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Tukan-Preis 2013 geht an Dagmar Leupold

In seiner heutigen Sitzung beschloss der Kulturausschuss des Münchner Stadtrats, den diesjährigen Tukan-Preis der Stadt München an Dagmar Leupold für ihren Roman Unter der Hand (Jung und Jung) zu vergeben.

Der mit 6.000 Euro dotierte Tukan-Preis zeichnet alljährlich eine sprachlich, formal und inhaltlich herausragende literarische Neuerscheinung aus. In die Auswahl kommen alle belletristischen Veröffentlichungen von Münchner Autorinnen und Autoren. Zu Diskussion standen in diesem Jahr insgesamt 73 Bücher, die von der Jury in fünf Sitzungen besprochen und bewertet wurden.

 

Jurybegründung

„Minna, die Ich-Erzählerin in Dagmar Leupolds Roman Unter der Hand, ist 51 Jahre alt – und genauso lang friert sie schon. Ihre unstillbare Sehnsucht nach menschlicher Wärme führt sie darauf zurück, dass sie als Frühgeburt auf die Welt kam, gewärmt von rotlichtbestrahlten Rheinkieseln anstelle der Mutterbrust. Unbehaust fühlt sich Minna deshalb auf der Welt, wie ein „blinder Passagier im Lebensschiff“. Mit Gelegenheitsjobs, House-Sitting, Schreib- und Korrekturarbeiten sowie als Nachhilfelehrerin hält sie sich über Wasser – eine neue Geldquelle hat sich allerdings in Gestalt des mysteriösen italienischen Mäzens Vico aufgetan, in dessen Auftrag sie Berichte über ihr Leben als „Glücksmissionarin“ abfasst. 

Minnas Existenz ist prekär im umfassenden Sinne. Genauso wie ihre beruflichen Tätigkeiten sind auch ihre Beziehungen jederzeit kündbar. Dann aber lernt sie Lotte kennen, eine ältere Dame, und verliebt sich in den frühpensionierten Lehrer Heinrich. Aber schließlich droht auch dieses fragile Ersatzfamilienglück, das sich für einen kurzen Sommer „unter der Hand“ herausgebildet hat und zu dem auch die beiden schwererziehbaren Nachhilfe-Schüler gehören, zu zerbrechen.

In ihrem Roman, der nicht zuletzt durch die hohe Formulierungskunst besticht, erzählt Dagmar Leupold die desolate Lebens- und Liebeslage einer nicht mehr jungen Frau. Die so amüsante wie abgründige Darstellung dieser unerlösten Existenz ist angereichert mit treffenden Beobachtungsskizzen, glänzenden Aperçus und hinreißenden szenischen Miniaturen. Dagmar Leupold zeichnet das Lebensgefühl der unerträglichen Leichtigkeit des Seins am Schicksal einer Frau nach, die ihre Unabhängigkeit als Phantomschmerz vergangener Verluste spürt.

Denn zugleich ist Unter der Hand das Porträt einer Zwischen-Generation von „Verspäteten“. Die Angehörigen dieser denkbar unheroischen Alterskohorte betrachtet die Erzählerin als Resteverwerter der Freiheiten, welche die 68er erkämpft hatten, und deren „noch warme Laken und Kissen“ diese Nachzügler weiter beschlafen, „ohne die Betten bauen zu müssen“. Diese Minna ist also auch die exemplarische Repräsentantin einer Generation, für die Freiheit und Emanzipation zur leeren Beliebigkeit geworden sind und die sich selbst als parasitär empfindet. Man wird sich Minnas Namen merken müssen, denn es gibt nicht viele Bücher, die so geistreich und gefühlsgenau Bilanz ziehen. „Unter der Hand“ ist ein dunkel abgetönter, ebenso leiser wie emphatischer Roman, ein modernes Märchen aus unserer Mitte, großer Stilgenuss und intellektuelles Vergnügen in einem.“

Dagmar Leupold, Jahrgang 1955, studierte Germanistik, Philosophie und Klassische Philologie und promovierte in New York. Sie hat seit 1988 zahlreiche – mehrfach ausgezeichnete – Romane, Lyrikbände und Essays veröffentlicht, lebt als Schriftstellerin in München und leitet seit 2004 das „Studio Literatur und Theater“ der Universität Tübingen.

Der Jury des Tukan-Preises gehörten in diesem Jahr an: Julia Bähr (Literaturjournalistin), Niels Beintker (BR/Literatur), Prof. Dr. Britta Herrmann (Uni Münster), Michael Lemling (Buchhandlung Lehmkuhl), Christopher Schmidt (Süddeutsche Zeitung, Dr. Elisabeth Tworek (Monacensia) sowie aus dem Stadtrat Dr. Ingrid Anker, Beatrix Burkhardt, Thomas Niederbühl, Marian Offman und Klaus Peter Rupp.

Die Jury sprach – wie jedes Jahr – weitere Buchempfehlungen aus; genannt wurden die folgenden Titel:

  • Björn Bicker, Was wir erben, Verlag Antje Kunstmann
  • Jonas Lüscher, Frühling der Barbaren, C.H. Beck
  • Petra Morsbach, Dichterliebe, Knaus.

Die öffentliche Preisverleihung durch Bürgermeisterin Christine Strobl findet am Dienstag, 3. Dezember 2013, um 19.30 Uhr im Literaturhaus statt. Dr. Hans-Dieter Beck, Leiter des Tukan-Kreises, spricht Grußworte. Die Laudatio hält Norbert Niemann. Musik: Anja Lechner (Cello).

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