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Logen-Blog [428]: Jürgen Habermas zum 85. Geburtstag (zugleich ein Appendix zu den letzten Münchner Einträgen)

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Jürgen Habermas im Jahr 1986, rechts neben ihm Alexander Kluge (Foto: Felicitas Timpe/BSB)

Eigentlich hätte ich schon gestern, am 19. Juni, diesen Eintrag platzieren müssen – aber der Feiertag und die Folge der letzten Münchner Einträge geboten es, zunächst einmal die Reihe abzuschließen. Faszinierenderweise aber kann dieser Eintrag No. 428 getrost als Appendix zu den letzten Beiträgen gelesen werden – denn heute geht es um einen Mann, der gestern, am 19. Juni 2014, seinen 85. Geburtstag feierte. Vielleicht feierte er ihn ja dort, wo er die längste Zeit seines Lebens verbrachte und immer noch wohnt: in Starnberg am See, wo er von 1971 bis 1981 zusammen mit Carl Friedrich von Weizsäcker das inzwischen selig entschlummerte Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt leitete. Er aber blieb dort: in „einer Stadt, die aus einem Fischerdorf erst vor 100 Jahren zur Stadt herangereift ist, nachdem dort die venezianische Konstruktion des schönen Bahnhofsgebäudes errichtet, also der Eisenbahnanschluss an die Residenzstadt des bayerischen Königs hergestellt worden war“, wie er in seiner feuilletonistisch aufgelegten Dankrede Aus naher Entfernung sagte, die er aus Anlass der Verleihung des Kulturellen Ehrenpreises der Stadt München am 22. Januar 2013 im Münchner Rathaus hielt.[1]

Feiern wir also Jürgen Habermas – den man volkstümlich als den „bedeutendsten Philosophen der Bundesrepublik“ bezeichnet hat, und der auch heute noch seine Einwendungen, Diskursbeiträge und Erläuterungen zur Gegenwart abzugeben weiß, ohne dass die dumme Demenz bei ihm eingetreten wäre. Habermas war immer ein Philosoph, der zwischen Theorie und Praxis agierte, ohne sich auf das Niveau unreflektierten Krawalltums oder parteipolitischer Aktivitäten zu begeben – ein Denker, der (gewiss: komplex, doch nicht unverständlich) zwischen der Vergangenheit der Philosophie und der Gegenwart einer Verständigunsgethik argumentierte, um in einem Kraftakt sondergleichen die Grundzüge einer umstrittenen wie schier beeindruckenden Kommunikationstheorie zu entwerfen. Dafür lese man die beiden Bände des Monumentalwerks der Theorie des kommunikativen Handelns und die dazugehörigen Vorstudien und Ergänzungen, auch den 3. Band seiner Philosophischen Texte. Wenn man es genau nimmt, sind alle seine Arbeiten – zur Hochschulpolitik wie zur Religion, zur Aufklärung wie zur Politik, zum Strukturwandel der Öffentlichkeit[2] wie zur Gentechnik – Beiträge zu eben dieser zentralen Theorie aller Lebenswelten – denn geht es nicht immer um geglückte Kommunikation?

Was hat das nun, denkt sich der verwirrte Leser, mit Jean Paul zu tun? Reicht es wirklich, Jürgen Habermas in den Blog einzuschmuggeln, weil er gleichsam ein Starnberger ist und der Dichter 1820 einmal kurz am See war? „Natürlich reicht das“, denkt der schwer jeanpaulsierende Blogger. Tatsächlich aber gibt es – obwohl Habermas, wenn ich sein gewaltiges Gesamtwerk überblicke, kein einziges Mal den Dichter erwähnte –, tatsächlich gibt es interessante Verweise auf Denker, mit denen Jean Paul direkt zu tun hatte. Es sind vor allem drei Namen, die uns bei Habermas begegnen, wobei ich mich auf kurze Hinweise beschränken muss:

1. Schelling. Habermas hat seine Dissertation über Schelling verfasst, die nur deshalb wenig bekannt ist, weil er sie – möglicherweise aus guten philosophischen Gründen – später nicht mehr in seinem Hausverlag wiederveröffentlichen ließ. In seiner schönen Sammlung sozialphilosophischer Studien namens Theorie und Praxis hat er Schellings inkonsistenter Theologie und seinem Religionsverständnis dann noch einmal großen Raum gewährt: in den 1960ern schrieb er den Aufsatz Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus – geschichtsphilosophische Folgerungen aus Schellings Idee einer Contraction Gottes, den man als Text Nr. 5 im Sammelband von 1971 finden kann. Jean Paul kannte Schelling (der ja auch ein „Münchner“ war), er hatte manchen Strauss mit ihm auszufechten, was wohl darauf hinweist, dass sich Jean Paul an Schellings Sicht auf Gott und die Welt abarbeitete – und er wurde von ihm noch kurz vor seinem Tode in Bayreuth besucht.

2. An Hegel kommt niemand vorbei. Es ist kein Zufall, dass Ernst Bloch seine einzige philosophische, im Übrigen sehr umfangreiche Monographie, die er je einem Philosophen widmete, Hegel abgewann. Auch von Adorno ist ein einzelner Band über den schwäbischen Meisterdenker bekannt. Habermas hat mehrere Aufsätze veröffentlicht, in denen Hegel als Zentralsonne auftritt: Hegels Kritik zur Französischen Revolution heißt der dritte Text in Theorie und Praxis, Zu Hegels politischen Schriften der vierte. Hegels Begriff der Moderne behandelt die II. Vorlesung in der Vorlesungsreihe Der philosophische Diskurs der Moderne. Es wäre reizvoll, einmal einen Hegel-Band zu veröffentlichen, in dem die gesammelten Schriften Habermas' zu Hegel vereinigt sind – Aufsätze, in denen es, durchaus nicht nebenbei, um Hegels Überzeugung geht, dass die Philosophie und die Vernunft an die Stelle der Religion getreten sind: zum Nachteil beider. Das Thema war wie geschaffen für eine Debatte zwischen den beiden großen Geistern. Worüber hat sich Jean Paul mit Hegel wohl unterhalten? Eine Hegelschrift gibt es – wie im Falle Fichtes und der Clavis Fichtiana – bei ihm leider nicht; zum Dank schlug der Philosoph in Heidelberg vor, Jean Paul den Ehrendoktor zu verpassen. Wer den Text des Diploms studiert, könnte darauf kommen, dass diese Ehrung nicht ganz ernst gemeint war. Nein, ein Hegelianer war Jean Paul gewiss nicht – aber ich würde mich wundern, wenn sie sich nicht wenigstens am Rande über Gott und die Welt, die Revolution und die Weltläufte unterhalten hätten.

3. Jacobi. Er spielt wenigstens eine winzige Rolle im unsystematischen System des philosophischen Diskurses der Moderne: als Steigbügelhalter Hegels. Jacobis Philosophie der Subjektivität aber wird von innen her gesprengt. Jean Paul schätzte ausgerechnet diesen Philosophen, dem Habermas zwei kurze Erwähnungen in seiner Vorlesungsreihe schenkte.

Die ersten beiden Philosophen, von denen, streng genommen, nur einer heute noch, bei allen Widerständen, den zumal die Diskursethik dem Felsmassiv der Hegelschen Philosophie der Welt entgegensetzt, up to date ist, hatten das Glück, auch von Habermas diskutiert zu werden. Jean Pauls eigene Philosophie, die nie systematisch war, hatte es regelmäßig mit jenen Gegenständen zu tun, für die sich Schelling und Hegel interessiert haben: das Verhältnis der Zeit zu Gott, das Subjekt und die Welt, der Mythos und die Immanenz der irdischen Existenz. Habermas' eigene Theorie aber würde auf sehr dialektische Weise ihren Niederschlag – als „Vorschein“, wie es bei Bloch so schön heißt – gefunden haben: denn ist das Verhältnis Gustavs zur Welt nicht ein zutiefst gestörtes, das auf einer extrem ungeglückten Kommunikation beruht? Und würde er sich nicht selbst einen Gefallen tun, wenn er sich nur ein wenig auf die Spielregeln einließe, die die Diskursethik ihm theoretisch zur Verfügung stellt?

Allein, es liegt nicht in seiner Hand. Er verlässt sich eher auf die Transzendenz, die ihm Schellings Mythos gewährt – oder er hält es mit dessen Worten: „Es ist bekannt, wie viele Mühe man sich, besonders seit der Französischen Revolution und den Kantischen Begriffen, gegeben hat, eine Möglichkeit zu zeigen, wie mit der Existenz freier Wesen Einheit vereinbar, also ein Staat möglich sei, der eigentlich nur die Bedingungen der höchstmöglichen Freiheit der Einzelnen sei. Allein dieser ist unmöglich. Entweder wird der Staatsmacht die gehörige Kraft entzogen, oder wird sie ihr gegeben, dann ist Despotismus da?“[3]

Damit sind wir schon mitten drin in Jean Pauls Debatte über das Individuum und den Staat – aber noch ist der Roman ja nicht an sein Ende gelangt. Wir werden sehen, wie sich Gustav, in Zeiten der Französischen Revolution, dem Problem der Diskrepanz von Individualismus und Staat noch stellt – oder nicht stellt.

Habermas hat, wenn ich es richtig sehe, seit seinen ersten philosophischen Tagen über dieses Verhältnis nachgedacht, das in früheren Zeiten zu Revolutionen führte, heute in bedeutende Traktate und Essays mündet. Er hat das alles auch mit Blick auf jene Stadt entworfen, die Jean Paul einst besucht hatte. „München ist die Stadt, in der ich übernachtet, aber nie gelebt und gearbeitet habe, die ich gleichwohl wie ein Lebensmittel brauche“, sagte Habermas in seiner Münchner Dankrede – darauf verweisend, dass sich der „kulturelle Reichtum Münchens, wegen des gewissen ostentativen Charakters seiner höfischen Herkunft, aus der nahen Distanz sogar deutlicher“ erschließe und sich „profilierter zeige als von innerhalb seiner Mauern“. Jean Paul dürfte das radikal umgedeutet haben: nur aus der Bayreuther Distanz war ihm München vermutlich wertvoll.

Gestern wurde Jürgen Habermas 85 Jahre alt, den wir hier ehren, ohne dass er Jean Paul je mit einem Wort erwähnt hat. Er musste es nicht – er hat genug geleistet: auch für die Erschließung jener historischen wie modernen Diskurse der Aufklärung und der enttäuschten Aufklärung, in die Jean Pauls Denken und Fühlen tief eingebettet war.

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[1] Man findet sie, gleichsam als heiter krönenden Schlusspunkt dieser bemerkenswerten Schriftenreihe, im letzten Band seiner Kleinen politischen Schriften – dem XII.: Im Sog der Technokratie. Der Blogger hofft, dass es doch nicht, wie angekündigt, der allerletzte Band sein wird.

[2] Der erste Habermas, den der Blogger vor fast drei Jahrzehnten nach der Neuen Unübersichtlichkeit las: mit großer, niemals endender Faszination an der Melange von Inhalt und Stil, Anschaulichkeit und Theorie. Überflüssig zu erwähnen: auch diese historisch fundierte Analyse der Entwicklung von Öffentlichkeit, in der so viel von Jean Pauls Epoche die Rede ist, erwähnt den Namen des Dichters und Publizisten kein einziges Mal.

[3] Habermas zitierte diesen Passus aus den Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810 auf S. 174 von Theorie und Praxis.

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