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Die 42. Passionsspiele in Oberammergau

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(c) Birgit Gudjonsdottir

Die 148. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunkt Freundschaft. Im folgenden Beitrag beschäftigt sich Herausgeber Gerd Holzheimer mit den 42. Passionsspielen in Oberammergau und ihrem Spielleiter Christian Stückl.

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Die wievielte Passion ist es, die man in seinem Leben sieht? Der Oberammergauer zählt sein Leben nach den Passionen, und auch so mancher Besucher kann seinen Lebenslauf ebenfalls danach deklinieren. Als junger oder noch relativ junger Mensch hat man sie zum ersten Mal gesehen – und war oder ist tief erstaunt über andere, die von ihrer vierten, fünften oder gar siebten, achten Aufführung sprechen. Wobei 42 Aufführungen insgesamt schon Menschheitsgeschichte erzählen, fast 400 Jahre. Die „Neunziger Passion“ war zweifelsohne eine der Zäsuren. Der damals seinerseits noch sehr junge Spielleiter Christian Stückl galt als Rebell im Dorf. Zum Beispiel zeigte er den Darstellern Pasolinis Il Vangelo secondo Matteo – Das zweite Evangelium nach Matthäus aus dem Jahre 1964 und damit einen Jesus, den Pasolini als „sanft im Herzen, aber nie im Denken“ beschrieb. „Das ist mein Chrischdus, den will ich haben“, sagte Stückl nach der Vorführung. Lang schauten die Männer Oberammergaus auf ihren neuen, so blutjungen Spielleiter, lang und stumm über ihre wallende Bärte hinweg, bis sie endlich sagten: „Unser Chrischdus is das nicht, Chrischdian!“ Aber der ließ sich nicht beirren: „Ich will keinen Chrischdus, der nur Tauben verjagt!“

Die Ära Christian Stückl

Das war vor dreißig Jahren. Es ging hoch her im Dorf, auch politisch mit Volksbegehren (Oberammergau hält den Rekord in Bayern), neuen kühnen Listenverbindungen mit Namen wie „Schwindelfrei“, „Dorfpolitik neu durchdacht“ oder „Augenmaß“, Stadl brannten ab, Briefkästen wurden mit Flugschriften, wenn nicht Schmähbriefen vollgestopft. Dazu kamen die „Wuidn Weiwa“, wie sie sich selber spaßeshalber nannten, um Anneliese Zunterer-Norz, Monika und Hella Lang, Schwestern von Ernst Maria Lang. Beider Väter war Georg Johann Lang, ein Spielleiter, auf den sich manche Konservative beriefen, der aber selber schon Reformen anmahnte und teils auch umsetzte. Die Frauen klagten gegen unsinnige Bestimmungen der Männerbastion, etwa dass Darstellerinnen nicht über 35 Jahre alt sein, nicht verheiratet sein und keine Kinder haben durften. Beinahe zwei Jahre lang zog sich diese Geschichte juristisch hin, dann fällt der vierte Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes das Urteil, das den Frauen dieselben Rechte einräumt wie den Männern. So kann z.B. Andrea Hecht zum dritten Mal Darstellerin der Maria werden; sie ist 61 Jahre alt. Vieles, was heute selbstverständlich erscheint, musste erst erkämpft werden. Auch das ist Passion. Und in der von 2022, dass auch Muslime tragende Rollen spielen.

Passion 2020 / 2022

In diesem Jahr wollte es eine bösartige Ironie, dass dieses Spiel, das einem Gelübde entspringt, welches der Pest Einhalt gebieten sollte, wegen einer Pandemie um zwei Jahre verschoben werden musste. Und dann noch der Krieg. Christian Stückl schickt der Premiere voraus: „Wir wissen nicht, ob sich der schreckliche Krieg in der Ukraine ausweiten wird, wir wissen nicht, was Corona macht, ob es eine weitere Welle geben wird, aber wir haben unendliche Lust, unser Passionsspiel auf die Bühne zu bringen, und sind hochmotiviert.“

 

(c) Birgit Gudjonsdottir 

Allen voran er selbst. Noch beim ökumenischen Festgottesdienst vor der Premiere greift er blitzartig ein, wenn es um das Aufstellen zusätzlicher Stühle geht; selbst den Stühlen scheint er Regieanweisungen zu geben. Dann erinnert Landesbischof Bedford-Strohm daran, dass es sich bei der Passion nicht um ein Historienspiel handelt, sondern dass sie mitten in unsere Welt hineinspielt. Er zitiert aus der Bergpredigt von Jesus „Selig die Trauernden“ und denkt dabei nicht nur an die Ukrainerinnen und Ukrainer, sondern auch an die russische Mutter, die soeben vom Tod ihres Sohnes erfahren hat. Und nicht zuletzt auch an die „Trauer über die Abgründe in uns selbst!“ Kardinal Marx beginnt seine Ansprache so: „Seit Menschen auf der Welt sind, bringen sie sich um.“ Auch die Bibel stecke voller Gewalt, die Menschen kreisen um sich selbst. Doch zieht sich als roter Faden hindurch, dass der Gewalt nicht der letzte Raum eingeräumt wird, sie hat nicht das letzte Wort. Marx nennt den Grund: „Jesus ist unser Herzensfreund.“ Bedford-Strohm knüpft daran an, dass wir nie die Hoffnung aufgeben dürfen, dass Gewalt überwunden werden kann. Allerdings: „Waffen können keinen Frieden schaffen!“ Und wie wichtig es ist, dass wir mit uns selbst in Frieden sind. Erst dann können wir in Frieden mit den anderen sein, mit der Welt. Auf die große Einladung verweist Marx, „die Welt mit den Augen des Mannes aus Nazareth anzuschauen“ – und die Einladung, „diesen Weg mit ihm zu gehen“. Abschließend bedankt er sich bei allen, die am Passionsspiel beteiligt sind: „Ihr seid ein großes Geschenk für die Welt!“ So wird der Gottesdienst zum integralen Bestandteil der Passion.

Dann betritt Christian Stückl die Bühne: „Jetz hoi ma amoi erscht amoi die Aposchdl auf die Bühne, die miassn heiffa, beim Ehrungen austeilen!“ Bis zu zehn Mal sind Spieler, die auf der Bühne sitzen, dabei gewesen (mit den zwei Zwischenspielen 1984 und 1977 ist das möglich) und bekommen eine Medaille. Auch eine Frau kommt auf acht Mal: „Des war mei Klassenkameradin“, lacht Stückl und reißt vor lauter Schwung die Osterkerze herunter. Den nächsten, den er ehrt, ruft er so auf: „Und da Kepfi: du scho aa?!“ So geht in Oberammergau alles ineinander über: das Leben, das ganz normale alltägliche Leben, das Spiel auf der Bühne, das Spielen der Passion, der Glaube ... Und dann – der große magische Moment, nach zehn, in dem Fall zwölf Jahren: Die ersten Töne der Ouvertüre, die ins Innerste gehen und dort zu hören sind, der Einzug des Chores, aufgeht der Vorhang: Das Kreuz! Das Kreuz steht schon da. „Herr, du bist ferne! Wir sind verloren, / heimatlos zum Tod geboren, / einander fremd, getrennt durch Mauern, / verwaist, in Tränen und in Trauern!“ Das Volk und die Kinder aber rufen: „Heil dir, Heil dir, o Davids Sohn! [...] Der Väter Thron gebühret dir, / Der in des Höchsten Namen kömmt, / dem Israel entgegen strömt – dich preisen wir, dich preisen wir.“ Schon sind wir in Jerusalem, Jesus kommt auf einem leibhaftigen Esel eingezogen und ruft der begeisterten Menge zu: „Kommt! Kommt zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! [...] Kriegsgeschrei erfüllt das Land, Armut und Krankheit raffen euch dahin und ihr hungert und dürstet nach Gerechtigkeit. [...] Ich bin gekommen, um euch zu trösten, eure gebrochenen Herzen zu heilen.“

Aktualität der jetzigen Aufführung

Bestürzend aktuell hören sich diese Worte an. War Stückls erste Passion 1990 voller Aufbruch ins Neue, bei der zum ersten Mal auch das intensive Gespräch mit jüdischen Gemeinden von Jerusalem bis New York gesucht worden ist, hatte die Passion zur Jahrtausendwende die vielleicht größtmögliche künstlerische Ausgestaltung, allein schon z.B. mit einem Kreuzweg als Gesamtkunstwerk von Robert Wilson hinter dem Passionstheater. 2010 wurde eine Balance zwischen diesen Inszenierungen spürbar, bei gleichwohl weiterem Voranschreiten. Nun eben diese Aktualität, bis in eine zurückhaltende Bühnen- und Kostümausstattung durch Stefan Hageneier hinein in gedeckte Farben und eher minimalistischere Mitteln, etwa auch in den „Lebenden Bildern“, die das Alte Testament mit dem Neuen kontrastieren. In den Vordergrund treten Szenen, die zeigen, wie leicht es ist für Populisten, das Volk aufzuhetzen. Und Gewalt zu produzieren. Wie fließend „Hosianna“ und „Kreuzigt ihn“ ineinander übergehen. Stärker denn je wird auch die jüdische Grundierung des Geschehens hörbar gemacht, in Passagen hebräischer Sprache, etwa auch das Sch'ma Israel des Chores. Durchgängig tragen Jesus und seine Jünger die Kippa auf dem Kopf und machen ihre Herkunft kenntlich. Einmal hält Jesus die Thora hoch, nach der Reinigung des Tempels: großer Augenblick, einer der größten dieser Aufführung. Dieser Jesus, abwechselnd verkörpert durch Frederik Mayet und Rochus Rückel, ist kein netter, immer nur freundlicher Jesus, wie in vergangenen Aufführungen. Immer wieder eckt er an, gewaltig, vor allem natürlich bei den Hohepriestern, diesen Alleinpächtern der Wahrheit, aber auch bei seinen eigenen Anhängern. Ezechiel bescheidet ihn ebenso unverzüglich wie unmissverständlich zu Beginn der Passion: „Ich glaube, es ist besser, du gehst.“

 (c) Birgit Gudjonsdottir

(c) Birgit Gudjonsdottir 

Er geht, er geht allerdings seinen eigenen Weg, unmissverständlich, unerbittlich. Ein anderer dieser ganz großen Augenblicke dieser Inszenierung ist das letzte Abendmahl. Auf äußerst kunstreiche Weise wird ein Zelt entfaltet. In seinem Inneren verbirgt sich der Tisch des letzten Abendmahls. Ein Kerzenlicht kommt langsam aus dem Dunkel des Zelthintergrundes. Im Zeichen des siebenarmigen Leuchters erfolgt die Fußwaschung. Den Ernst der Lage zutiefst erspürend, starren die Jünger auf Jesus, der Brot und Wein verteilt. Und keinen Zweifel an der Situation lässt: „Das Licht ist in der Welt, aber die Menschen lieben die Finsternis mehr als das Licht.“ In der Kreuzigung wird dieser Satz zum Sinnbild. Aber auch in der Auferstehung, die Gott sei Dank nicht gezeigt wird, was ja nur kitschig, wenn nicht blasphemisch ausfallen müsste, wird die Lichtgebung wie beim letzten Abendmahl noch einmal aufgegriffen. Es ist dunkel. Ein junger Engel trägt eine Schale mit offenem Feuer vor sich her. Setzt sich mit gekreuzten Beinen an den Bühnenrand, hinter seine Feuerschale: das Licht der Welt.

Externe Links:

Literatur in Bayern