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29.11.2013, 12:51 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [289]: Gedenkblatt für das Mädchen in der Kupferstraße

Die Kupferstraße war eine schöne Straße zum Spielen. Für mich war es die schönste Straße, eigentlich kam sie mir vor wie ein Saal, über dem bloß kein Dach war.

Gerade in der Mitte stand das Haus, das meinem Vater gehörte und meinem Großvater vor ihm.

Wäre Jean Paul nicht 1820, sondern ein Jahrhundert später durch Ingolstadt gefahren, wäre ihm vielleicht Marieluise Fleißer begegnet, die hier am 20. November 1901 das Licht der Welt erblickte, die sie mit ihren Texten prägen sollte – besser: mit ihrer Sprache.

Auf den ersten Blick gibt es keinerlei Gemeinsamkeiten zwischen dem Bayreuther Gesamtkunstwerkler und der Frau aus Ingolstadt, deren Dramen, Erzählungen und Romane einen schönen Platz in der Literaturgeschichte einnehmen; ihren verdienten Platz in Ingolstadt hat sie längst eingenommen, nachdem sie dort am Ende der 20er Jahre offiziell beschimpft worden war, weil man mitbekommen hatte, dass Pioniere in Ingolstadt in Berlin „Skandal“ gemacht hatten, worauf sie mit einem souveränen Brief an den Oberbürgermeister reagierte. Vorbei, fast vergessen … zumindest aufgehoben in der literarischen Chronik Ingolstadts. Was aber verbindet Jean Paul und Marieluise Fleißer?

Die Frage, ob sie sich „verstanden“ hätten, ob der Dichter einen Draht zur Verdichterin der gedrückten Lebensverhältnisse gehabt hätte, ist weniger wichtig, als die Beobachtung, dass, wann immer es um eine Analyse der Fleißerschen Kunst geht, ihre Sprache gelobt wird. Tritt man erst einmal durch die Tür ihrer Werke (oder ihres Geburtshauses, in dem sie später noch einmal lebte, und das heute eine Gedenkstätte ist, die mir freundlicherweise außerhalb der sparsam bemessenen Besuchszeiten[1] geöffnet wird)

dann besucht man zunächst eine Sonderausstellung mit Werken Klaus W. Sporers: mit schönen kalligraphischen Texten.

Fleißers ausdrucksstarke, gewaltige Sprache, die Charaktere formt und sie wie ein Bildhauer in die Hand nimmt, ihr vordergründig realistisches Weltbild, das in schonungslos geöffneten Fenstern aber eine Schau intensiver Färbungen erscheinen lässt, und eine unverfälschte Ehrlichkeit des kargen Wortes.

Ersetzt man „Bildhauer“ durch „Goldschmied“ und „kargen“ durch „reichen“: dann hat man eine Definition, die auch auf Jean Pauls Sprach- und Charakterisierungskunst zutrifft (wobei „karg“ sehr relativ ist). „Das Wort selbst ist wieder Bild geworden“, schrieb der berühmte Theaterkritiker Herbert Ihering im Jahre 1928.

Mag sein, dass diese Art der Sprachbehandlung der Umgebung zu verdanken ist, in die die Fleißer hinein wuchs: denn im Vaterhaus arbeitete der Vater als Schmied; die Werkstatt ist heute noch, linksseits des Eingans, in ihrem rohen Zustand zu sehen. Kein Wunder, dass sich viele Freunde Marieluise Fleißers wünschen, dass dieser Teil des Hauses nicht zu Tode restauriert wird. Er sollte so bleiben, unbedingt; für Ausstellungen wie diese ist er ideal geeignet.

Und der sogenannte Charakter? Er wurde auch im Falle Jean Pauls durch die „Heimat“, den sozialen Ort, in diesem Fall das Pfarrhaus geprägt. Jean Pauls Eigensinnigkeit, die recht eigentlich unerklärbar ist, entsprang in seiner Landschaft; hinzu kamen die literarischen Prägungen aus der „großen weiten Welt“. Jean Paul war ein Besessener, der unbeirrt seinen Weg ging: ungeachtet des Hungers und der Erfolglosigkeit. Er hatte eine Aufgabe – zu schreiben; wobei die Frage, für wen er schrieb, seltsam unwesentlich war. Niemand, der besessen ist, schreibt nur für fremde Adressaten, er schreibt zunächst einmal für sich selbst. Marieluise Fleißer hat, wie sie 1973, kurz vor ihrem Tod, gesagt hat, für jene geschrieben, die entschlossen sind, zu erkennen. Ich schreibe für jene, die sich nichts vormachen lassen. Dies gilt in vollem Maße für den Dichter der Unsichtbaren Loge, den Aufklärer, den sog. Gesellschaftskritiker – aber hatte er wirklich einen anderen Leser im Blick, als er am Schwarzenbacher Schreibtisch saß? Dass Christian Otto seine Manuskripte lesen und ihn kritisieren durfte – ist das wichtig für seine Besessenheit?

Nicht zu spät hat man Marieluise Fleißer nach Ingolstadt zurückgeholt, nachdem sie hier schon jahrelang (wieder)wohnte. Die Ingolstädter haben sie inzwischen in der Fußgängerzone aufgestellt, in der schönen Theresienstraße, vor dem Haus Nr. 1, in dem sie und ihr Mann ihr Geschäft hatten, aber hat Marieluise Fleißer „Ingolstädter Literatur“ geschrieben? Ja und Nein – im schön gestalteten und edierten Band Aus der Kupferstraße. Ingolstädter Texte aus 50 Jahren finde ich im Vorwort Siegfried Hofmanns einige Sätze, die – abgesehen davon, dass sich ein gewaltiger Teil des Jeanpaulschen Werks aus Literatur speist – auch auf den „Provinzler“ Jean Paul zutreffen: „Das Wunder im Werk Marieluise Fleißers liegt nicht zuletzt darin, dass sie ihr ‚Material‘ aus ihrem eigenen Erleben ‚zu einem beträchtlichen Teil in Ingolstadt‘ nimmt, dass sie aber zu keiner Stunde Heimatdichterin war, sondern das aus den Quellen ihres Erlebens in dieser Stadt Erhobene in Allgemeingültiges verwandelt.“

Fotos: Frank Piontek, 27.11. 2013

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[1] Das haben diese Besuchszeiten mit den Öffnungszeiten im E.T.A.-Hoffmannhaus in Bamberg gemein.