René Prévot über München IV

Schwabings Stunde heißt Illusion. Dieser Stadtteil hat die Weite, die Dehnbarkeit eines Kontinents. Er war lange die ästhetische Experimentierstation der Kulturstadt München. Die wundersame Wahlheimat aller hergereisten Spleene; gastliche Freistatt für alle Außenseiter der Bürgerlichkeit. Ein Babelturm, der in den Himmel wachsen möchte. Da sprach jeder die Sprache seines kostbaren Ich. Jeder konnte da Meister werden in irgendeinem Kreis von Jüngern; konnte stolz mit diesem Knappentross die Leopoldstraße hinunterwandeln. Bis ans Siegestor glaubte man ihm seine Bedeutung. Da gingen gemessenen Schrittes die „Ästhetischen“, dort kamen mit interessanter Blässe die „Erotischen“ daher. Sie liebten einander nicht. Fremde, feindliche Nomadenstämme im gleichen Schlaraffenland der Einbildung.

René Prévot, Seliger Zweiklang. Schwabing Montmartre, 1948 (Zit. aus: René Prévot: Seliger Zweiklang. Schwabing Montmartre. München 1948, S. 11f.)

 

René Prévot (1880-1955), elsässischer Schriftsteller und Journalist; Aufenthalt in München: 1902 bis 1955

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek