Von Norbert Niemann

Das Wort Heimat stellt mich immer wieder aufs Neue vor große Probleme. Nicht dass kein Haus, kein Ort, kein Landstrich existierte, die ich ohne zu zögern als mein Zuhause bezeichnen würde. Aber ich hätte Schwierigkeiten, sie Heimat zu nennen. In „Heimat“ schwingen mir zu viele diffuse Sehnsüchte mit. Sie dringen von außen in mich ein, ohne dass ich es verhindern könnte. „Heimat“ ist mir nicht ganz geheuer. Daher gehe ich für gewöhnlich auf Distanz zu ihr.

Gleichwohl überfällt mich manchmal wie aus dem Nichts ein Gefühl der Vertrautheit und Zugehörigkeit, zum Beispiel wenn ich von einer längeren Reise zurückkomme. Es kann sich beim Blick auf einen zwischen den Hügeln hervorspitzenden Kirchturm einstellen oder beim Geruch und Rascheln welken Laubs an einer bestimmten Stelle am See. Ich gerate dann in einen Zustand, als hätte ich eine Art Haut durchstoßen, die normalerweise zwischen der Welt und mir aufgespannt ist. Eigenartigerweise ist dieser Zustand jedes Mal mit einem Eindruck völligen Alleinseins verbunden. Für einen Augenblick gibt es keine Menschen mehr, vielleicht nicht einmal mich selbst. Es herrscht plötzlich ein anderes Zeitmaß: die unendlich verlangsamte Zeit der Bäume, des Himmels, der Alpenkette am Horizont. Die Zeit der Menschen ist zu einem Wimpernschlag zusammengeschrumpft. Dennoch – oder gerade deswegen – fühle ich mich in solchen Momenten aufgehoben, außerordentlich präsent, und meine zu ahnen, was Heimat vielleicht bedeuten könnte.

Herr Berger, die Hauptfigur meiner Erzählung „Sankt Martin“, gerät in eine ähnliche Stimmung. Gleich zu Beginn unternimmt er einen Spaziergang und erlebt diese besondere Auflösung oder Verschmelzung seines Ichs: „Er empfand beinahe Glück, wenn die sichtbare Welt wie ein Vexierbild plötzlich umsprang und jede Räumlichkeit einbüßte. Ein Teppich aus Farben strömte auf ihn zu, über ihn weg, durch ihn hindurch, Erinnerungen, Phantasiegebilde stiegen daraus auf, verflüchtigten sich, bis alles zu einem einzigen milchigen Lichtsee zusammenschoss, in dem er sich verlor. Dann glaubte er einem Geheimnis nahezukommen, jedes Mal schien es so gut wie preisgegeben, bevor sich ihm gleichsam in letzter Sekunde alles wieder entzog, Antwort, Licht, Bilder, Farben, er buchstäblich aus dem Zustand der Selbstvergessenheit zurückgeschleudert wurde auf seinen Spazierweg am Seeufer, wo er sich, in die Betrachtung beliebiger Dinge versunken, wiederfand.“

Berger ist über sechzig, ein Mann des gehobenen Mittelstands. Aus dem Berufsleben hat er sich weitgehend zurückgezogen, lebt seither wieder auf dem Land, wo er aufgewachsen ist. „Sankt Martin“ erzählt die Geschichte seines letzten Tags. In der folgenden Nacht erleidet er einen Herzinfarkt, am nächsten Morgen stirbt er im Krankenhaus. In der vielen Zeit, die er als Rentner hat, studiert Berger seine Umgebung, was aus ihr geworden ist, was ihn noch mit ihr verbindet. Ohne sich dessen bewusst zu sein, befragt er sich über sein Verhältnis zur Heimat. Es schwankt zwischen dem Wunsch, etwas von der ihm vertrauten Welt möge überdauern, und der Einwilligung in ihre Auslöschung.

Herr Berger lebt wie ich im Chiemgau. Die Gegend gehört ohne Zweifel zu den Bilderbuch- und Postkartenlandschaften Bayerns. Heimatpflege hat hier Tradition. Das Nachbardorf etwa feiert heuer das neunzigjährige Jubiläum des „Gebirgstrachten-Erhaltungsvereins“. Ich bin überzeugt, dessen Tätigkeit hat zusammen mit unzähligen anderen Vereinen wesentlich zur Erhaltung der Eigenheiten dieser Region beigetragen. Trotzdem verändert sie sich ständig und hat sich gerade in den letzten zwei Jahrzehnten enorm verändert. Die Ortschaften wuchern an den Außenrändern mit immer neuen Wohnsiedlungen und Gewerbegebieten. Das soziale Leben ähnelt immer mehr demjenigen von Vororten. Die Bauern sind jetzt fast ausgestorben. In meinem Dorf sind von 44 noch 3 Höfe übriggeblieben, 2 ausgesiedelt. Der Rest ist stillgelegt, abgerissen oder wurde zu Pensionsburgen für den Tourismus umgerüstet.

Gleichzeitig werden die Ortskerne historistisch herausgeputzt, immer mehr Trachtenumzüge veranstaltet. Jede künstlich am Leben erhaltene Kultur entwickelt zwangsläufig museale und fassadenhafte Züge. Aufgeputzte Bauerndörfer ohne Bauern verdecken die wahren Verhältnisse, in denen die Menschen leben. Sie täuschen eine Welt vor, die nicht mehr existiert. Sie laden zur Selbsttäuschung ein.

Die Rede von Heimat ist zugleich immer auch die Rede von ihrem Verlust gewesen. Ich glaube, unter anderem das macht sie so kompliziert. Sie setzt überhaupt erst da ein, wo „Heimat“ entbehrt wird, wo wir zu vermissen beginnen, was zwar nie Anspruch auf das Pathos von Heimat erhob, aber uns bisher irgendwie durchs Leben trug.

Strenggenommen beginnt die Geschichte dieser Rede bereits bei Homer. Odysseus sehnt sich nach Ithaka. Doch für ihn ist Heimat nicht verloren, nur vorläufig unerreichbar, ist sie zwar in Unordnung geraten, kann aber als Heimat wiederaufgebaut werden. Die Heimat der Moderne dagegen löst sich auf, während wir mit den Füßen auf ihrem Boden stehen. Für Friedrich Hölderlin ist sie das Notwendige. „Der gehet, gesandt, / Und suchet, dem Tier gleich, das / Nothwendige“ heißt in seinem Gedicht „Heimath“. Hölderlin ist einer der ersten, die auf dieser Suche scheitern. Nach ihm scheitern etliche Frühromantiker.

Kurz darauf wandert „Heimat“ in den Wortschatz der Ideologen. Seither ist die Geschichte des Worts auch zu einer Geschichte seines Missbrauchs geworden, propagandistisch vereinnahmt als Füllstrumpf für irrationale Botschaften und Sehnsüchte, gestrickt nach dem jeweils zeithistorisch passenden Muster.

In Schüben kehren die Klage und die Rettungsbemühungen um die Heimat seit zweihundert Jahren wieder. Sie leben immer dann auf, wenn technologische Neuerungen ökonomische und politische Veränderungen nach sich ziehen, soziale Umbrüche bewirken. Heute befinden wir uns wieder mitten in einer solchen industriellen Revolution, einige Historiker nennen sie die dritte.

Unsere Lebenswelt wird jedoch auch bestimmt vom Erbe der früheren Versuche, Heimat als das Notwendige zu erhalten. Der neunzigjährige Verein aus meinem Nachbardorf ist ein Beispiel dafür. „Heimat“ in der Postmoderne ist etwas Künstliches geworden. Die Sehnsucht nach ihr besteht trotzdem fort, auch wenn sie nicht mehr über den Umstand hinwegsehen kann, dass sie beinahe überall zur Attrappe und zum Kitsch erstarrt ist. Jenseits der Liste volkstümlicher Attribute sucht sie etwas seltsam Abstraktes, fast schon Metaphysisches. Passend dazu lautet ihre Definition auf Wikipedia: „Heimat verweist zumeist auf eine Beziehung zwischen Menschen und Raum“. Denn für unser Leben im 21. Jahrhundert sind Beziehungen zwischen Menschen und Raum längst keine Selbstverständlichkeit mehr.

Während der Niederschrift der Erzählung „Sankt Martin“ hat mich die Frage umgetrieben, wie ein gegenwärtiger Mensch damit zurande kommt, dass ihm nicht nur die Welt versinkt, der er sich ein Leben lang zugehörig gefühlt hat, sondern ihre bewahrenden Institutionen sich entweder auflösen oder selber künstlich und fadenscheinig geworden sind.

„Ein Thema“, schreibt Milan Kundera in seinem Essay „Die Kunst des Romans“, „ist eine existentielle Fragestellung. (…) Der Roman ist zuallererst auf einige grundlegende Wörter gegründet“; und an anderer Stelle: „Ein Ich erfassen heißt in meinen Romanen, die Essenz seiner existentiellen Problematik erfassen. Seinen existentiellen Code.“ Dieser Code zeige sich in der Verknüpfung dieser Wörter. Wende ich Kunderas Theorie auf meine Erzählung an, kristallisieren sich als existentielle Codewörter Heimat – Verlust, Dauer – Vergänglichkeit heraus.

„Sankt Martin“ spielt an einem 11. November. Wie jedes Jahr findet nach Einbruch der Dunkelheit der Laternenumzug des Kindergartens zu Ehren des heiligen Martin statt. Die Pfarrei liegt in direkter Nachbarschaft zu Bergers Haus. Sie wird gerade renoviert. Der alte Pfarrer Heitauer ist durch einen jüngeren abgelöst worden. Doch an diesem Tag leitet er aushilfsweise noch einmal die Martinsfeier. Berger weiß davon nichts, als er sich dem Zug anschließt, der an seinem Haus vorbeiführt. Er ist auch kein religiöser Mensch. Ihn interessiert der Brauch, weil Bräuche Erinnerungsspeicher sind. Schnell bemerkt er, dass aus dem kirchlichen Fest im Vergleich zu seiner Zeit als junger Vater, erst recht zur eigenen Kinderzeit, inzwischen ein Event geworden ist. Mitten in der gar nicht besinnlichen Menge entdeckt Berger endlich den alten Heitauer:

„Seine vor der Brust gefalteten Hände hielten ein Blatt Papier, die Augen waren auf den Boden geheftet, dann wieder wanderten sie nervös in ihren Höhlen. Er machte halt, räusperte sich mehrmals und fing schließlich an, von seinem Zettel abzulesen, allerdings mit so unendlich dünner Stimme, dass Berger keinen Laut davon vernahm. (…) Und tatsächlich schien außer Berger kein Mensch von Heitauers Anwesenheit Notiz zu nehmen. Obwohl von der Menge umgeben, war er aus ihr ausgeschlossen im Kreis der leeren Fläche, die ihn umgab.“

Berger spürt das Absurde, das in der vollkommenen Nichtbeachtung des alten Pfarrers durch die Festteilnehmer zum Ausdruck kommt. Es spiegelt die Absurdität seiner eigenen Existenz, steigert sie. Wenn selbst der alte Pfarrer seine Funktion als Stellvertreter katholischer Tradition und Dauer auf dem Dorf verloren hat, sinnloses Beiwerk eines Hypes geworden ist, dann sind offenbar auch die letzten Inseln von Heimat untergegangen und durch synthetische „Heimat“-Surrogate ersetzt worden. Bald richtet sich Bergers gebannte Aufmerksamkeit nur noch darauf, wie der alte Pfarrer mit seiner Ausgrenzung umgeht:

„Heitauer hob den Kopf. Wieder wanderten seine Augen nervös umher, doch weiter konnte Berger keine Regung in dem Gesicht entdecken. Nichts, das ihm das Geringste hätte verraten können darüber, was in dem Mann vorging. Berger fragte sich, ob er seine Lage überhaupt registrierte. Er dachte, es stört ihn nicht, dass sie ihn nicht beachten. Als ginge ihn die Feier nichts an, als wäre sie, wäre alles, was um ihn herum geschah, völlig bedeutungslos.“

Je länger Berger Heitauer beobachtet, desto deutlicher wird ihm, dass der keineswegs geistig weggetreten ist: „Seine ganze Art und Erscheinung brachte vielmehr den letzten, unbeweglichen Hintergrund seines Wesens zum Ausdruck.“ Dann kommt es Berger vor, als würde er den ganzen Vorgang mit den Augen des alten Pfarrers sehen, „aus tiefer Dunkelheit durch Licht und Körper hindurch. Der Schleier aus Farben und Zeit zerriss, und gleich dahinter kam absolute Nacht, aus ihr waren die Menschen vertrieben, nur er existierte in ihr, anwesend allein in seinem Blick, der durch die Finsternis schweifte. Berger fühlte Freude in sich aufsteigen, sie stimmte ihn eigentümlich versöhnlich, er wusste nicht, womit.“ So schließen die beiden alten Männer ihren Frieden mit der Welt, indem sie hinter den Vorhang der Heimatbühne zurücktreten.

Die Figur des Pfarrers Heitauer taucht wieder in meinem Roman „Willkommen neue Träume“ auf. Nachdem ich „Sankt Martin“ geschrieben hatte, wurde mir bewusst, wie wenig ich vom wirklichen Leben wusste, das sich unmittelbar um uns herum abspielt. Um zu recherchieren, war ich viel im und um mein Dorf herumgewandert und begann mich zu fragen: Wer lebt hier eigentlich, und wie leben diese Menschen? Den Blick gewöhnlich auf die medialen Fenster gebannt, um nichts vom Weltgeschehen zu verpassen, stellte ich plötzlich fest, dass mir das eigene Land zur Terra incognita geworden war. Ich beschloss, dieses unbekannte Land mit seinen Eingeborenen mit den Mitteln des Romans zu erforschen.

In dem umfangreichen Werk ist Heimat daher nicht Thema, sondern Sujet. Es ging darum, „Heimat“ als Wirklichkeit, als gelebtes Leben zu erfassen. Romantechnisch diente mir als Vorbild vor allem die Roman-Tetralogie „November 1918“ von Alfred Döblin. In einem Essay habe ich dazu geschrieben: „Wie lässt sich von Wirklichkeit erzählen? Die Frage scheint simpel. Man lebt schließlich in ihr, bewegt sich durch sie hindurch, teilt Raum und Zeit. (…) Andererseits die Erfahrung einer unüberwindlichen Begrenztheit des subjektiven Realitätssinns. Jedes Ich in einer eigenen Welt, abhängig von der Enge seiner Wahrnehmungsausschnitte, der persönlichen Auffassungsgabe (…) Natürlich steht kein Erzähler außerhalb des menschlichen Deutungszwangs. Aber er versucht ihm partiell dadurch zu entkommen, dass er ein elementar andersartiges Verfahren der Erkenntnis wählt. Die paradoxe Ausgangslage des Epikers besteht darin, dass ihm neben der subjektiven Wirklichkeit auch andere Wirklichkeitsabbilder als Material dienen, dass er aus der unendlichen Bandbreite des Rauschens ein fiktionales Konstrukt zu destillieren versucht, in dem die eigene Stimme nur eine Einzelfrequenz unter anderen ist.“

„Willkommen neue Träume“ ist der Versuch, in Form einer Fiktion die Gegenwart eines oberbayerischen Dorfs wie ein Mosaik zusammenzusetzen. Wie mit einer Nadel, die man auf eine Weltkarte steckt, wollte ich die Realität der Globalisierung von einem Punkt aus ins Visier nehmen. Berge von Material mussten gesichtet, gesammelt, geordnet, geschichtet, mit vielen Bewohnern gesprochen, kommunale Veranstaltungen und Gemeinderatsitzungen besucht werden, um dieses Bild zusammensetzen zu können.

Dafür habe ich eine Perspektive eingenommen, die derjenigen der Medien gewissermaßen entgegensetzt ist. Der Roman kann gelesen werden als eine Art Bericht von „The Dark Side of The Massmedia Moon“. Sein zentrales Thema als Essenz einer existentiellen Problematik sind die unterschiedlichen Hoffnungen und Sehnsüchte der Menschen, die Pläne, die sie schmieden, um sie in Erfüllung gehen zu lassen, sind die neue Träume in einer veränderten Gesellschaft – auch wenn sie sich am Ende meistens als alte Träume in mehr oder weniger neuem Gewand herausstellen.

Der Roman als Rekonstruktion einer aus den Augen geratenen Wirklichkeit. Der Roman zugleich als Möglichkeitsform, um gegen eine Verwechslung von Wirklichkeitsabbildern mit der Wahrheit vorzubeugen. Mein neuer/alter Traum ist es, Romane würden dazu beitragen, den Blick zu öffnen auf eine Heimat hinter der Maske „Heimat“.