch seine Träume mit sich. Auf Anraten seiner Frau beginnt Reck, schriftstellerisch tätig zu werden. 1911 veröffentlicht er seinen ersten Text, seine Reiseberichte finden weitreichenden Anklang. In seinem Pass, der ihm im März 1924 ausgestellt wird, lässt er sich als „Schriftsteller und Gutsbesitzer“ eintragen. Tatsächlich hat er 1920 das Schloss Schnaittach in Mittelfranken erworben, doch nach wiederholten „mysteriösen“ Ereignissen und angesichts der hohen Kosten für den Unterhalt tauscht er 1925 das Anwesen gegen das elf Hektar große Gut Poing bei Truchtlaching im Chiemgau.
1918 erscheint sein Roman Frau Übersee, zunächst als Vorabdruck im weit verbreiteten Berliner Tageblatt. Dieses Werk, das ihn als Abenteuer- und Historienschreiber der leichteren Muse etabliert, erzielt nicht nur den größten Erfolg unter seinen Büchern, es findet auch eine breite Leserschaft. Trotz der Fülle seiner schriftstellerischen Arbeiten und der Popularität seiner Werke bleibt er in den Augen der seriösen Literaturkritik weitgehend unbeachtet. Bis zu diesem Zeitpunkt zählt er zu Recht vor allem zu den Unterhaltungsschriftstellern. Dass ihn dies selbst kaum überrascht, ist verständlich, denn er schreibt in erster Linie, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Auswirkungen der Inflation treffen ihn unbarmherzig. Hinzu kommt die schwierige familiäre Situation: Seine Frau lebt mit den vier Kindern getrennt von ihm und führt einen eigenen Haushalt, dessen Unterhalt er ebenfalls bestreiten muss. Besonders gravierend ist jedoch, dass er selbst völlig unrealistische Vorstellungen von einem „standesgemäßen Leben“ hegt. Ungeachtet seiner finanziellen Lage stellt er höchste Ansprüche an seinen Lebensstil. Es müssen die besten Schneider sein, Skifahren in St. Moritz ist unverzichtbar und Hauspersonal – einschließlich einer Sekretärin – obligatorisch. DAS Geben aufwendiger Tafelrunden gehört ebenso zu seinen Gepflogenheiten wie die Pflege eines extravaganten Lebensstils, den er sowohl sich selbst als auch anderen glaubhaft vermitteln will. Zuweilen nimmt diese Selbstinszenierung fast skurrile Züge an.
Er lebt jedenfalls weit über seine Verhältnisse und verdient dabei seinen Lebensunterhalt mit Feuilleton-Artikeln, Reiseberichten und trivialen Jugendromanen, die heute zu Recht in Vergessenheit geraten sind. Reck zählt zum Umfeld der Konservativen Revolution, verachtet die liberale Demokratie und spricht von der „Verniggerung“ des modernen Menschen – kurzum, er ist ein fanatischer Reaktionär. Anfangs begrüßt er die Nazis, da er im Nationalsozialismus eine Revolte gegen die westliche Moderne zu erkennen glaubt. Doch 1936, als er mit dem Tagebuch beginnt, ist die anfängliche Hoffnung längst in Enttäuschung und schließlich in einen abgrundtiefen Hass umgeschlagen. Kaum ein anderer Kulturkonservativer, der anfangs auf das Dritte Reich gesetzt hat, entwickelt später einen so beispiellosen Hass auf die neuen Machthaber wie er. Schon bald sieht er sich und die Deutschen als Gefangene einer „Herde böser Affen“.
Friedrich Reck schrieb sein Tagebuch eines Verzweifelten in den Jahren von 1936 bis 1944. Dann wird er aufgrund einer Denunziation verhaftet und ins KZ Dachau deportiert. Dort stirbt er unter ungeklärten Umständen: „Euch da oben hasse ich im Wachen und im Traum“, schrieb Friedrich Reck, „ich werde euch hassen und verfluchen in meiner Todesstunde, ich werde euch hassen noch aus dem Grabe heraus, und es sollen Eure Kinder und Kindeskinder sein, die an meinem Fluch zu tragen haben. Ich habe keine andere Waffe gegen Euch als diesen Fluch, ich weiß, dass er das eigene Herz verdorren lässt, ich weiß nicht, ob ich Euern Untergang überleben werde …“
Dem Hass des Friedrich Reck lag eine tiefe Menschenliebe zugrunde. Und darum ist sein Hass nicht hässlich. Woher aber kam er? „Fragt man nach den geistigen Hintergründen von Reck-Malleczewens Hassausprägung, nach seiner Weltanschauung“, so Dr. Peter Czoik, „so kommt in seinen Aufzeichnungen immer wieder die kulturpessimistische Kritik an den Entfremdungsprozessen der modernen Industriegesellschaft klar zum Ausdruck. Ziel seines Angriffs ist der durchtypisierte Massenmensch.“
Und Joachim Fest schrieb 1967 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Dabei bleibt es, Seite um Seite, bis zum Ende; ein permanenter, unversöhnlicher, verzweifelter Monolog. Erbittert angesichts des dröhnenden Jubels ringsum, stumm inmitten kollektiver Rauschzustände, bewahrt Reck-Malleczewen sich die Empfindlichkeit für die tausend Zumutungen an Vernunft, Gefühl und Geschmack, die mit der Existenz unter einem totalitären Regime verbunden sind.“
Friedrich Reck-Malleczewen: Tagebuch eines Verzweifelten. Zeugnis einer inneren Emigration. Mit einem biografischen Essay von Christine Zeile. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1994
Lesen Sie nächste Woche, welche österreichische Autorin Exil und Verfolgung so mitfühlend wie desillusioniert und aus eigener Erfahrung schildert.
Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 35: Friedrich Reck-Malleczewen, Tagebuch eines Verzweifelten (1947)>
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
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Friedrich Reck ist der Sohn eines ostpreußischen Rittergutsbesitzers und führt den Namen Reck-Malleczewen, unter dem er später auch bekannt wird. Er erblickt 1884 auf Gut Malleczewen in Masuren das Licht der Welt, unweit der damaligen polnisch-russischen Grenze und 130 Kilometer von Königsberg entfernt. Das Gut ist seit 1850 im Besitz der Familie. Auf Wunsch seines Vaters tritt er im April 1904 als Einjährig-Freiwilliger in das 5. Thüringische Infanterie-Regiment in Jena ein und immatrikuliert sich zugleich für das Studium der Kameralwissenschaften. Doch der harte militärische Drill lässt sich nicht ertragen, und so wählt er als Ausweg die Aufnahme eines Medizinstudiums. In Königsberg, wo er sein praktisches Jahr absolviert, promoviert er im Juni 1911 mit einer Dissertation zur „Genese der Zylinder des Koma diabeticum“. Trotz seines medizinischen Abschlusses empfindet er keinen inneren Drang, Arzt zu werden. Mit 27 Jahren, bereits Familienvater, sehen seine Zukunftsaussichten düster aus. Besonders dramatisch wird seine Lage, als er seine Stellung als medizinischer Assistent an der Universität Königsberg verliert. Ein schwerer Streit mit seinem Professor führt zu einem endgültigen Bruch. So bleiben ihm nur das Bewusstsein seiner gesellschaftlichen Stellung und die Hoffnung auf ein Erbe, das ihm unter den damaligen Umständen ein sorgenfreies Leben als Privatier hätte sichern können.
Doch diese Hoffnungen erfüllen sich nicht. Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der die Zerschlagung der alten Junkerwelt bereits in vollem Gange ist, nimmt auch seine Träume mit sich. Auf Anraten seiner Frau beginnt Reck, schriftstellerisch tätig zu werden. 1911 veröffentlicht er seinen ersten Text, seine Reiseberichte finden weitreichenden Anklang. In seinem Pass, der ihm im März 1924 ausgestellt wird, lässt er sich als „Schriftsteller und Gutsbesitzer“ eintragen. Tatsächlich hat er 1920 das Schloss Schnaittach in Mittelfranken erworben, doch nach wiederholten „mysteriösen“ Ereignissen und angesichts der hohen Kosten für den Unterhalt tauscht er 1925 das Anwesen gegen das elf Hektar große Gut Poing bei Truchtlaching im Chiemgau.
1918 erscheint sein Roman Frau Übersee, zunächst als Vorabdruck im weit verbreiteten Berliner Tageblatt. Dieses Werk, das ihn als Abenteuer- und Historienschreiber der leichteren Muse etabliert, erzielt nicht nur den größten Erfolg unter seinen Büchern, es findet auch eine breite Leserschaft. Trotz der Fülle seiner schriftstellerischen Arbeiten und der Popularität seiner Werke bleibt er in den Augen der seriösen Literaturkritik weitgehend unbeachtet. Bis zu diesem Zeitpunkt zählt er zu Recht vor allem zu den Unterhaltungsschriftstellern. Dass ihn dies selbst kaum überrascht, ist verständlich, denn er schreibt in erster Linie, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Auswirkungen der Inflation treffen ihn unbarmherzig. Hinzu kommt die schwierige familiäre Situation: Seine Frau lebt mit den vier Kindern getrennt von ihm und führt einen eigenen Haushalt, dessen Unterhalt er ebenfalls bestreiten muss. Besonders gravierend ist jedoch, dass er selbst völlig unrealistische Vorstellungen von einem „standesgemäßen Leben“ hegt. Ungeachtet seiner finanziellen Lage stellt er höchste Ansprüche an seinen Lebensstil. Es müssen die besten Schneider sein, Skifahren in St. Moritz ist unverzichtbar und Hauspersonal – einschließlich einer Sekretärin – obligatorisch. DAS Geben aufwendiger Tafelrunden gehört ebenso zu seinen Gepflogenheiten wie die Pflege eines extravaganten Lebensstils, den er sowohl sich selbst als auch anderen glaubhaft vermitteln will. Zuweilen nimmt diese Selbstinszenierung fast skurrile Züge an.
Er lebt jedenfalls weit über seine Verhältnisse und verdient dabei seinen Lebensunterhalt mit Feuilleton-Artikeln, Reiseberichten und trivialen Jugendromanen, die heute zu Recht in Vergessenheit geraten sind. Reck zählt zum Umfeld der Konservativen Revolution, verachtet die liberale Demokratie und spricht von der „Verniggerung“ des modernen Menschen – kurzum, er ist ein fanatischer Reaktionär. Anfangs begrüßt er die Nazis, da er im Nationalsozialismus eine Revolte gegen die westliche Moderne zu erkennen glaubt. Doch 1936, als er mit dem Tagebuch beginnt, ist die anfängliche Hoffnung längst in Enttäuschung und schließlich in einen abgrundtiefen Hass umgeschlagen. Kaum ein anderer Kulturkonservativer, der anfangs auf das Dritte Reich gesetzt hat, entwickelt später einen so beispiellosen Hass auf die neuen Machthaber wie er. Schon bald sieht er sich und die Deutschen als Gefangene einer „Herde böser Affen“.
Friedrich Reck schrieb sein Tagebuch eines Verzweifelten in den Jahren von 1936 bis 1944. Dann wird er aufgrund einer Denunziation verhaftet und ins KZ Dachau deportiert. Dort stirbt er unter ungeklärten Umständen: „Euch da oben hasse ich im Wachen und im Traum“, schrieb Friedrich Reck, „ich werde euch hassen und verfluchen in meiner Todesstunde, ich werde euch hassen noch aus dem Grabe heraus, und es sollen Eure Kinder und Kindeskinder sein, die an meinem Fluch zu tragen haben. Ich habe keine andere Waffe gegen Euch als diesen Fluch, ich weiß, dass er das eigene Herz verdorren lässt, ich weiß nicht, ob ich Euern Untergang überleben werde …“
Dem Hass des Friedrich Reck lag eine tiefe Menschenliebe zugrunde. Und darum ist sein Hass nicht hässlich. Woher aber kam er? „Fragt man nach den geistigen Hintergründen von Reck-Malleczewens Hassausprägung, nach seiner Weltanschauung“, so Dr. Peter Czoik, „so kommt in seinen Aufzeichnungen immer wieder die kulturpessimistische Kritik an den Entfremdungsprozessen der modernen Industriegesellschaft klar zum Ausdruck. Ziel seines Angriffs ist der durchtypisierte Massenmensch.“
Und Joachim Fest schrieb 1967 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Dabei bleibt es, Seite um Seite, bis zum Ende; ein permanenter, unversöhnlicher, verzweifelter Monolog. Erbittert angesichts des dröhnenden Jubels ringsum, stumm inmitten kollektiver Rauschzustände, bewahrt Reck-Malleczewen sich die Empfindlichkeit für die tausend Zumutungen an Vernunft, Gefühl und Geschmack, die mit der Existenz unter einem totalitären Regime verbunden sind.“
Friedrich Reck-Malleczewen: Tagebuch eines Verzweifelten. Zeugnis einer inneren Emigration. Mit einem biografischen Essay von Christine Zeile. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1994
Lesen Sie nächste Woche, welche österreichische Autorin Exil und Verfolgung so mitfühlend wie desillusioniert und aus eigener Erfahrung schildert.