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12.07.2014, 12:59 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [435]: Warum fragmentieren sich die Menschen freiwillig?

Endlich kommt der Russe auf die Szene, an den sich der Blogger anlässlich der russischen Abenteuer erinnern sollte! Nur tritt er zusammen mit einer seltsamen Truppe von Krüppeln als – Krüppel auf:

Ein russischer Fürst von *** – ein Mulatte und Deponens von Hofmann und Vieh, dessen sichtbare Extremen sich in die unsichtbaren Extreme von Kultur und Wildheit endigten – war samt einem Rudel von Franzosen und Italienern dagewesen, die sämtlich wie ihr Altmeister die für die große Welt alltägliche Sonderbarkeit hatten, dass sie – nicht ganz waren; – für einen Weltmann ist heutzutage nichts schwerer, als aus seinem Körper nicht das zu machen, was ich mit Recht aus meiner Lebensbeschreibung mache – einen Sektor oder Ausschnitt. In der Tat sah diese fragmentarische Division wie ein Phalanx von Krüppeln aus, der zu einem Wundertäter reiset. Der meisten Glieder, die wir bei der Auferstehung nicht wiederkriegen, z. B. Haare, Magen, Fleisch, H-- und andre – daher freilich der große Connor leicht verfechten kann, ein auferstandner Christ falle nicht größer aus wie eine Stechfliege – solcher Glieder hatte sich die amputierte Junta schon vor der Auferstehung entladen oder doch viel davon weggetan.

Das ist, wenn man Schwerbehinderte nicht lustig findet, nicht wirklich witzig – aber es ist wirklich witzig, wie der Dichter die Krüppelparade charakterisiert. Sie erinnert den Blogger an den grotesken Rataplan-Chor, der vor drei Jahrzehnten in der Berliner La forza des destino-Inszenierung Hans Neuenfels' Furore machte und größere Teile des Publikums zum Schreien brachte.

Ein Russe von anno 1791, zudem noch von diplomatischem Stand, tritt uns im Bildnis des Dmitri Golizyn entgegen: leicht vorstellbar, dass ihm die rechte oder linke Hand fehlte. Schon seit 1762 diente er seiner Zarin als Gesandter in Wien, zwanzig Jahre später wurde er zum russischen Chefdiplomaten am Hofe Josephs II. ernannt. Er starb in dem Jahr, in dem der Roman erschien. Der Fürst, der in St. Petersburg aufgewachsen war und dann in Paris gelebt hatte, bevor er in Wien den Herrn Mozart bei sich – in der Krugerstraße – konzertieren ließ, war also ein „Mann von Welt“. Trotzdem könnten wir uns im Porträt, das Adam Braun im ersten Entstehungsjahr der Loge von ihm herstellte, jenen Russen imaginieren, der am Hof des Scheerauer Fürsten vorstellig wurde – abgezogen sein „Mulatten“-Dasein.

Man muss sich also doch einen Sohn des Mohren Peters des Großen vorstellen, der auch dank Puschkin einen gewissen Hauch der Unsterblichkeit abbekommen hat.

Bleibt für Jean Paul die Frage: „Warum tuns die Großen und machen sich zu Kleinen im physischen Sinn?“ Warum also fragmentieren sich die Menschen freiwillig? Er findet dafür vier Gründe, die er mehr oder weniger ausführlich erörtert: weil die Menschen zornig zu sein pflegen – weil die Menschen witzig sein wollen (wie die buckligen Herren Äsop, Pope, Scarron[1], Lichtenberg und Mendelssohn) – weil die Menschen nicht lange leben wollen – weil die Menschen ihre Seelen entkörpern wollen. Wie er das begründet: dies lese man selbst nach. Es entbehrt nicht des Witzes – zeigt aber auch, dass der Roman, genau genommen, aus Fragmenten besteht, die der Autor in seiner Schublade parat liegen hatte.

Was ja grandios zum Auftritt der seltsamen, groben und zerbrochnen Gesellschaft passt, die unsern und jeden Hof so schön wie zerbrochne Porzellan-Gefäße holländische Beete deckte.

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[1] Ah, der göttliche Scarron! Paul Scarron, der Autor des wahrhaft komischen Roman comique! Er soll, er darf hier nicht vergessen werden – weil sich der Blogger ewig, obwohl's schon über zwanzig Jahre her ist, an das Lachen erinnert, in das er bei der Lektüre des Romans ausbrach.

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