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Rezension zu Elvira Steppachers Roman „Blöße“

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© Braumüller Verlag

Das Verhältnis von Mensch und Tier sowie von Natur und Kunst befragt die Münchner Autorin Elvira Steppacher in ihrem 2024 erschienenen Roman Blöße. Ihre Sprache oszilliert dabei zwischen wissenschaftlichem Duktus und Poesie. Die Autorin Christina Madenach hat den Roman für das Literaturportal gelesen. 

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Der zweite Roman der Münchner Autorin Elvira Steppacher mit dem Titel Blöße ist im Oktober 2024 und wie das Debüt der Autorin beim österreichischen Braumüller Verlag erschienen. Der Titel verweist einerseits auf das übergeordnete Thema des Romans: Es geht um Tierpräparation, bei der der Fachterminus der Blöße für die vom Fleisch befreite Haut verwendet wird. Andererseits bedeutet der Begriff Nacktsein bzw. Nacktheit, womit ich Scham assoziiere, aber auch sich zeigen und gezeigt werden, betrachten und betrachtet werden. Mit dieser doppelten Lesart erfüllt der Titel noch eine dritte Funktion: Er gibt mir eine Anleitung für die Lektüre des gesamten Romans an die Hand, da dieser ebenfalls immer mit mehreren Deutungsebenen spielt.

Auf inhaltlicher Ebene folgt die Geschichte dem Werdegang der Protagonistin Sibylle Kinning, die Anfang der 80er Jahre den Beruf der Tierpräparatorin bei ihrem Mentor Johannes Gutenborg erlernt und darauf aufbauend eine künstlerische Karriere verfolgt. Ein weiterer wichtiger Handlungsstrang ist die Liebesbeziehung zwischen Sibylle und der Tierschutzaktivistin Moira alias Bea Matern, die durch viele Auseinandersetzungen geprägt ist und dramatisch auseinandergeht. Der Roman endet in der nahen Zukunft – im Jahr 2033 – mit der Vision eines Future-Labs, in dem mit Hilfe von Gen-Modifikationen ausgestorbene Tierarten wiederbelebt werden sollen. Auf formaler Ebene hat Elvira Steppacher ihren Roman als eine Collage von Notizen aus den Präparate-Tagebüchern der Protagonistin und aus deren Rückblicken auf das Geschehen in Briefform an ihre spätere Galeristin montiert. Die zwei Hauptaspekte, die der Roman dabei in meinen Augen verhandelt, sind Verhältnis von Menschen und Tier und die Rolle von Kunst.

Ein den Tieren gewidmeter Roman

Blöße ist der erste Roman, den ich gelesen habe, der keinen Menschen, sondern einem Amazonenpapagei und einem Waldkauz gewidmet ist: „Für Coco und Strix“. Doch auch ohne diese dezidierte Widmung würde ich den Roman als eine Verneigung vor der Tierwelt lesen. Viele weitere Tiere und Tierarten – dabei auch einige ausgestorbene – werden anhand ihrer Präparate detailliert beschrieben. Dabei nutzt Elvira Steppacher wissenschaftliches Vokabular, das sie mit einer lyrischen Sprache verbindet. Über das Präparat der Wandertaube Martha heißt es beispielsweise: „Halsabwärts, im Übergang zur Brust perlten Schimmer aus Zyklam und Aubergine. Der linke Flügel scheckte unterhalb der Schwingfedern in schwarzen unregelmäßigen Flecken, die Flug-, wie auch die langen Schwanzfedern begrenzten hauchdünne cremeweiße Bänder.“

Das umfangreiche Verzeichnis der im Text erwähnten Präparate am Ende des Buchs mutet an wie ein „Say their names“ von Tieren und Tierarten, die getötet oder ausgerottet wurden und nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Eine weitere Auflistung von fiktiven Tierpräparaten befindet sich im Roman. Hierbei handelt es sich um die von Sibylle für eine Tierschutzaktion von Moira angefertigten Präparate von Tieren, die Opfer von Laborversuchen, Massentierhaltung oder der Einschränkung ihrer Lebensräume wurden. Die Beschäftigung mit Tieren im Kontext von Tierschutz findet auch in vielen Reflektionen der Protagonistin sowie in den Auseinandersetzungen zwischen ihr und Moira statt, in denen ebenfalls die Funktion und Legitimation von Tierpräparation Thema sind.

Aber der Roman hinterfragt auch die Position der Tiere als Objekte, die beschrieben, präpariert oder geschützt werden. So denkt Sibylle über den Begriff des „Betrachtens“ nach, in dem für sie die Bedeutung der Tracht im Sinne des Fötus’ von trächtigen Tieren mitschwingt: „Wir gehen schwanger beim Betrachten, sogar, wenn es uns nicht bewusst ist. Wir suchen, und wir finden, wir tragen, und wir gebären, kurz, wir formulieren.“ Wer betrachtet, hat also die Definitionsmacht und damit die Macht über das zum Objekt gemachte Gegenüber – in dem Fall über die Tiere. An einer späteren Stelle heißt es sogar: „Wir, die Gaffer und Jäger, verhalten uns invasiv, wir sind die wahre Gefahr.“ Ich lese daraus, dass sich erst die Blickrichtung ändern muss, damit die Subjekt-Objekt-Logik zwischen Mensch und Tier aufgebrochen werden kann.

Dieser versuchte Perspektivwechsel durchzieht den gesamten Roman. Von Beginn an spricht die Ich-Erzählerin nicht nur über Tiere oder ihre Präparate, sondern adressiert diese auch direkt. Es klingt wie der Abschiedsbrief an eine geliebte Person, wenn sie ihren verstorbenen Papagei Coco betrauert: „… du : rücklings : du : tot : dein wacher Blick : so flammend : so leicht : so geschickt : und jetzt : so trübe : und jetzt : so starr : deine kleine Klaue : im Muff : so kalt : so eiskalt über Nacht.“

Während es sich bei Coco um das Haustier von Sibylle handelt, hat sie den Waldkauz Strix als Wappentier für ihre Ausbildung als Präparatorin gewählt. Auch mit diesem befindet sie sich regelmäßig im imaginären Zwiegespräch. Am Ende des Romans geht Sibylle sogar vom Du in ein Wir über, als sie im Future-Lab die Wahrnehmung des Käuzchens – unter anderem dessen ausgezeichnetes Sehvermögen – als ihre erfährt.

Risse und Spalten öffnen Räume

Mit der Frage der Perspektive hängt für mich auch die Frage nach der Rolle der Kunst eng zusammen, die in Blöße erörtert wird. In ihrer Ausbildung lernt Sibylle, Tiere möglichst naturgetreu und lebensecht zu präparieren. Außerdem werden sie zumeist festgehalten in einer Situation, die sie lebendig und nicht tot zeigt. Eine Ausnahme bildet die Lehrsammlung Gewaltsame Tode. Doch auch wenn in dieser die Präparate nicht das Leben, sondern den Moment des Todes abbilden, liegt der Fokus immer noch auf der naturgetreuen Nachahmung – ebenso bei den Präparaten, die Sibylle für die Aktion von Moira anfertigt. Sibylle konstatiert, dass sich bei Betrachtung dieser zwar der Regler „von Mitfreude zu Mitleid“ verschiebe, aber das Einfühlung noch keine Kunst mache.

Als Sibylle sich schließlich der Kunst zuwendet und für ihre künstlerische Arbeit Präparate verwendet, weicht sie auch folgerichtig von den Regeln der Präparation ab. Die Sperlinge, die sie für ihr erstes Werk präpariert, stellt sie nicht nur als tot dar, sondern lässt sie stellenweise auch unrestauriert, um auf lädierte Stellen hinzuweisen. Sie markiert die Versehrtheit der Vögel, indem sie Drähte aus den Körpern herausragen lässt und die Füllungen sichtbar macht. Bei einer späteren Installation mit dem Titel „SCHREIN DER WISSEN SCHAFFT“ gewährt sie gewissermaßen einen Blick hinter die Kulissen der Arbeit von Präparatoren, indem sie u. a. eine große Anzahl von Häuten, Balgpräparaten und weiß auswattierten Augenhöhlen ausstellt, die für sie die „Zwiespältigkeit des archivarischen Bewahrens [inszenieren]: Wir töten, was wir zu retten hoffen.“

Die Gegenüberstellung von naturgetreuen und künstlerisch bearbeiteten Präparaten lese ich als Kritik an der Wissenschaft, die über diese Darstellung von Zwiespältigkeit hinausgeht. Denn naturgetreue Präparate sollen zwar als die objektive Abbildung der Natur erscheinen, aber sie zeigen trotzdem nur einen kleinen Ausschnitt aus einer bestimmten Perspektive: der des Menschen.

Als es im Roman um Dioramen geht, die Tierpräparate in natürlichen Szenerien präsentieren, heißt es: „Im Grunde lügen Dioramen uns an. Ihre prachtvoll dargestellte Welt zeigt nie authentische Natur, so kunstvoll sie auch nachgebildet scheint. Wer nur etwas genauer forscht, sieht die wahren Regisseure, Ideologie und Politik … Sichtweisen jenseits der Totale lassen sie bewusst nicht zu. Verschiedene Perspektiven? Fehlanzeige.“ Künstlerisch bearbeitete Präparate dagegen stellen deren Künstlichkeit aus, wodurch auf die Subjektivität des Blicks bei deren Anfertigung und Betrachtung verwiesen wird. Es wird kein Anspruch auf Perfektion im Sinne von Naturähnlichkeit erhoben, wodurch Raum für Deutung und Interpretation entsteht. Dazu passt, das Sibylle von Platznähten bei älteren Präparaten fasziniert ist: „Aber die Risse forderten auch. Wohin führten denn alle diese Spalte? Was, liebe Kunstfreundin, verlangten diese von mir persönlich, was von Kunstschaffenden ganz allgemein?“

Poetologie der Durchlässigkeit

Ich sehe in Elvira Steppachers Roman nicht das Ziel, diese Risse in irgendeiner Weise zu schließen oder zu füllen. Ganz im Gegenteil: Je tiefer ich mich hineinbewege, desto mehr Leerstellen und Räume, die Platz lassen für eigene Assoziationen, eröffnen sich mir. Als poetologisches Konzept des Romans könnte gelten, was die Protagonistin über ihr Schreiben an ihre Galeristin sagt: „Der kürzeste aller Wege führt in die Irre, eben weil er direkt aufs Ziel zuhalten will. Je gerader, desto falscher. Darum werde ich versuchen, mein Schreiben aufzufalten, so weit, bis das Außen das Innen und das Innen das Außen werden kann.“

Dieses Auffalten ist im Aufbau des Romans nachempfunden. So sind die Notizen aus den Präparate-Tagebüchern, die in die Briefe an die Galeristin eingestreut sind, nicht chronologisch sortiert und auch die Schreiben an diese mäandern zwischen Erzählungen aus der Vergangenheit und den jetzigen Reflektionen von Sibylle. Die Briefe und Notizen sind stattdessen in Kapitel zusammengefasst, die jeweils aus einem deutschen Begriff und der lateinischen Entsprechung bestehen und von „PRAEPARATIO – VORBEREITUNG“ über „EXPOSITIO – AUSSTELLUNG“ zu „RECOLARE – WIEDERHERSTELLEN“ reichen. Einerseits handelt es sich dabei um Begriffe, die dem Gebiet der Präparation entnommen sind, andererseits greifen sie dazu passende Handlungselemente auf. Sie könnten aber auch auf den literarischen Zweck der jeweiligen Kapitel verweisen. Genauso öffnen die Namen der Figuren – Sibylle / Prophetin, Moira / Schicksalsgöttin, Johannes Gutenborg wie Johannes Gutenberg, der Erfinder des Buchdrucks, – weitere Interpretationsräume.

Mich erinnert die Anlage des Romans an das darin erwähnte Kunstwerk Coral Reef der Künstlerinnen Margaret und Christine Wertheim. Dabei handelt es sich um ein gehäkeltes Korallenriff, das aus vielen einzelnen Schlaufen und den dazwischen liegenden Leerräumen besteht. Durch die Wahl des Materials und durch den Fakt, dass alle Schlaufen durch einen Faden miteinander verbunden sind, betont das Kunstwerk die eigene Fragilität. Auch in Blöße sind die unterschiedlichen Themen alle miteinander verbunden und durch seine Öffnung für Interpretationen macht sich der Roman verletzlich, was bereits in seinem Titel mitschwingt.

Für mich geht es dabei vor allem um Übergang und Durchlässigkeit. Bereits zu Beginn des Romans beschäftigt sich die Protagonistin in einer Notiz unter dem Titel „Schönheit“ mit der Farbe Türkis, die für sie eine Farbe des Übergangs von Grün zu Blau darstellt und deren Schönheit in ihrer Fluidität liegt. In dem Kapitel „TRANSLUCERE – DURSCHEINEN“ findet sich dieses Thema sogar im Titel wieder, der sich zunächst auf die Dioramen bezieht, für die eine wechselweise die Vorder- und Rückseite durchscheinende Beleuchtung genutzt wird, um Tierpräparate möglichst effektvoll in Szene zu setzen. Der Titel bezieht sich aber auch auf die Vorstellung von „unsere[r] Haut …[als] dünne[m] Diaphragma, ein[em] durchlässige[n] Ausdehnungsorgan“ und der daraus resultierenden Möglichkeit, dass „wir … Körper im Übergang zur Atmosphäre“ sind. Ob das Future-Lab am Ende der richtige Weg ist, um diese Möglichkeit auszuloten, bleibt offen, und der Roman wird damit seinem Ansatz gerecht: einem Häkelkunstwerk gleich Schlaufen in alle Richtungen auszubilden.

 

Elvira Steppacher: Blöße. Braunmüller Verlag 2024, 352 S., ISBN: 978-3-99200-379-2

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