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12.07.2023, 11:16 Uhr
Katrin Hillgruber
Gespräche
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Der ukrainische Literaturstipendiat Vitaliy Chenskiy in der Villa Concordia

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© Villa Concordia

Vitaliy Chenskiy stammt aus Mariupol, ist ein sehr genauer, origineller Beobachter und kennt sich in mehreren Welten aus. Er wurde 1975 als Sohn eines Ingenieurs des Metallurgischen Kombinats Asow-Stahl geboren, das letzten Sommer im Ukraine-Krieg traurige Berühmtheit erlangt hat. Chenskiy arbeitete selbst sieben Jahre als Ingenieur bei Asow-Stahl, bis er seiner wahren Berufung als Journalist, Schriftsteller und Dramatiker folgte.

Derzeit ist er Literaturstipendiat des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg, wo er sich heute Abend mit einer szenischen Lesung präsentiert. Einige seiner Texte wurden in das Buch A Dictionary of Emotions in a Time of War (Ein Wörterbuch der Gefühle in Zeiten des Krieges) aufgenommen, außerdem nimmt er an dem von dem US-Amerikaner John Freedman initiierten Projekt „Worldwide Ukrainian Play Readings“ (Weltweite Lesungen ukrainischer Stücke) teil, bei dem rund um die Welt Theaterstücke ukrainischer Autorinnen und Autoren rezitiert werden. Darüber sprach er mit der freien Journalistin Katrin Hillgruber.

*

K.H.: Lieber Vitaliy Chenskiy, wir haben uns im August 2018 in Ihrer Heimatstadt Mariupol kennengelernt. Dort beteiligten Sie sich an dem von Verena Nolte gegründeten ukrainisch-deutschen Schriftstelleraustausch „Eine Brücke aus Papier“ (www.paperbridge.de). Seit 2005 leben Sie in Kijiw, doch nun hat der russische Angriffskrieg auch für Sie alles verändert: Nach einem Stipendium für „Artists at Risk“ (Künstler in Gefahr) im Norden Finnlands sind Sie seit April Stipendiat des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg. Wie geht es Ihnen in Oberfranken?

VITALIY CHENSKIY: Da gibt es einen großen Unterschied: Der Aufenthalt auf der Hailuoto-Insel war geprägt von der hübschen Leiterin und vom vielen Schnee ... Bamberg ist ein Ort mit reicher Geschichte, wunderschöner Architektur und vielen Touristen auf den Straßen. Mir ist aufgefallen, dass in Finnland und Deutschland, also Ländern, in denen Frieden herrscht, zyklisch gedacht wird, was die Wiederholung von Ereignissen angeht. Und ich spüre, wie ich selbst in diese zyklische Routine gerate. Doch ich bin überzeugt davon, dass der Zeitpunkt kommen wird, an dem die Geschichte einen Schritt weiter gehen muss, und der Krieg in der Ukraine ist paradoxerweise nur der Beginn dieses Prozesses.

Sie sind auch als Journalist und Prosaautor bekannt. Warum haben Sie sich für das szenische Schreiben entschieden, um Ihre Kriegserfahrungen zu reflektieren?

Ich liebe Prosa, aber sie ist eine langsamere Form der Kreativität, das szenische Schreiben ist viel schneller. Prosa ist introvertiert, das Drama extrovertiert – und es erlaubt mir, mit einer großen Anzahl von Menschen zu kommunizieren. Es ist mein Vehikel, das mir ermöglicht, die Welt zu bereisen und neue Dinge zu sehen und kennenzulernen. Prosa bedeutet die Kommunikation mit einem selbst. Das ist zwar auch wichtig, aber dafür bräuchte ich ein Langzeit-Stipendium und inneren Frieden.

Sie wurden 1975 als Sohn eines Ingenieurs des Asow-Stahlwerks in Mariupol geboren. Ihr Theaterstück Das ist gut (aus dem Russischen von Lydia Nagel) haben Sie in Finnland geschrieben. Beruht es auf Gesprächen mit Freunden, die die Schlacht um Mariupol überlebt haben?

Als ich mit meinen Freunden sprach, stellte ich fest, dass sie zahlreiche Erinnerungen an die Schlacht um Mariupol haben. Diese Erinnerungen, von denen es jetzt so viele gibt, sollten nicht verlorengehen. Deshalb bestand meine Aufgabe darin, ein etwas ungewöhnliches Werk über den Krieg zu verfassen, das imstande ist, die Leserschaft und das Publikum zu fesseln.

Während die Figuren Ihres Stücks Das ist gut von ihren erschütternden Kriegserfahrungen berichten, bewahren sie stets einen wunderbar sarkastischen Humor. Warum haben Sie Ihre Protagonisten Pampinea, Pamfilo und Galeotto genannt? Streben Sie mit der Namensgebung eine Art universeller Gültigkeit an?

Diese Namen stammen aus Giovanni Boccaccios Novellenzyklus Das Dekameron, bis auf Valera, das ist ein ukrainischer Name. Ich habe diese Namen gewählt, weil ich eines Tages festgestellt habe, dass meine Figuren ebenfalls aus einer unglückseligen Stadt fliehen. Als sie dann in Sicherheit sind, erzählen sie sich gegenseitig ihre Geschichten. Für mich ist auch der Gesichtspunkt wichtig, dass Krieg in der Kunst aktuell als Kampf zwischen Gut und Böse dargestellt wird. Ich wollte den Krieg wie eine Seuche schildern. Und ich entdecke immer neue Bedeutungen in diesem Text, so dass ich weiter darüber nachdenke.

Der Titel Ihres Stücks Robinson (aus dem Russischen und Ukrainischen von Lydia Nagel) erinnert an den einsamen Insulaner Robinson Crusoe in Daniel Defoes gleichnamigem Roman. Ich vermute, das hat etwas mit Ihrer eigenen gegenwärtigen Situation in West-Europa zu tun?

Ja, sicher. Ich glaube, dass der Krieg einen Menschen einsamer macht, obwohl die Kommunikation mit anderen und die Zahl an Ereignissen anwächst. Mir scheint aber, dass sich der Einzelne dabei immer mehr isoliert. Der Fluss an Emotionen und Informationen verengt sich, was eigentlich paradox ist.

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