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Autograph von Johann Esaias Seidel (c) Historische Druckerei J. E. v. Seidel Sulzbach-Rosenberg
Luitpoldplatz 4
92237 Sulzbach-Rosenberg
Leitung: Maria Müller
Telefon: 09661/8159024
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Kontakt:
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Historische Druckerei J. E. von Seidel

Die heute noch als Immobilienhüterin existierende J. E. v. Seidel GmbH & Co. KG geht auf die erste, 1664 von Abraham Lichtenthaler errichtete Sulzbacher Druckerei zurück. Zu dieser Zeit befindet sich das Interesse an Dialog und Diskussion, an experimentierfreudiger Geistestätigkeit, an Buchkultur, Druckkunst und Literatur in voller Blüte. Der Gelehrtenhof von Pfalzgraf Christian August (1622-1708) und seinem Hofkanzler Christian Knorr von Rosenroth (1636-1689) wird im Barock zum Zentrum eines europäischen Netzwerks, auch Leibniz besucht ihn. Ihre tolerante Religionspolitik lässt ab 1664 vier Buchdruckereien und 1666 eine Judengemeinde entstehen.

1780/85 wird die Seidelsche Offizin nach dem Tod des letzten Inhabers von dessen Neffen Johann Esaias (ab 1821: von) Seidel übernommen. Der innovative Kommerzienrat vereinigt sie bis 1797 mit weiteren örtlichen Druckereien, gründet Filialen in Amberg, Nürnberg und München. 1807 erwirbt er das Sulzbacher Schloss und lässt es zum mondänen Firmensitz mutieren. Der Ungunst jener Krisenzeit aber fallen Seidels moderne Pläne zur Etablierung einer dritten deutschen Buchmesse in Nürnberg sowie einer Staatsbuchdruckerei in München zum Opfer. 1827 erben beide Söhne das Unternehmen. 1838 begründen sie die Erfolgsserie der „Sulzbacher Kalender“, die erst das Naziregime abwürgen wird. Druckerei, Verlag und Buchhandlung gehen bereits 1854 an den Regensburger Friedrich Pustet über.

Frühere Ansichten: von außen, Schild, von innen (c) Historische Druckerei J. E. v. Seidel Sulzbach-Rosenberg

Nach dem Umzug 1863 vom Schloss in kleinere Räume am Marktplatz nimmt Dietrich Wotschack das Firmenruder in die Hand. Seine Familie führt den Betrieb in vier Generationen bis über die Schwelle der Jahrtausendwende (ab 1976 nur noch als Buchhandlung) und rettet mit fast heroischem Traditionsbewusstsein die in Einzelstücken bis ins 16. Jahrhundert zurück reichenden Schätze in die Gegenwart. Vom selben Geist beseelt haben die Erben des Verlags dieses einzigartige Ensemble bayerischer Kulturgeschichte vor Ort sorgfältig bewahrt und in ersten Ansätzen der Forschung erschlossen.

Bibliotheksgewölbe, Büste von J. E. von Seidel (Foto: Markus Lommer), Rohbogenlager (c) Historische Druckerei J. E. v. Seidel Sulzbach-Rosenberg

Im Jahr 1977 eröffnet Walter Höllerer das Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg mit einer Ausstellung zum 150. Todestag des Verlegers Seidel, die der letzte Inhaber der Buchhandlung, Ingomar Wotschack, konzipiert. Bei seinem plötzlichen Tod 2006 hinterlässt Wotschak einen in zehn Generationen Firmengeschichte gewachsenen Kosmos historischer Hinterlassenschaften, von dessen ganzer Dimension zunächst keiner weiß. Bald nach Aufnahme erster Sichtungsarbeiten gibt es einen Knalleffekt: die Entdeckung einer unpublizierten Bildergeschichte von Wilhelm Busch. Als Vorgängerversion von Max und Moritz verifiziert, löst Der Kuchenteig 2008 ein internationales Medienecho aus. Doch dies ist sicher nicht der letzte Streich ...

Kuchenteig-Editionen, Druckerhandbuch von 1791, heutige Außenansicht des Gebäudes (c) Historische Druckerei J. E. v. Seidel Sulzbach-Rosenberg

Führende Experten sprechen vom wohl bedeutendsten Bestand aus der Überlieferung des deutschen Verlagswesens. Im Archivalienbestand finden sich Briefkopierbücher (1813-1917), Rechnungsjournale, Haupt-, Konten-, Kassen- und Lagerbücher (ab 1785/1807), Setzer/Drucker-Tagebücher, Urkunden (u.a. barocke Druckprivilegien), Rechnungen, Akten, Autorenmanuskripte und -briefe, Pläne und Landkarten, Lauftaschen zu Akzidenzdrucksachen, „Bücherzettel“, Lokalzeitungen (ab 1771) und anderes mehr. Der Buchbestand umfasst mehrere Privatbibliotheken der Inhaberfamilien, die Handbibliotheken von Druckerei, Verlag und Buchhandlung (incl. Großhandelskataloge 1785-2006) sowie der Kalenderredaktion, außerdem rund 90% aller 1785-1965 gedruckten ca. 1500 Titel plus Rohbogen- und Fertigwarenlager des 19. Jahrhunderts.

Hinzu kommen an die 4000 Druckformen (Kupfer-, Stahl-, Holzstiche, Holzschnitte usw.), zahlreiche Letternkästen mit Schriften bis aus dem 18. Jahrhundert, Maschinen, Werkzeuge, Mobiliar und andere Ausstattungsteile aus Druckerei, Verlag, Buchhandlung und Privatwohnung, dazu Musikinstrumente, Textilien, Skulpturen, Gemälde, Grafiken und vieles mehr. Damit birgt Sulzbach-Rosenberg in originalen Raumkontexten einen denkbar umfassenden Bestand einer bayerischen Traditionsfirma des Buchwesens. Einen solch singulären Schatz konservatorisch korrekt zu bewahren und weiter zu erschließen, ist eine ebenso dankbare wie dringliche Aufgabe der allernächsten Zukunft. Zwischen Literaturarchiv und Knorr-von-Rosenroth-Gesellschaft wäre dies der konsequente Schlussstein kulturwissenschaftlicher Einrichtungen in der oberpfälzischen Stadt.

Verfasst von: Dr. Markus Lommer, seit 2002 ehrenamtlicher Stadtheimatpfleger von Sulzbach-Rosenberg
Sekundärliteratur:

Wilhelm Busch, Der Kuchenteig. Eine Bildergeschichte. Mit einem Essay herausgegeben von Andreas Platthaus (Insel-Bücherei Nr. 1325), Berlin 2010

Wilhelm Busch, Der Kuchenteig. Originalgetreue Faksimileausgabe der Bildergeschichte. Begleitheft von Markus Lommer, Sulzbach-Rosenberg 2010

Hans Ries, Der Kuchenteig. Eine Neuentdeckung im Busch-Jubiläumsjahr 2008, in: Satire. Mitteilungen der Wilhelm-Busch-Gesellschaft e.V. Nr. 71 (2009), S. 43-54

Markus Lommer (Hrsg.), Johann Esaias von Seidel (1758-1827). Zum 250. Geburtstag eines bayerischen Verlegers (Schriftenreihe des Stadtmuseums und Stadtarchivs Sulzbach-Rosenberg, Band 23), Sulzbach-Rosenberg 2008 (mit Verlagsbibliographie und Sekundärliteratur)