Berlin

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An der Stechbahn in Berlin Mitte um 1830, Stich nach einer Zeichnung von Johann Heinrich Hintze

Jean Paul und Berlin

Die Stadt Berlin ist eine der wichtigsten sowohl für das Werk Jean Pauls als auch für das Leben von Johann Paul Friedrich Richter. Sein erster und deshalb wichtigster Förderer Karl Philipp Moritz lehrt an der Berliner Akademie, als Jean Paul ihm 1792 seinen Debütroman DIE UNSICHTBARE LOGE (Leseprobe) zusendet; Moritz vermittelt den Text an seinen Schwager, den Berliner Verleger Karl Matzdorff.

Acht Jahre später, am 9. Juni 1800, lernt der Schriftsteller in der Berliner Breiten Straße seine zukünftige Ehefrau Karoline Mayer kennen. Es ist sein erster Aufenthalt in Berlin, am 23. Mai 1800 kommt er in der Stadt an, schon liegt eine Einladung von Königin Luise nach Sanssouci - der er den TITAN (Leseprobe) gewidmet hat - auf dem Tisch. Er bleibt einen Monat, er wohnt bei Matzdorff An der Stechbahn, am 24. Juni fährt er wieder nach Hause. Der Entschluss, nach Berlin zu ziehen, fällt schnell - und gründet nicht zuletzt in der Eitelkeit des Autors: »Ich werde auf den Händen getragen, die sonst andere küssen.« Zu seinen Verehrern gehören auch die Romantiker: »Die neue Sekte ist gerade für mich«.

Schon im Oktober 1800 zieht Jean Paul also von Weimar nach Berlin, diesmal wohnt er zusammen mit dem Gerichtsassessor Hans Georg von Ahlefeld in der Neuen Friedrichstraße 22 (heute: Littenstraße). Hier schreibt er nicht nur den zweiten Band des TITAN, sondern auch den berühmten TITAN-Anhang DES LUFTSCHIFFERS GIANOZZO SEEBUCH; zudem beginnt er mit der Arbeit an den FLEGELJAHREN. Das städtische Leben in »Saus und Braus« und die Mechanik der Großstadt treiben offensichtlich sein Schreiben an: Die »schriftstellerische Spinnmaschine [ist] im besten Gang«, schreibt er, »und alle Räder laufen und sausen darin zum Besten dieses und der künftigen Jahrhunderte«. Zugleich erkennt er die Gefahren der Masse: In einem Brief heißt es, dass »eine große Stadt […] leicht bitter macht und den Werth der (Menschen-)Waare durch Überflus herabsezt«.

Im Mai 1801 verlässt Jean Paul Berlin: als frischgebackener Ehemann.

An der Stechbahn

Eigentlich wollte Jean Paul bereits zur Unterschrift des Vertrags über seinen zweiten Roman HESPERUS (Leseprobe) nach Berlin reisen. Bereits im Juli 1794 schreibt er an seinen Verleger Matzdorff: »Wenn Sie es der Ehre des Ihrigen würdigen, so sezet sich samt dem Drilling der Verfasser selber auf die Post und fährt als Protektor und Schirmvogt nach Berlin. Ich wollte diese Fraktur-, Regal- und Imperialstadt schon lange sehen - und dan machen wir alles mündlich und friedlich ab, ohne einen Tropfen Dinte zu vergiessen.«

Tatsächlich unternimmt Jean Paul diese Reise erst im Mai 1800. Er bleibt vier Wochen und wohnt in dieser Zeit bei Matzdorff. Dessen Haus liegt An der Stechbahn, einem Turnierplatz aus dem frühen Mittelalter, an der Rückseite des Stadtschlosses. Der Schriftsteller ist offenkundig beeindruckt sowohl von der Gastfreundschaft als auch von der Wohnung an sich - nur die soziale Unterhaltung, die Matzdorff besorgt, ist nicht ganz nach seinem Geschmack. Schon wieder zurück in Weimar berichtet er am 29. Juni 1800 an Christian Otto: »Bei Matzdorf, dessen Eltern und Frau vortreflich sind, logiert´ ich köstlich - seidne Stühle - Wachslichter - Erforschen jedes Wunsches etc. - 4 Zimmer zum Gebrauch. Meinetwegen - und seinetwegen aus Eitelkeit - lud er ein Pak Gelehrter zu sich, deren Diner von 2 bis 6 dauerte. Ich besuchte keinen Gelehrtenklub, so oft ich auch dazu geladen worden, aber Weiber die Menge.«

Von Matzdorffs Haus An der Stechbahn ist heute nichts mehr zu sehen. Der Straßenzug wird Mitte des 19. Jahrhunderts abgerissen, um das »Rote Schloss«, ein vierstöckiges Wohn- und Geschäftshaus zu errichten, das allerdings 1936 teilweise einstürzt und im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört wird. Heute bildet das Gelände einen Teil des Schlossplatzes: eine der vielen Berliner Großbaustellen.

Breite Straße

Am 9. Juni 1800 ist Jean Paul bei dem Verleger Johann Daniel Sander zu Gast, der in der Breiten Straße 23 wohnt, wo er mit seiner Ehefrau Sophie Sander regelmäßige Salons abhält. Sander hat sich in der Verlagsbranche hochgearbeitet, vor zwei Jahren hat er sich mit dem Kauf der Weverschen Verlags- und Sortimentsbuchhandlung selbständig gemacht. Er ist ein Gegner der Romantik, interessiert sich vor allem für junge Schriftsteller und avanciert später nicht nur zu Goethes Korrektor, sondern auch zur literarischen Figur in Theodor Fontanes Erzählung DER SCHACH VON WUTHENOW.

Als Jean Paul im Juni 1800 in den Sanderschen Salon geladen ist, gehört auch Geheimrat Mayer mit seiner 22jährigen Tochter Karoline zu den Gästen. Der Flirt zwischen dem Dichter und der jungen Frau führt noch am selben Abend zum Erfolg: Erst streicht er ihr - wie Karoline später ihrer Schwester Minna berichtet - das Haar aus dem Gesicht, dann fragt er sie, mit einer Träne im Auge, ob ich wohl sei: »Gott, liebe Minna, dann möchte man vergehend vor ihm niederfallen.« Am Ende des Abends ergreift sie offenbar die Initiative und küsst den vom Alkohol aufs Sofa gestreckten Jean Paul einfach auf den Mund.

Nach allerlei Eskapaden mit extrovertierten Frauen hat der Schriftsteller endlich gefunden, was er die ganze Zeit gesucht hat: »Mein Herz wil die häusliche Stille meiner Eltern, die nur die Ehe giebt. Es wil keine Heroine - denn ich bin kein Heros -, sondern nur ein liebendes sorgendes Mädgen;« Das erste der Billets, die von da an täglich zwischen der Neuen Friedrichstraße und der Mayerschen Wohnung hin und her gehen, stammt vom 6. Oktober 1800. Es kündigt den Besuch am selben Tage an und verabschiedet sich mit »Adio cara!«. Seit drei Tagen ist Jean Paul wieder in der Stadt, und er verlässt sie erst Ende Mai 1801: Seine Abreise zeigt er zugleich mit seiner Hochzeit mit Karoline Mayer an.

Die damaligen Häuser der Nummern 22 und 23 existieren heute nicht mehr. An den Stil des 18. Jahrhunderts erinnert einzig das Ribbeck Haus in der Breiten Straße 35.

Neue Friedrichstraße

Während seines ersten Berlin-Aufenthalts im Frühsommer 1800 wohnt Jean Paul noch als Gast bei seinem Verleger Matzdorff An der Stechbahn. Da er beim zweiten Mal länger zu bleiben gedenkt, sucht er ein ordentliches Logis - und findet sie bei einem Freund, dem Gerichtsassessor Hans Georg Ahlefeld in der Neuen Friedrichstraße 22.

Die Planungen beginnen bereits Monate zuvor: Ahlefeld kümmert sich um die Möblierung des Zimmers, während Jean Paul Einwände und genaue Anweisungen formuliert: »Alter, das ist gar nicht gut, daß du ein Sopha-Bette wählen must: ist denn in meiner Kammer kein Plaz? - Zweitens mus ich dich um die grössere Stube bitten, längst habe ich bei meinen peripathetischen Arbeiten kleine entwohnt. [...] Hauptsache Las mir ein Repositorium [i.e. ein Aktenregal] machen (mehr ein Papier- als ein Bücherbrett), das ich wie in Hof queer über die Stube stelle, genau so für meine Papiere machen: 6 Schuh hoch, 4 Schuh breit, die Entfernung der Fächer oder dünnen Bretter sei alzeit 5 Zolle, blos in der Mitte sei eine von 9 Zollen.« Offenbar findet Ahlefeld ein solches Repositorium, denn Jean Paul schreibt in dieser Wohnung nicht nur am TITAN (Leseprobe) weiter, sondern entwickelt zudem die Idee für die FLEGELJAHRE (Leseprobe).

Jedoch fordert die Großstadt ihren Tribut. »Wie jugendliche Musensöhne in Waffenbrüderschaft des Essens und Ausgehens« leben Ahlefeld und er, schreibt Jean Paul am 24. Oktober 1800 an Christian Otto. Und an Thieriot wenige Tage später: »Seit 3 Wochen stand ich beinahe jeden Abend unter einer neuen Stubendecke; sucht´ aber nur Weiber auf, schlecht die Gelehrten.« Allerdings läuft er nicht nur den Frauen hinterher, sondern laufen ihm auch die Frauen nach - wie Henriette Herz berichtet, die im Vorderhaus der Neuen Friedrichstraße 22 ihren berühmten Salon betreibt. Ihr gilt Jean Pauls Wohnung als »schlechtes Stübchen«, »dies hinderte jedoch nicht, dass die ausgezeichnetsten und vornehmsten Damen dort bei ihm vorfuhren und ihn besuchten.«

Das Haus Neue Friedrichstraße 22 ist längst zerstört. An dessen Stelle wurde um 1900 das Gerichtsgebäude errichtet, heute Littenstraße 12-17.

Verfasst von: Bayerische Staatsbibliothek / Dr. Peter Czoik & Katrin Schuster