Info
13.12.2022, 14:23 Uhr
Peter Winkler
Text & Debatte
images/lpbblogs/LiB/klein/LiB_148_sebald_winkler_164.jpg
Prof. Dr. Peter Winkler, Foto: 2016 (c) privat

Il ritorno della memoria, oder: Die Reise zu W. G. Sebalds Grab (1)

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/LiB/klein/LiB_148_sebald_burg_500.jpg
Ordensburg von Sonthofen vor alpinem Hintergrund (Bildmontage)

Die 148. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunkt Freundschaft. Im folgenden Beitrag beschäftigt sich der ehemalige Ärztliche Direktor des Radiologischen Instituts im Olgahospital Stuttgart Prof. Dr. Peter Winkler mit dem in Wertach geborenen und in Norwich (UK) bei einem Autounfall verunglückten Schriftsteller und Literaturwissenschaftler W. G. Sebald (1944-2001). Morgen, am 14. Dezember, jährt sich dessen Todestag zum 21. Mal. Das Literaturportal Bayern präsentiert Winklers Erzählung in einer Langfassung in drei Folgen

 

I.

 

Prolog: Die Burg

Der im Auftrag von United Global Cleaning über die Berge fegende Föhnsturm trieb Blätter vor sich her, die über lange Zeit gesammelt und aus übervollen Kartons gefallen oder herausgeweht worden waren. Der auffahrende und tanzende Blätterschwarm wirbelte um ein hohes, auf einem Hügel emporragendes Gebäude aus massivem Stein herum, das schon von weitem als Ordensburg von S. [Sonthofen, Anm. d. Red.] zu erkennen war. Der von seinem Treiben erhitzte Wind hielt mit einem Mal inne, als wolle er sich besinnen.

Das Schauspiel, das sich ihm bot, war verblüffend. Plötzlich wurde der Turmbau und ein anhängender Teil des Fundaments durch eine ungeheure und unsichtbare Kraft in die Luft gehoben und kopfüber in eine hellbraune weiche Masse eingetaucht. Dann drehte sich der Turm wieder zurück und landete sicher auf dem vertrauten Kalvarienberg, so, als ob nichts geschehen wäre. Die Masse war verschwunden. Der Föhnsturm blinzelte, er war durch Erzählungen seiner Verwandten und Freunde mit Luftspiegelungen vertraut. Er zögerte kurz und setzte seine Jagd über die Berge fort. Von diesem Zeitpunkt an wurde ein von der Burg ausgehender intensiver Geruch bemerkt, der sich kilometerweit ausdehnte.

„Die Burg stinkt“, sagten die meisten Bewohner von S., „es ist unerträglich!“ Mehrere Anzeigen wegen Geruchsbelästigung wurden erstattet. Nachdem die Ursache des Gestanks nicht festzustellen war, wurde ein Experte der Firma Scentology Laboratories beauftragt, Hintergrund und Art der Geruchsbelästigung zu eruieren. Das lieferte aber kein befriedigendes Ergebnis. Erst ein Interview mit dem Chemiker Dr. J. K. in der Lokalpresse brachte Klarheit. Er führte dort aus, dass es sich keineswegs, wie vereinzelt vermutet, um den penetranten Gestank des braunen Sumpfkäses handle, sondern eindeutig um den aus seiner Sicht angenehmen Geruch des Allgäuer Backsteiners. Einen solchen Edel- und Stinkkäse hatte auch W. G. Sebald eines Tages in seinem Briefkasten vorgefunden, nachdem der englische Postbote beim Einwurf der Sendung gut hörbar den Fluch „bloody foreigners“ ausgestoßen hatte. Sein Schulfreund J. K. hatte ihm den Käs auf seinen Wusch geschickt und Sebald war aufs angenehmste von der heimatlichen Duftnote überrascht worden.

Duftanhang

Wortfetzen schwebten im Nebel wie taumelnde Herbstblätter. Die Blätter raschelten im Wechsel höher, tiefer, höher, und ich konnte nicht fassen, was da in mein Bewusstsein dringen wollte. Der Nebel lichtete sich ein wenig und ich meinte jetzt höher und tiefer klingende Stimmen und einzelne Worte zu vernehmen, danach Satzteile, die vom Eingang des Zimmers hereinwehten. Dann klarte es weiter auf und ich hörte: „Da stimmt was nicht ... braucht sofort ein CT ... Dyspnoe ... frisch operiert ... abwarten ... nein, er muss jetzt ins CT!“

Die Herzoperation war vor 2 Stunden zu Ende gewesen und ich war vor kurzem und zu meiner großen Erleichterung vom Beatmungsschlauch befreit worden. Jetzt teilte mir die Schwester der Intensivstation mit, dass ich in die Computertomographie gebracht würde, um mein Herz zu überprüfen. Die CT-Untersuchung ergab einen Bluterguss im Herzbeutel, der zu einer lebensbedrohlichen Kompression des Herzens geführt hatte und, so sagte man mir, sofort eine erneute Operation erfordere. Ich wurde vom Transportdienst aus der Röntgenabteilung geholt und vor die Intensivstation geschoben, um mich hier auf die Operation vorzubereiten.

Da ich selbst Arzt war, wusste ich, dass jede Minute zählte, war aber ruhig. Vor mir sah ich einen Film in Zeitlupe ablaufen. Die Akteure in diesem Film, in den ich unversehens als Hauptdarsteller geraten war, waren außer mir die tüchtige Intensivschwester, die gegenüber dem zuständigen Arzt auf meiner sofortigen Untersuchung bestanden hatte und eine attraktive Narkoseschwester, die nicht ganz bei der Sache zu sein schien und lauter Dinge machte, die in meinen Augen nichts Wesentliches bewirkten.

Die Intensivschwester, offensichtlich unter hohem Arbeitsdruck, schaute immer wieder kurz nach mir und setzte mit wenigen Handgriffen relevante Vorbereitungen in Gang. Das war angenehm und dämpfte die aufkeimende innere Unruhe. Die mit herausragenden weiblichen Formen ausgestattete Narkoseschwester, die einen dezenten Duft ausströmte, ging zwischen ihrem ums Eck liegenden Arbeitsplatz und meinem Bett hin und her, wurde deshalb immer wieder unsichtbar und tauchte dann unvermittelt auf, um hier und da etwas zu erledigen. So zupfte sie ohne ein Wort zu sprechen mein Kopfkissen zurecht. Dann verschwanden die Narkoseschwester und, mit deutlicher Verzögerung, auch ihr nachwehender Duftanhang und ich hörte nur noch ihre Stimme: „Du kannst deine Semmel ruhig fertig essen und deinen Kaffee trinken, Schatzi, es besteht keine Eile.“

Da bekam ich zum ersten Mal tiefgreifende und hilflose Angst. Das war aber keine Todesangst. Es war die Angst vor dem Verlust der Gehirnfunktion, vor einem Zombie-Dasein, das meine Frau und meine Kinder einer schweren Belastung aussetzen würde.

Zeit und Licht

Meine Gedanken fluktuierten im Rhythmus der blinkenden Überwachungsgeräte zwischen Angst, Sorge und einer fatalistischen Ruhe. Ich schaute auf die Wanduhr und war mir nicht sicher, ob sich der Minutenzeiger bewegte oder ob er stillstand. Ich fragte mich erschreckt, ob das Uhrwerk kaputtgegangen sei und die Narkoseschwester deshalb in diese fatale und verliebte Sorglosigkeit abgedriftet war. Unvermittelt sah ich mich in den Schulferien im Betrieb meiner Eltern am Fließband stehen. Auch damals war die Zeit für mich mit fast schmerzhafter Langsamkeit vergangen. Keiner der verstohlenen Blicke auf die Uhr brachte einen nennenswerten Fortschritt.

Nachdem ich vergeblich versucht hatte, die Zeit durch selteneres Hinschauen zum Voranschreiten in größeren Schritten zu zwingen, nahm ich mir vor, nur noch auf die Uhr zu blicken, wenn nach meiner inneren Zeitvorstellung mindestens eine Viertelstunde vergangen wäre. Ich kam jedoch bei jedem Versuch auf höchstens fünf Minuten, meist weniger. Jetzt, nach der Rückkehr der Gedanken zu meinem Bett meinte ich ein feines Klicken und Vorrücken des Minutenzeigers wahrzunehmen. Darüber fiel ich in einen rauschartigen Dämmerzustand. Plötzlich stand der Anästhesist an meiner linken Seite und fragte: „Wie geht es Ihnen?“ Ich konnte kaum sprechen, brachte jedoch leise keuchend heraus, dass die Atemnot zugenommen habe. Der Anästhesist wandte sich zur Narkoseschwester und sagte: „Da müssen wir etwas zulegen“. Mit wenigen Handgriffen erledigte er alles Notwendige und zusammen schoben sie mein Bett mit schnellen Schritten durch halbdunkle Verbindungsgänge, die mir mit ihren immer gleichen, stellenweise unterbrochenen, giftgelb leuchtenden Neonbändern endlos erschienen und sich alptraumhaft wiederholten.

Gedankenschwärme tauchten aus dem Halbdunkel auf und schwammen durch mich hindurch, wobei kleine, schwache und ängstliche Gedanken von größeren, ruhigen und erfahrenen in die Mitte genommen wurden wie die schwächeren und jüngeren Tiere bei den Pottwalen. Ich erinnerte mich an einen Film, den ich vor langer Zeit zusammen mit meiner Freundin im Filmmuseum in München gesehen hatte und der vom Anfang bis zum Ende in einer einzigen Kameraeinstellung gedreht worden war: ein von Betonwänden begrenzter neonbeleuchteter Gang, der zu einer schmalen Aufzugtüre führte. Dieser Hausgang und der Aufzug ließen auf eines der vielen gleichförmigen Mietshäuser der sechziger Jahre schließen. Es passierte sehr lange nichts. Schließlich kam ein Mann, zog die offensichtlich schwergängige Aufzugtüre auf und betrat das beleuchtete Innere des Lifts. Die Türe klappte mit einem saugenden Geräusch zu. Dann sah man durch das Aufzugtürfenster den Mann unter leisem Zischen nach oben verschwinden.

Darauf folgten im Wechsel Bilder des leeren Aufzugs und Sequenzen, in denen schweigende Personen in der Kameraeinstellung des Aufzugs erschienen. Dabei waren gewisse, minimale Variationen wie Aufzugholen und dann Einsteigen sowie die gelegentliche wortlose Begegnung zweier Personen zu sehen. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich immer wieder die Licht- und Schattenreflexe, die über das schöne runde Gesicht meiner Freundin huschten. Da gab es ein unerwartetes Ereignis: Einer der etwa dreißig Besucher des Filmes stand abrupt auf und verließ das Kino. Dabei schnellte die Sitzfläche des Klappsessels hoch und erzeugte ein wummerndes Geräusch, das in die Stille des Films einbrach wie ein unerwartet tönender Wecker in einen leisen Traum.

Ich verspürte einen Juckreiz unterhalb des Kehlkopfs. Es war ein unterdrücktes Lachen, da ich meiner Freundin vor kurzem die Absicht signalisiert hatte, dem Filmtheater zu entwischen. Bald darauf verließen ein zweiter und dann noch ein weiterer Besucher das Kino – unverständlicherweise ohne den geringsten Versuch, den Klappsitz behutsam in seine hochgeklappte Ausgangsstellung zurückzuführen. Deshalb wiederholte sich der typische Klang des in immer kürzeren Abständen nachfedernden Sitzes und meine Freundin und ich bekamen einen Lachanfall, der durch erzürnte Blicke und missbilligendes Zischen von mehreren der verbliebenen Kinobesucher zunächst verstärkt wurde, dann aber mit Hilfe der Ernsthaftigkeit, mit der die Cineasten den Film ungestört zu sehen verlangten, von uns unterdrückt werden konnte.

Da wurde ich in meinen Aufzugserinnerungen unterbrochen. Ich spürte keine Bewegung mehr. Das Rollgeräusch war verstummt. Stillstand. Unerwartet öffnete sich vor meinen Augen eine Flügeltüre und der erleuchtete Operationssaal lag grellweiß vor mir. Das Operationsteam in voller Montur: das Versprechen einer Rettung in gleißendem Licht.

Postoperative kognitive Dysfunktion

Es wachte auf und nahm ein Etwas wahr, das weich und warm eingebettet dalag. Es hörte wiederholende und fragende Laute mit einem besorgten Klang: „Ekkehard? Ekkehard? Ekki?“ Gleichzeitig spürte es einen festen, dann klemmenden, besorgten Händedruck. Eine Welle der Angst flutete den Raum. In Panik schrie es, riss an den Schnüren und Schläuchen, die es fesselten und einer grausamen Macht auslieferten, einer Macht, die es kurz darauf eisern festhielt und mit einer Giftspritze verfolgte. Die Macht wollte es lähmen und einfrieren, um es in einer Zeit aufwachen zu lassen, in der die Erde unbewohnbar geworden war! Jetzt schwebte es zunächst über seinem Bett, dann über einem großen See, umgeben von fahl braunen, entwaldeten Bergen. Dann driftete es ins Nichts.

Ein Lichtstrahl drang schneidend und schmerzhaft in seine Augen. Schatten tanzten zwischen den Lichtern. Er vernahm wieder diese ängstliche Stimme: „Ekkehard, hörst du mich?“ Von wem kam diese Stimme? War in dem Klang etwas Vertrautes? Er konnte sich an nichts erinnern, außer an eine lang anhaltende lähmende Traurigkeit, die in diesem sprachlosen Körper vor ihm ausgebreitet dalag. Tiefer und tiefer sank er in diesen Körper hinein, der aus geschmolzenem Blei erstarrt war. Gleich würde aufgrund des Riesengewichts das Bett zusammenbrechen. „Hilfe! Hilfe! Hilfe!“ schrie es in seine Ohren hinein. Er sah seine Ohren glühendrot aufleuchten und dann allmählich wieder erlöschen, während das weißgekleidete Bett unermüdlich auf ihn einsprach und ihm versicherte, dass alles in Ordnung sei.

Der in Blei gegossene, schlagartig erstarrte und dann wieder vorsichtig auftauende Körper wachte auf, sah sich um und stellte verwundert fest, dass er sich wesentlich leichter als vorher anfühlte. Von dem Schwerstzustand war nur noch ein kleiner Brocken Schwermetall übrig, der – allerdings heiß und mit stechenden Schmerzen - hinter dem Brustbein verblieben war. Das Zimmer fühlte sich angstfrei an. Es war überstanden! Aber dann begannen seine Gedanken, unermüdlich um den schweren zerrenden und stechenden Klumpen in seiner Brust zu kreisen und diesen fortwährend von allen Seiten zu betrachten. Warum? Wo? Welcher Klumpen? Er rollte sich zusammen und schlief ein.

 

Nächste Folge morgen ...