Rainer Maria Rilke in Irschenhausen

Ende August 1914 fährt der Prager Dichter Rainer Maria Rilke auf Anraten seines Arztes ins Isartal. Schon 1897 hat er dort die Sommerfrische mit seiner damaligen Geliebten, der Schriftstellerin und Muse Lou Andreas-Salomé, verbracht. In Irschenhausen begegnet er nun der Malerin und Ehefrau des berühmten Chemikers Eugen Albert, Lou Albert-Lasard. Diese hat mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges Paris verlassen und trifft in der Pension Schönblick zufällig Rilke, der gerade abreisen will. Der Beginn einer großen Liebe, die bereits zwei Jahre später wieder endet:

Es war Anfang September 1914. Ich suchte die Einsamkeit eines Gebirgsdorfs bei München auf. Gleich bei meiner Ankunft in Irschenhausen hielt mich plötzlich jemand an. Es war die Besitzerin einer kleinen Pension da oben, in welcher ich vor einem Jahr einmal abgestiegen war. Wider meinen Willen zog sie mich in ihr Haus. Ich war zu sehr in meine Gedanken versunken, um zu widerstreben, und fand mich plötzlich an einer kleinen Table d'Hôte sitzend, ziemlich geistesabwesend. Zerstreut streift mein Blick die Versammlung – hält an.

Was tut der Russe hier, denk ich, es ist doch Krieg! Und ich höre ihn reden, wie ich nie zuvor hatte reden hören, von Russland, von seinem Besuch bei Tolstoi, seinen Wegen durch die Felder mit Gorki oder von seiner Begegnung mit einem Bauerndichter und seinen Gesprächen mit dem russischen Volk, das er liebte. Wie Blitze erhellten seine Worte diese ganze russische Seelenlandschaft, diese Landschaft rastloser Seelen unter einem unendlichen Himmel.

Die Mahlzeit ging zu Ende. Ich hebe die Hand nach einer Wasserkaraffe; er ergreift sie und, das Wasser neben das Glas gießend: „Gnädiges Fräulein, ich habe Sie doch in Paris gesehen.“ – Zögernd antworte ich: „Das kann sein – dann sind Sie – Rilke?“ – „Woher wissen Sie das?“ – „Ich weiß es nicht, sind Sie's?“ – „Ach, wie konnten Sie es wissen?“ – „Ich weiß nicht.“

Alle erheben sich, um von Rilke Abschied zu nehmen, aber er sagt: „Nein, ich reise nicht. Man soll mein Gepäck wieder heraufbringen.“

Um die Menschen sich zerstreuen zu lassen und um mich zu sammeln, ziehe ich mich auf die Terrasse des Hauses zurück. Rilke kommt: „Ich bin so glücklich, in diesem Augenblick jemanden aus Paris zu treffen. Darf ich mich zu Ihnen setzen, um mit Ihnen zu sprechen?“

„Nein, ich kann mit niemandem mehr reden.“

Ein unvergesslich durchdringender Blick, klar und warm, voll Verstehens – eine tiefe Verneigung, und ich bleibe allein – wie gebannt – lange in Gedanken – auf einem Liegestuhl. (Zit. aus: Lou Albert-Lasard: Wege mit Rilke. Frankfurt am Main 1952, S. 11-13.)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek

Sekundärliteratur:

Tworek, Elisabeth (2011): Literarische Sommerfrische. Künstler und Schriftsteller im Alpenvorland. Ein Lesebuch. Allitera Verlag, München, S. 79f., S. 245.