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14.12.2021, 08:00 Uhr
Kay Wolfinger
Gespräche

Zum 20. Todestag von W.G. Sebald: Ein Gespräch mit Sebald-Biographin Carole Angier

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Cover © Bloomsbury Publishing

Das Werk ist der Autor? Der Münchner Literaturwissenschaftler Kay Wolfinger stellte W. G. Sebalds Biographin Carole Angier anlässlich des 20. Todestages von Sebald einige Fragen. Angier ist die Autorin von Speak, Silence. In Search of W. G. Sebald (London: Bloomsbury Circus 2021), der ersten Biographie über W. G. Sebald. Heute, am 14. Dezember, jährt sich der Todestag des in Wertach geborenen Schriftstellers.

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Ihr Buch liegt bisher nur auf Englisch vor, daher haben die meisten deutschen Feuilletons davon noch gar nicht Notiz genommen. Man hat aber schon seit Monaten gehört, dass Speak, Silence in der englischsprachigen Welt mit großer Spannung erwartet wurde. Wie sind die Rezeption und die Resonanz bisher? Welche Aktionen und Veranstaltungen liegen bis jetzt hinter Ihnen und was ist geplant?

Die Resonanz war bisher hervorragend. In den wichtigsten Zeitungen der USA und des Vereinigten Königreichs sind wunderbare Rezensionen erschienen – zum Beispiel im Guardian, im Observer und in der Literary Review im Vereinigten Königreich sowie in der New York Times, im Atlantic Monthly und im Wall Street Journal in den USA. Auch Terry Pitts hat auf seiner Vertigo-Website am 18. August 2021 eine lange und herzliche Besprechung meines Buches veröffentlicht. Es gab auch einige negative Reaktionen, z.B. im Daily Telegraph. Aber das waren relativ wenige – vielleicht ein halbes Dutzend bisher – und meist von Kritikern, die Sebalds Werk nicht mögen, wie sie deutlich machen.
Covid hatte fast zwei Jahre lang eine verheerende Wirkung auf Buchfestivals und Lesungen, wie auf alle Live-Veranstaltungen. Das lässt erst jetzt nach, und die Veröffentlichungen der letzten zwei Jahre drängen darauf, wahrgenommen zu werden. Angesichts dessen bin ich besonders erfreut über die Aufmerksamkeit, die Speak, Silence erhält. Es begann mit mehreren Online-Interviews, z.B. mit der Biographen-Kollegin Caroline Moorehead für den London Review of Books Bookshop und mit dem Podcaster Iain Dale beim kommerziellen Radiosender LBC (und damit für einen breiten Leserkreis). Seitdem habe ich Live-Veranstaltungen für die London Library und das Literaturfestival Southwold Ways With Words durchgeführt und Interviews u.a. für die Harvard Review, den BBC World Service und den Writing Life Podcast für das National Centre for Writing aufgenommen. Mein Verlag Bloomsbury hat mich für mehrere Festivals im nächsten Jahr angemeldet. Die kanadische Kritikerin Eleanor Wachtel möchte mich für ihre Buchsendung auf CBC, Writers & Company, interviewen; der Termin steht noch nicht fest. Am 14. Dezember, dem 20. Todestag Sebalds, werde ich vom Goethe-Institut in Toronto interviewt, und hier im Vereinigten Königreich war eine einstündige Sebald gewidmete Sendung auf BBC Radio 4 geplant, moderiert von dem Schriftsteller Will Self, in der ich auftreten sollte. Leider habe ich gerade erfahren, dass der arme Will Self sich die Hüfte gebrochen hat und die Sendung auf Februar verschoben wurde. Will Self wird mich auch in Oxfords berühmter Buchhandlung Blackwell's Bookshop interviewen (Datum noch nicht festgelegt). Ebenfalls zu einem noch nicht feststehenden Termin wird mich der Menschenrechtsanwalt und Schriftsteller (East West Street, The Ratline) Philippe Sands in der Wiener Holocaust Library in London interviewen.

Können Sie schon andeuten, ob das Buch auch in anderen Sprachen erscheinen wird? Haben sich schon Leser*innen aus dem Ausland bei Ihnen gemeldet oder haben Sie sonst schon Zuschriften kommen?

Speak, Silence wird nächstes Jahr bei Hanser in Deutschland erscheinen, übersetzt von Andreas Wirthensohn. Der Universitätsverlag der Guangxi Normal University in China übersetzt das Buch derzeit ebenfalls und wird es wahrscheinlich auch im nächsten Jahr veröffentlichen.
Ja, ich habe von mehreren Lesern im Ausland gehört. Ich habe mich sehr über eine E-Mail von Christian Wirth, dem Betreiber von www.wgsebald.de, gefreut: „Ich lese die Biographie Sebalds mit wachsender Begeisterung: Chapeau!“ Andere wunderbare Nachrichten kamen z.B. aus North Carolina in den USA (ein emeritierter Professor der Duke University), aus Odisha in Indien (ein weiterer emeritierter Professor) und aus Medellin in Kolumbien (ein junger Mann, der das Buch auf dem Kindle las und mir erzählte, er habe geweint, als er Sebalds Schwager bei seiner Beerdigung singen hörte, was auf der Companion Page auf der Bloomsbury-Website zu hören ist).
Ich habe auch viele Nachrichten aus dem Vereinigten Königreich erhalten, von emeritierten Professoren (an der Universität Oxford und am University College London) bis hin zu Lesern in Manchester, aus Irland und anderswo. Besonders aufregend war es, begeisterte Briefe von Schriftstellern wie Philippe Sands, Will Self, Blake Morrison, Iain Sinclair und Gabriel Josipovici zu erhalten, die sich daraufhin alle bereit erklärten, mich bei Veranstaltungen zu interviewen, die ich durchgeführt habe oder durchführen werde. Javier Marías und Alberto Manguel gaben mir großartige Empfehlungen für das Buch, ebenso wie die britischen Biographen Hilary Spurling und Michael Holroyd. Eine Liste einiger dieser Botschaften und Empfehlungen finden sich auf der Seite für Speak, Silence bei Amazon.

Wie hat sich denn Ihre Arbeit an dem Buch gestaltet? Wann kam Ihnen ursprünglich die Idee und wie haben Sie die Zeit der Recherche und des Schreibens verbracht? Was war das Schönste, was das Ärgerlichste, was Ihnen auf diesem Weg passiert ist?

Wie so viele andere anglophone Leser habe ich mich in The Emigrants verliebt, als es 1996 auf Englisch veröffentlicht wurde. Ich fand eine Zeitschrift, die ein Interview mit Sebald veröffentlichen wollte, und eilte zur UEA – der University of East Anglia – um selbst eines zu führen. Es war das erste Interview, das er auf Englisch gab. Er war charmant und witzig und sehr, sehr düster. Zwei Jahre später, nach der Veröffentlichung von Die Ringe des Saturn, interviewte ich ihn erneut, und drei Jahre danach rief ich ihn an, um ihm zur begeisterten Aufnahme von Austerlitz zu gratulieren. Bei beiden Gelegenheiten war er genauso charmant und noch düsterer.
Nur ein paar Monate später starb er. Ich hatte nie an eine Biographie über ihn gedacht, denn ich hatte nie erwartet, dass er sterben würde. Das war auch dann nicht mein erster Gedanke, der Schock war zu groß. Aber 2002 veröffentlichte ich meine Biographie über Primo Levi und fragte mich, wo ich nach so einem Thema weitermachen könnte. Schließlich wurde mir klar, dass es nur einen Ort gab, an den ich gehen konnte: zu W. G. Sebald. Also sprach ich 2003 mit Sebalds Agenten Andrew Wylie über die Möglichkeit, eine Biographie zu schreiben. Wylie sagte mir, dass Frau Sebald gegen eine Biographie sei, und riet mir, die Idee aufzugeben. Widerstrebend tat ich das. Ich habe mich dann zehn Jahre lang um meine alternden Eltern gekümmert und konnte keine großen Projekte in Angriff nehmen. Als dies mit dem Tod meiner Mutter endete, sah ich mich um und stellte fest, dass es immer noch keine Biographie gab. Das lag sicher zum einen an der Problematik des Nachlasses, zum anderen daran, dass nur wenige andere anglophone Biographen (und die meisten Biographen sind anglophon) Deutsch können. Beides war eine große Herausforderung (ich habe das Deutsche von meinen Eltern aufgesogen, aber nie studiert, und bin, wie Sie wissen, sehr unsicher, was Geschlechter und Fälle angeht). Aber ich wusste, dass ich dieses Buch schreiben musste. Also bekam ich Mitte 2014 einen Vertrag von Bloomsbury und fing an. Ich recherchierte zweieinhalb Jahre lang, reiste oft ins Deutsche Literaturarchiv Marbach, nach Sonthofen, wo Sebald aufwuchs, und in die Schweiz, wo seine Schwestern leben. Dann habe ich drei Jahre lang, von 2017 bis 2020, geschrieben, bin oft zurückgekehrt nach Sonthofen, wo Sebalds Freundin Ursula Liebsch mir ihr Haus zur Verfügung stellte, wenn sie verreist war. Den letzten Teil des Schreibens und viele Monate des Lektorats danach erledigte ich zu Hause, in der Covid-Klausur. Das Buch wurde schließlich im August 2021 veröffentlicht, sieben Jahre nachdem ich den Vertrag unterzeichnet hatte.
Das Beste, was mir während dieses außergewöhnlichen Abenteuers passiert ist, waren die Freundschaften, die ich mit den engsten Menschen in Sebalds Leben geschlossen habe: mit seinen Schwestern Gertrud und Beate, mit den Freunden seiner Jugend, Ursula Liebsch und Jürgen Kaeser, mit der Freundin seiner letzten Jahre, Marie. Vor allem seine ältere Schwester Gertrud war eine wertvolle Informantin, Stütze und Verbindung zu ihrem Bruder. Ohne sie hätte ich das Buch nicht schreiben können.
Ich kann nicht über die schlimmsten Dinge berichten, die passiert sind, ohne die beteiligten Personen zu verleumden. Das Zweitschlimmste war das endlose Reisen. Ich bin so alt wie Sebald und habe viele Tage verbracht in einem Zustand der Erschöpfung. Ich habe auch eine Art Überlebensschuld ihm gegenüber: Warum bin ich immer noch hier und kann seine Geschichte erzählen, während er schon seit zwanzig Jahren tot ist?

Das Literaturhaus Stuttgart veranstaltete am 18. November 2021 anlässlich seines zwanzigjährigen Bestehens einen Festtag. In diesem Rahmen wurde auch an W. G. Sebald erinnert, der 2001 in seinem Todesjahr die Eröffnungsrede in Stuttgart hielt. Michael Krüger, einer der Gäste und Sebalds früherer Verleger, formulierte als Ziel, Sebald wieder an die Leser*innen zu bringen. Haben Sie den Eindruck, dass man zu wenig Sebald liest und dass Sebalds Werk nur in der akademischen Welt stattfindet?

Sebald ist zweifellos ein wichtiges Thema in der akademischen Welt – sein Werk wird in jedem Germanistik-Studiengang auf der ganzen Welt behandelt, und seit seinem Tod ist eine regelrechte Industrie an Artikeln, Büchern und Doktorarbeiten über ihn entstanden. Allerdings ist seine Präsenz in der literarischen Welt weniger ausgeprägt. Seine Leserschaft beschränkt sich auf die literarisch Interessierten, und zwar aus dem guten Grund, dass es sich bei seinem Werk um ‚hohe Literatur‘ handelt. Aber Michael Krügers Bemerkung ist für Deutschland am zutreffendsten: Im anglophonen Raum wird Sebald weitaus mehr gelesen, und sein Name ist weitaus bekannter. Ein Grund dafür ist sicherlich seine Kritik an Deutschland, die für deutsche Leser natürlich unangenehm ist. Aber der Hauptgrund ist, glaube ich, seine Sprache. Sein Deutsch kann einfach veraltet wirken, während sein Englisch, das er selbst aus den Entwürfen seiner Übersetzer geschaffen hat, zeitlos, ortslos und magisch ist, das perfekte Korrelat der Welt, die er beschreibt. Daher muss er den englischen Lesern weniger neu vorgestellt werden als den deutschen. Andererseits verblasst der Ruf aller Schriftsteller nach ihrem Tod bis zu einem gewissen Grad, bis etwas oder jemand sie wieder ins Bewusstsein ruft. Ich hoffe also, dass meine Biographie dies für Sebald sowohl in der englisch- als auch in der deutschsprachigen Welt tun wird.

Sebalds Bücher gelten oftmals als schwer lesbar. Stimmen Sie dem zu und was würden Sie als Hauptthemen von Sebalds Werk, seinem Leben und Denken bezeichnen?

Es ist unbestreitbar, dass Sebald für viele Menschen schwer zu lesen ist. Aber das ist vor allem eine Frage der Erwartungshaltung. Die Leser erwarten ‚normale‘ Romane und sind verblüfft angesichts des Fehlens von Handlung und Dialogen, der langen, sich windenden Sätze und umfangreichen Textblöcke, der Präsenz von Fotografien in der Fiktion, der obskuren Abschweifungen... Aber das Besondere an Sebalds Büchern ist ja gerade, dass sie keine Romane sind, sondern ein eigenes Genre bilden, das er zwar nicht ganz erfunden hat (es gibt Vorläufer in der deutschen und französischen Literatur und, wenn man weit genug zurückgeht, auch in der englischen), aber er hat es in unserer Zeit berühmt gemacht. Wenn man seine Erwartungen aufgibt, findet man intensiv bewegende Geschichten und Reflexionen, eingebettet in wunderschöne Prosa.
Die Hauptthemen von Sebalds Leben und Werk machen ihn auch für manche Leser schwierig und für andere wertvoll. Da ist zunächst das Thema seiner wohl berühmtesten Bücher, Die Ausgewanderten und Austerlitz: die verheerenden, nachhaltigen Folgen der großen Tragödie des Holocausts. Sebald schreibt über jüdische Flüchtlinge mit einer imaginativen Identifikation, wie sie kein anderer deutscher Schriftsteller der Nachkriegszeit erreicht hat. Zweitens gibt es zwei weiterreichende Themen, die dem zugrunde liegen: das der gesamten Menschheitsgeschichte als Zerstörung, das in Nach der Natur beginnt und in Die Ringe des Saturn kulminiert, und das der langsamen Entstehung des Traumas, das besonders in Die Ausgewanderten und Austerlitz ausgeführt wird. Es gibt das großes Thema der Erinnerung, worüber Sebald sagte, es sei die Aufgabe der Literatur, sie zu bewahren: die Erinnerung als wesentlich, aber auch als schwer fassbar, weil die wichtigsten Dinge, an die man sich erinnern muss – die Traumata –, nicht abrufbar sind. Und nicht zuletzt ist da ein Thema, das sich durch alle Bücher zieht und vielleicht das ‚sebaldischste‘ von allen ist: das des Zufalls, der scheinbar zufälligen und unbedeutenden Verbindungen, die auf die zugrunde liegende Natur der Realität hinweisen, in der alles miteinander verbunden ist, in der in der Tat alles eins ist. Dieser Sinn für eine andere Wirklichkeit, eine ersehnte Wirklichkeit hinter dieser, ist eine Konstante bei Sebald und sein eigentliches Thema. In dieser Wirklichkeit verschwinden die gewöhnlichen Unterteilungen von Zeit und Raum und die Toten können zurückkehren. Der Jäger Gracchus kann allen drei Protagonisten von Schwindel. Gefühle. über 200 Jahre hinweg erscheinen, Nabokov kann Ferber vor dem Sprung von einem Berg retten, Austerlitz kann Truppen von Toten sehen; und Sebald selbst könnte die Schrecken der Vernichtungslager gesehen haben, weit entfernt von seinem friedlichen Zuhause, als er ein Kleinkind war, so wie Cosmo Solomon die Schrecken der Schützengräben in Europa sieht, wenn er weit weg in Amerika ist, während des vorherigen Weltkriegs. Das ist Sebald, der Mystiker und Visionär, und das ist für mich sein tiefster Kern.

Es hat sich viel getan in den letzten Jahren: 2019 hat sich die Deutsche Sebald Gesellschaft gegründet, es gibt eine schwedische Sebald-Gesellschaft, an Esther Kinsky wurde der W.-G.-Sebald-Literaturpreis verliehen, es fanden Tagungen statt, und mit Blick auf 2022 sind auch schon einige neue Projekte geplant. Ist Sebald gar kein so unbekannter Autor, wie manche hierzulande meinen?

Ich denke, das ist richtig: dass sein Ruhm überall wächst und weiter wachsen wird. Ein Beispiel: Vor drei Jahren begann man, seine Bücher in China zu übersetzen. Jetzt sind sie dort alle erhältlich, und meine Biographie wurde kurz nach ihrem Erscheinen für die Übersetzung ins Chinesische gekauft. Schon vorher wurde sie von Hanser gekauft: Sebald ist also auch in Deutschland gar kein so unbekannter Autor.

Gibt es sensationelle Entdeckungen, die Sie durch Speak, Silence gemacht haben? Was von Ihrer Arbeit wird das Sebald-Bild Ihrer Meinung nach maßgeblich prägen?

Ich würde keine meiner Entdeckungen als sensationell bezeichnen. Aber einige sind sehr interessant und sogar wichtig. Die wichtigste ist vielleicht die Wahrheit über Sebalds berühmte ‚Melancholie‘. Sie war weit mehr als das. Er hatte mindestens drei schwere depressive Krisen: eine mit 17 oder 18 Jahren, die zumindest teilweise dadurch verursacht wurde, dass er in der Schule einen Film über die Konzentrationslager sah; eine mit 22 Jahren, während seines ersten Semesters in Manchester, die er in Max Ferber beschrieb; und eine mit 35. Diese letzte war die schwerwiegendste. Er vertraute sie einer Freundin an, die sie in ihre veröffentlichten Memoiren aufnahm, und er verarbeitete sie in seinem ersten Prosabuch Schwindel. Gefühle. Dies war der Auslöser für seine Hinwendung zur eigenen literarischen Arbeit, die er schon immer hatte leisten wollen, die er aber (abgesehen von Gedichten) in den ersten Jahren seiner akademischen Laufbahn vernachlässigt hatte. Sie war also von entscheidender Bedeutung für sein Schreiben: Sie hat ihn dazu gebracht, damit anzufangen, und er hat darin sowohl seine eigenen Ängste als auch die der Personen, über die er geschrieben hat, erforscht.
Ich denke und hoffe, dass diese Entdeckung die falsche Anschuldigung, er hätte sich auf die Tragödie und den Schmerz konzentriert, um seinem Werk Ernsthaftigkeit zu verleihen, für immer zum Schweigen bringen wird.
Ich denke auch, dass meine Entdeckung, dass seine berühmte Mischung aus Fakten und Fiktion manchmal über seine Bücher hinausging, etwas ist, an das man sich erinnern wird. Einige Kritiker sind darüber schockiert und verurteilen Sebald dafür. Das schockiert mich wiederum, denn ich sehe darin keinen Grund zur Verurteilung, sondern einen Einblick in seinen kreativen Geist. Andererseits verurteile ich ihn für seine Behandlung einiger seiner realen Vorbilder, die ich ebenfalls festgestellt habe. Ich hoffe, dass der Vorwurf, er hätte jüdische Geschichten gestohlen, um seinem Werk Bedeutung zu verleihen – was falsch ist –, durch meine Biographie in den Vorwurf umgewandelt werden kann, dass er seine einzelnen Vorbilder nicht immer gut behandelt hat, was zutrifft.

Sie räumen in Ihrem Buch den Entstehungskontexten und auch den persönlichen Hintergründen von Sebalds Texten breiten Raum ein. Spielen das Leben und die Psyche eines Autors im Hinblick auf die Lektüre seiner Texte überhaupt eine Rolle? Eine nicht unbedeutende Position besagt, dass man diese Instanzen strickt trennen sollte?

Diese formalistische Position ist in der Literaturkritik alt und reicht bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts zurück, bis zum New Criticism im Amerika der Nachkriegszeit und zur ‚werkimmanenten Kritik‘ in Nachkriegsdeutschland. Sebald selbst wehrte sich vehement dagegen, denn er stimmte mit Adorno und den anderen Vertretern der Frankfurter Schule darin überein, dass die Würdigung des historischen, sozialen und sogar persönlichen Hintergrunds von Schriftstellern wesentlich für das Verständnis ihrer Bedeutung und Leistung ist. Er selbst nutzte die Biographie in seiner Literaturkritik in extremem Maße und argumentierte, dass sich die moralischen und psychologischen Schwächen vieler seiner Protagonisten – z.B. Sternheim, Döblin, Jurek Becker, Alfred Andersch – in ihren Werken widerspiegeln und diese verderben. Er nutzte die Biographie auch in umgekehrter Richtung und zeichnete sympathische persönliche Porträts von Schriftstellern, die er liebte und bewunderte, wie Ernst Herbeck, Robert Walser, Hebel und Rousseau. Ich fühle mich daher insbesondere gerechtfertigt darin, seine eigene biographische Methode sowohl auf ihn als auch auf sein Werk anzuwenden. Ich bin mir sicher, dass er meine Biographie mit einem schiefen Lächeln betrachten würde, da er wüsste, dass er der letzte Mensch auf der Welt gewesen wäre, der etwas gegen eine eigene Biographie einzuwenden haben könnte.

Warum sprechen Menschen aus Sebalds Umfeld oder Freundeskreis nicht mit einer Autorin wie Ihnen? Wie erklären Sie sich das?

Tatsächlich waren es nur sehr wenige: seine Frau und seine Tochter, ein Freund und ein Redakteur. Aber diese Haltung ist völlig normal. Keiner von uns mag es, wenn über ihn gesprochen wird, sobald er den Raum verlässt. Vor allem Schriftsteller sind es gewohnt, Geschichten zu erzählen, und daher sind sie noch mehr als die meisten Menschen darauf bedacht, die Kontrolle über ihre eigenen zu behalten. Ihre Freunde und Familien wollen sie natürlich schützen, und noch mehr wollen sie sich von Natur aus selbst schützen, sowohl vor falschen Darstellungen als auch vor unbequemen Wahrheiten. In England gibt es viele Geschichten von Schriftstellern, die ihre Tagebücher und Briefe verbrannten (oder in modernen Zeiten schredderten) und generell ihr Bestes taten, „to frustrate as utterly as possible the post mortem exploiter“, wie Henry James es ausdrückte. Als ein bekannter zeitgenössischer Biograph sein Buch über einen berühmten Dichter fertigstellte, eilte er nach Hause und vernichtete alle seine eigenen Tagebücher. Als Samuel Johnson (1709-1784) seine Briefe an und von seiner Mutter verbrannte, brach er in Tränen aus und versuchte – vergeblich –, einige vor den Flammen zu retten.
Das ist alles ganz natürlich, und die Menschen haben ein gutes Recht, nicht mit Biographen zu sprechen. Aber es gibt auch andere Werte als den der Privatsphäre. Es ist seit Jahrhunderten anerkannt, dass es für das Werk eines Autors aufschlussreich ist, die sozialen und individuellen Kräfte zu verstehen, die seinen Geist geformt haben – trotz des New Criticism und zumindest in der englischsprachigen Welt, wo die Biographie seit Aubreys Brief Lives, das vor über 200 Jahren veröffentlicht wurde, eine bewunderte Literaturgattung ist. Biographen leisten dieselbe Arbeit wie Romanautoren und Historiker: Wir alle bewahren für künftige Generationen die Aufzeichnungen der Vergangenheit oder der vergehenden Zeit. Die Erinnerung an W. G. Sebald zu bewahren, scheint mir ebenso wichtig zu sein wie die Wahrung seiner Privatsphäre (und die seiner Familie, in die ich allerdings nicht eingedrungen bin). Wenn meine Biographie die Erinnerung an ihn bewahrt und die Menschen dazu anregt, seine Bücher wieder oder sogar zum ersten Mal zu lesen, dann bin ich glücklich, dass ich dazu beitragen kann.

Welche Wirkung erhoffen Sie sich von Ihrem Buch? Ist Ihre Arbeit zu Sebald damit abgeschlossen oder gibt es Dinge, die Sie noch erforschen wollen? Man könnte ja auch daran denken, Ihre Ausführungen beizeiten zu aktualisieren und weitere Stimmen zu Wort kommen zu lassen.

Ich hoffe, dass mein Buch Sebalds Ansehen steigert, seine Leserschaft vergrößert und dazu beiträgt, sein Andenken zu bewahren, wie ich bereits sagte.
Ich habe nicht die Absicht, weitere Nachforschungen über sein Leben oder sein Werk anzustellen. Ich habe meinen Teil gesagt. Biographien sind zeitgebunden und werden fast immer überholt. Es wird zweifellos andere geben – sicherlich neue Interpretationen, und sehr wahrscheinlich auf der Grundlage von neuem Material, allerdings nicht unbedingt über Sebalds Familienleben, wie in mehreren Rezensionen angedeutet wurde: Ich bezweifle, dass seine Witwe ihre Meinung über eine Biographie ändern wird.
Aus offensichtlichen Gründen hat die erste Biographie die besten Chancen, zeitgenössische Zeugnisse zu sammeln, und deshalb betreibe ich dieses Geschäft gerne. Wir sind alle bald tot. Deshalb sind die Biographie und die Literatur im Allgemeinen so wichtig.

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Carole Angier ist die Autorin von Biographien über Jean Rhys und Primo Levi. Sie ist Fellow der Royal Society of Literature. Speak, Silence: In Search of W. G. Sebald erschien 2021 bei Bloomsbury und wird 2022 in deutscher Übersetzung bei Hanser veröffentlicht werden.