Info
Geb.: 29.12.1947 in Hamburg
Gest.: 3. 8.2024 in Augsburg
Carl E. Ricé, 2018 © Gerald Fiebig
Namensvarianten: Carl Ricé

Carl E. Ricé

Carl E. Ricé (gesprochen: Riké) wird 1947 in Hamburg geboren und lebt ab Mitte der 1960er Jahre in Bayern. Ab 1991 tritt er als Literatur-Erzähler auf und trägt eigene Geschichten, aber auch Stoffe der Weltliteratur, frei vor. Sein Hauptwerk, die Erzähl-Performance Das Kainszeichen. Geschichte einer Vergewaltigung, bringt er 1992 zur Uraufführung. Carl E. Ricé stirbt am 3.8.2024 im Alter von 76 Jahren in Augsburg.

Werdegang

Nach der Schule beginnt Ricé in Hamburg eine Ausbildung als Chemielaborant in einer Raffinerie. Im Zuge dieser Berufstätigkeit zieht er Mitte der 1960er Jahre ins bayerische Ingolstadt um. In Ingolstadt engagiert sich Ricé in der „Kampagne für Frieden und Abrüstung“. Im Rahmen seiner politischen Tätigkeit knüpft Ricé Kontakte zu mehreren Rechtsanwälten. Er zieht nach München um und beginnt eine Ausbildung zum Rechtsanwaltsgehilfen, die er 1973 abschließt. In den 1970er und 1980er Jahren zieht Ricé im Großraum München-Augsburg mehrfach um und geht verschiedenen beruflichen Tätigkeiten nach. Von 1987 bis zu seinem Tod 2024 wohnt er im Augsburger Stadtteil Pfersee. 

1991 macht sich Ricé als freischaffender Künstler selbstständig. Ab Mitte der 2000er Jahre ist er für mehrere Jahre ehrenamtlich als Jugendschöffe tätig. Von 2004 bis 2019 tritt Ricé als Statist und Kleindarsteller auf der Bühne des städtischen Theaters Augsburg (ab 2017 Staatstheater Augsburg) auf. In der Beatles-Inszenierung Das Weiße Album mit Texten von Roland Schimmelpfennig verkörpert er unter der Regie von Wiebke Puls und Tom Stromberg von 2012 bis 2013 den Mörder von John Lennon. 

Wichtige Werke (Auswahl)

Seinen ersten Auftritt als Literatur-Erzähler hat er 1991 bei den 1. Augsburger Literaturtagen unter der künstlerischen Leitung von Wolfgang Kunz. 1992 führt er in Augsburg erstmals die Erzähl-Performance Das Kainszeichen. Geschichte einer Vergewaltigung auf, eine auf eigenen Erfahrungen basierende Erzählung über sexuellen Missbrauch an einem Jungen. In Zusammenarbeit mit psychotherapeutischem Personal des KinderschutzZentrums München führt Ricé die Erzählung ab Mitte der 1990er mehrfach im Rahmen einer Konfrontationstherapie für pädophile Täter auf. Das Kainszeichen. Geschichte einer Vergewaltigung kann vom literarischen Gehalt und der existenziellen wie gesellschaftlichen Bedeutung her als sein Hauptwerk gelten. 2018 nimmt Carl E. Ricé seine Erzähl-Performance im Studio auf. Sie erscheint 2022 als Hörbuch. Parallel dazu erarbeiten Studierende der Sozialen Arbeit an der Technischen Hochschule Augsburg eine Broschüre zur Prävention von sexuellem Missbrauch in der Frühpädagogik. Sie stützen sich dabei auf Ricés Erzählung und seine Erfahrungsberichte aus der Arbeit mit Missbrauchstätern. Das Projekt wird vom Amt für Kindertagesbetreuung der Stadt Augsburg beauftragt. Dieses nutzt die Broschüre seit 2022 zur Weiterqualifizierung seines Personals.

Ricés erste Buchveröffentlichung ist 1993 der Erzählungsband Henker, bitte weitermachen. Er versammelt satirische Geschichten, die Ricé im Rahmen seiner Tätigkeit als „Literatur-Performer“ auch frei vorträgt.

Bereits seit Mitte der 1960er schreibt Ricé Gedichte, veröffentlicht diese jedoch nur äußerst sporadisch in gedruckter Form, etwa in den 1990er Jahren in der Augsburger Literaturzeitschrift Zeitriss. Erst 2023 veröffentlicht er den Band Schrei mit dem Wind mit Gedichten aus mehr als 50 Jahren. Der Band umfasst auch Gedichte aus dem thematischen Kontext von Das Kainszeichen, die als Teil der Erzähl-Performance aufgeführt wurden. Parallel zum Buch erscheint ein Online-Hörbuch mit einer vom Autor gesprochenen Auswahl der Gedichte.

Ab 2020 tritt Carl E. Ricé aufgrund der Corona-Pandemie und gesundheitlicher Einschränkungen nicht mehr öffentlich auf. 2023 kehrt er mit einer Lesung seiner Gedichte auf die Bühne zurück. Den Rahmen bildet die Eröffnung einer Ausstellung seiner Malerei, die seit den 1980ern entstanden, aber bis dahin nicht öffentlich präsentiert worden ist. Bei seinem Tod im August 2024 hinterlässt Carl E. Ricé den Anfang einer längeren Erzählung mit dem Titel Heute ist ein guter Tag zu sterben. Öffentlich vorgetragen wird der Text erstmals im Dezember 2024 in Augsburg im Rahmen einer Veranstaltung zu seinem Gedächtnis sowie im Januar 2025 in Ricés Geburtsstadt Hamburg.

Stil / Rezeption

Seinem Anspruch folgend, „das gesprochene Wort aus dem Gefängnis des Buches zu befreien“, rezitiert Carl E. Ricé als „Literatur-Erzähler“ Märchen und Stoffe der Weltliteratur nicht wortgetreu gemäß einer Textfassung, sondern interpretiert sie frei in einer Mischform aus Erzählung und Schauspielerei. Im Laufe seiner Karriere widmet er sich so unterschiedlichen Stoffen wie Erzählungen von Edgar Allan Poe und dem Roman Malina von Ingeborg Bachmann. Zu seinem langjährigen Repertoire zählen Eine Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens und die Geschichten vom Herrn K. von Bertolt Brecht, die er u.a. im Brechthaus und beim Brechtfestival Augsburg aufführt. Charakteristisch für seinen Ansatz ist die Anpassung der Performance an den Aufführungskontext und das dialogische Durchbrechen der Bühnensituation hin zum direkten Gespräch mit dem Publikum. Diese Techniken wendet er auch beim Vortrag seiner selbst erfundenen Geschichten an. Der fließende Übergang vom Erzählen ins Gespräch ist auch charakteristisch für Ricés Moderationsstil beim Poesiebrunch.

Auch Ricés Hauptwerk Das Kainszeichen. Geschichte einer Vergewaltigung bezieht einen großen Teil seiner Wirkung aus der persönlichen Konfrontation der Zuhörenden mit den „Signale[n] einer zerstörten Seele“ (Conny Neumann in der Süddeutschen Zeitung). „Sein Vortrag ist eine Mischform, die das Auditorium [...] von der ersten bis zur letzten Minute packt“ (Augsburger Allgemeine). Die zwischen den Genres Erzählung, Theater und Live-Hörspiel angesiedelte Performance montiert Szenen von drastischem Realismus mit alptraumartigen Märchen-Sequenzen und lyrischen Einschüben. Dem Werk gelingt es so, die physische Brutalität der Vergewaltigung ebenso zu fassen wie die Innenwelt des traumatisierten Protagonisten. 

Die meisten anderen Erzählungen von Ricé sind Satiren mit einem oft makaber-sarkastischen Humor, der Einflüsse u.a. von Roald Dahl erkennen lässt. Die Lyrik Ricés weist oft einen an Erich Kästner orientierten satirischen Ansatz auf. Andere Teile des lyrischen Schaffens verdanken wichtige Impulse der Lektüre von Wolfgang Borchert und Dylan Thomas. Auf beide Autoren nimmt Ricé in einzelnen Gedichten direkten Bezug. 

Zwei Gedichte von Ricé wurden 2024 von dem Augsburger Dichter und Liedermacher Jürgen J. Jäcklin (alias Jesus Jackson) vertont. Der Augsburger Lyriker Gerald Fiebig widmete Ricé das Gedicht „für pierre“ in seinem Band motörhead klopstöck (2020). Der Titel des Textes bezieht sich auf Pierre Noir, den Protagonisten von Ricés Erzählung Das Kainszeichen. Fiebig verwaltet auch den Nachlass von Carl E. Ricé.

Tätigkeiten im literarischen Betrieb

Von 2010 bis 2020 betreut Ricé für den MehrGenerationenTreff Pfersee die Veranstaltungsformate „Poesiecafé“ und später auch „Poesiebrunch“. Als künstlerischer Leiter und Moderator des Poesiebrunch (ab 2018 in Zusammenarbeit mit der Augsburger Schriftstellerin Alexandra Tobor) verschmilzt er Auftritte von Gästen, eigene Erzähl-Performances und Gespräche mit den Teilnehmenden zu einer „Poesie der Begegnung“.

Mitgliedschaften

Carl E. Ricé war Mitglied im Verband Deutscher Schriftsteller (VS) und in der Gewerkschaft ver.di sowie in der Bürgeraktion Pfersee „Schlössle“ e.V.

Verfasst von: Gerald Fiebig

Sekundärliteratur:

Fiebig, Gerald: Carl E. Ricé (29.12.1947 – 03.08.2024). Nachruf auf auxlitera.de (https://auxlitera.de/2024/08/06/54289/)

Kirzl, Gernot: Er holt die Zuhörer in die Geschichten. Augsburger Allgemeine Nr. 194 (22.8.1994)

Neumann, Conny: Zaghafte Signale einer zerstörten Seele. Süddeutsche Zeitung Nr. 126 (2.6.1992) 


Externe Links:

Literatur von Carl E. Ricé im BVB

Homepage des Autors