Anarchismus in Bayern

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Wolfram Kastner: ARTE amore ANARCHIA

Kultur trotz Corona“ – das Motto, mit dem die Kulturschaffenden ermutigt werden, ihre kulturelle/künstlerische/literarische Arbeit fortzusetzen, beinhaltet durch die Präposition „trotz“ einen Appell an den Widerstandsgeist. In der Auseinandersetzung mit den aktuellen Begrenzungen ist es notwendig, neue Inhalte und Formen zu kreieren. „Die Phantasie an die Macht“ lautete die Devise der Protestbewegung vom Mai '68 in Frankreich, wenige Jahre später forderte die Band Ton, Steine, Scherben um Rio Reiser „Keine Macht für Niemand“. Anarchismus als Programm? Kaum ein anderer Begriff ist so gründlich missverstanden worden.

„Anarchie gleich Chaos – so ein sorgfältig gepflegtes Vorurteil. Aber Herrschaftsfreiheit heißt nicht unbedingt Unordnung. Tatsächlich bündelt der Anarchismus ein schillerndes Aufgebot utopischer Ideen – und ist damit hochaktuell“, gibt der Autor Rolf Cantzen in der „Langen Nacht über Anarchismus“ am 2. Mai 2020 im Deutschlandfunk zu bedenken.

Die anarchistische Idee von der Herrschaftslosigkeit, der Ablehnung von Gott und Staat als Herrscher über das eigene Leben, taucht in der Philosophie, in politischen Bewegungen und als Lebensform auf. Philosophisch lässt sich der Anarchismus in zwei Richtungen einteilen: auf der einen Seite individualistisch orientiert wie bei Max Stirner und Henry David Thoreau, auf der anderen Seite gesellschaftlich-sozialistisch orientiert wie bei Pierre Joseph Proudhon, Michail Bakunin, Peter Kropotkin, Emma Goldman, Alexander Berkman, Gustav Landauer und Erich Mühsam.

Politische Bewegungen, die Anarchismus beinhalten, sind die Pariser Kommune 1871, die Machno-Bewegung in der Ukraine 1918-1922, der Kronstädter Matrosenaufstand 1921, der Spanische Bürgerkrieg 1936-1939, die Studentenbewegung 1968 sowie die Occupy-Bewegung Occupy Wallstreet 2011.

Als Lebensform reicht der Anarchismus vom Thoreaus Walden Pond, über die Schwabinger Bohème (Wahnmoching), den Monte Verità in Ascona bis zu Woodstock, den Höhepunkt der Hippie-Bewegung, und die damit verbundenen Landkommunen-Projekte.

Allein dieser kurze Überblick zeigt, dass sich mit dem Begriff Anarchismus ein vielfältiges Programm verbindet, dessen Hauptforderung darin besteht, ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit zu führen. Rolf Cantzen versteht ihn als „Lebenselixir“ für die Demokratie und zitiert den Anarchisten und Kognitionspsychologen Rainer Mausfeld: „Anarchismus und Demokratie sind in den Zielen fast deckungsgleich, nämlich eine menschenwürdige Gesellschaft zu konzipieren und zu realisieren.“ (Rolf Cantzen, „Die lange Nacht über Anarchismus“, Deutschlandfunk Kultur, 2. Mai 2020)

Dieser Themenessay widmet sich nicht der Geschichte des Anarchismus, die vielfach – speziell auch für Bayern – wiedergegeben wurde, sondern der aktuellen Lebensform, wie sie heute von Künstler*innen verschiedener Sparten in Bayern praktiziert wird. Dazu angeregt hat u.a. der kürzlich verstorbene Ethnologe und Anthropologe David Graeber (1961-2020). Er war Mitaktivist bei der Occupy-Wall-Street-Bewegung und engagierte sich praktisch und theoretisch für eine gewaltfreie Gesellschaftsveränderung. International bekannt wurde er mit seinem Buch Schulden – die ersten 5000 Jahre. In dem Gesprächsband Anarchie – oder was? liefert er Einblicke in sein Verständnis des Begriffs.

Wenn mich jemand fragt, warum ich Anarchist geworden bin, sage ich immer, dass die meisten Leute gar nicht der Ansicht sind, Anarchismus sei ein Irrweg. Sie halten ihn schlicht für verrückt. „Du willst sagen, alle gemeinsam sollten für das Gemeinwohl arbeiten, ohne Befehlshierarchien, Gefängnisse und Polizei? Klingt toll. Träum weiter. Das wird niemals funktionieren.“ Ich wurde aber nicht in der Annahme erzogen, dass Anarchismus verrückt ist. Mein Vater hat bei den Internationalen Brigaden in Spanien gekämpft. Er war beim Sanitätskorps in Benacasim nahe Barcelona stationiert und bekam unmittelbar mit, wie eine nach anarchistischen Prinzipien organisierte Stadt funktioniert. [...] Ich bin in einem Elternhaus großgeworden, in dem Anarchismus nicht als verrückt galt, sondern als legitime politische Einstellung. Und wenn dem so war, gab es dann einen vernünftigen Grund, kein Anarchist sein?

(David Graeber in: Anarchie – oder was?, Zürich 2020)

Verfasst von: Gunna Wendt

Sekundärliteratur:

Linse, Ulrich: Anarchismus (publiziert am 11.05.2006). In: Historisches Lexikon Bayerns, URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Anarchismus, (29.03.2021).