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"Rede an die Jugend" von Nora Gomringer

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© Jürgen Bauer

Am 19.3.2015 wurde der Schriftstellerin Nora Gomringer in der Stadthalle Weilheim der Weilheimer Literaturpreis verliehen. Wie in der Tradition dieses u.a. vom ansässigen Gymnasium verliehenen Preises üblich, bedankte sich die Preisträgerin mit einer "Rede an die Jugend". Bevor diese in den Weilheimer Literaturheften erscheint, veröffentlicht das Literaturportal Bayern exklusiv einen Ausschnitt daraus. Dafür bedanken wir uns ganz herzlich bei Nora Gomringer, Marcus Schiefer und allen Beteiligten aus Weilheim.

 

Oh Jugend, Du!

Diesen Weilheimer Literaturpreis zu erhalten, noch dazu in der prall gefüllten Stadthalle, auch vor meinen angereisten Eltern, das ist so große Ehre und Einschüchterung gleichermaßen, dass ich mich einer alten Technik bedienen muss, um durch die nächsten Seiten – ja, Seiten! – meiner Rede zu dringen. Ich stelle Sie mir alle nackt vor.  Außer die anwesenden Menschen unter 20 Jahren, die Vertreter des  Klerus, den Herrn Bürgermeister und meine Eltern. Ich tue dies mit Erfolg und es freut mich, Ihnen sagen zu können: Sie sehen alle – ob un- oder bekleidet sehr gut aus.

Es wird von Ihnen traditionsgemäß eine „Rede an die Jugend“ vom Preisträger gewünscht, und es ist recht und preisgeld-billig, dass ich Ihnen und Ihren geladenen Gästen in einer Rede mitteile, was ich für sinnvoll erachte als Gegenstände der Vermittlung an die jüngere Generation. Speziell an die Jugend wende ich mich also – und wie gerne komme ich dem Wunsch nach, obwohl ich doch meine, stets an die Jugend gerichtet zu sprechen. Wenn nicht direkt adressiert an ein Publikum aus noch jugendlichen Menschen, so doch ausgerichtet und herangetragen an all die jungen Menschen, die in uns älteren leben, da sind, ja selbst im hohen Alter noch anteilig vorhanden oder gänzlich und alleinig zurückgekehrt sind. Wir Menschen, wir sind Spukschlösser für allerlei Geister. Wir bieten darin Behausung den Träumen wie den Albträumen.

Oh, Jugend.

Du bist grausam.

Ich erinnere mich daran, ein einsamer junger Mensch gewesen zu sein. Eine junge Frau mit einer besten Freundin, einer Verliebtheit für den Nachbarsjungen, eine langsam reifende, eine melancholische und immer schon ein Doppelleben führende Seele. Hunde gab es viele in unserem Familiendorfleben, ihre Biografien sind untrennbar mit den unseren verbunden, Brüder gab es auch viele, aber weit weg, Meerschweinchen gab es in überschaubarer Zahl. Ihre kleinen Leichen liegen alle im Garten von Wurlitz 22. Wie einst in der Arche waren es immer zwei, die sich im Käfig still das Futter neideten.

Wie kann ein Kind, das so viel hatte, einsam sein? Das ist einfach.

Wenn ich höre, dass Menschen sagen, dass sie es ach so erstaunlich finden, was jungen Leuten manchmal einfällt, welche Fantasiebegabung in ihnen liegt und nur geweckt werden muss, dann werde ich hart und ärgerlich, weil ich denke:

Sieht das denn keiner? Als Jugendlicher ist man aus Fantasie gemacht. So wie der Drache aus Wünschen und das Stroh der Müllerstochter bei Rumpelstilzchen irgendwann tatsächlich aus Gold. Die Fantasie ist der Stoff, von dem man faltenweise umwickelt wird, der einem nicht ausgeht, der sich dann irgendwann in einen trockeneren Ansatz wandelt: in Spekulation. Aber vorher: vorher ist Wunderland.

Fragile Falter

Und dabei ist die Umgebung feindlich. Wer einmal die Unendliche Geschichte Michael Endes gelesen hat, der weiß das. Der weiß, dass Fantasien vom Nichts bedroht wird, so wie der junge Leser Bastian Balthasar Buchs von der Traurigkeit um den Tod seiner Mutter und den Vater, der so eingegraben ist in sich selbst. Den Jugendlichen – und ich will hier gar nicht so pädagogisch werden, das kann ich nicht, das ist eine eigene Lehre und hat ihre eigene Kunst – geht es wie den Faltern, die zwar geschlüpft, denen die Flügel aber noch nicht getrocknet sind. Niemals ist man permeabler, durchlässiger, inspirierter, entdeckerischer und mental so biegsam, ebenso belastbar wie spaltbar wie im jugendlichen Alter. Kein Wunder, dass mancher sich abgrenzt, sich selbst zum Narr bei Hofe erklärt, zum Opfer wird, wenn es um Verführung geht, die vom Weg ableitet, tief hinein in die Wälder, wo Wölfe das kleinste Risiko bieten.

In Schülerinnen und Schülern Ihres Alters, und ja, gerne können sich die 100jährigen im Raum an diesen Gedanken anschließen, schlummert alles Potenzial, das die Welt braucht, um weitermachen zu können. Kein Wunder, dass in Ihrer Altersgruppe Dichterinnen und Dichter, Musikerinnen und Musiker, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Theologinnen und Theologen, Philosophinnen und Philosophen, Technikerinnen und Techniker langsam die Köpfe recken. Mit 16 wusste ich, dass ich lieber schreiben und auftreten wollte, als bei Frau Klenske beim Klavierspielabend teilzunehmen. Was habe ich darum gefleht, einfach statt eines Stückes zu spielen, ein Gedicht aufsagen zu dürfen. Eines von Heinrich Heine.

Meiner Klavierlehrerin erschien so ein Flehen nicht als völlige Idiotie, im Gegenteil ... sie hat sich meine ersten Gedichte „Musik“, „Liebe“ etc. – wie die ersten Gedichte eben so betitelt sind – willfährig angehört und mir sehr geholfen mit ihrem Zuspruch.  Spielen musste ich aber trotzdem. Das Publikum und ich waren dadurch nicht zu amüsieren. Mein erste Leserin also, das war eine Zuhörerin, denn ich las ihr meine Texte vor und freute mich, weil sie bereit war, zuzuhören. So konnte ich Mut fassen und auch meinen Eltern mit der Zeit „gestehen“, dass ich mein Heil im Schreiben suchen wollte. Da gab es kein Ja oder Nein, es gab ein: Wohlan!

Heute sage ich oft und im Scherz, dass ich das, was ich tue, wohl vor allem deshalb tue, weil niemand je gesagt hat: Tu’s nicht. Ich bin eine verlegte, geförderte Autorin, ja gepriesen und beschenkt, ständig in Arbeit und in all ihren Prozessen begriffen – und ich merke erst seit ein paar Jahren, dass so ein Wesen eine Seltenheit ist.

Jan Wagner hat gerade den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten. Als Lyriker! Das ist so außergewöhnlich wie völlig richtig. Sie zeichnen mich aus und liegen damit im Trend, den die Feuilletons der Lyrik neuerdings zusprechen. Ich schreibe allerhöchstens experimentelle Prosa neben den Reden und Essays und bin ansonsten ganz und gar der Lyrik verhaftet, halte sie für die stärkste, fähigste, konzentrierteste Form von Literatur und bin erstaunt, wie lange sie trägt, denn sie ist auch die älteste. Sich als Autorin einer bestimmten Gattung in einer Reihe mit Sappho, Heine, Lasker-Schüler, Parker, Kaléko, Meerbaum-Eisinger, Celan, Gomringer, Aichinger zu sehen – und mit ihr überschneiden sich die Reihen, denn sie war Ihre erste Weilheimer Preisträgerin 1988 – das ist vielbeschworenes, jugendsprachlich ausgedrücktes: GROSSES KINO.

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