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08.06.2022, 16:12 Uhr
Heiner Bontrup
Text & Debatte
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© Anny Maurer

Laudatio auf Nora Gomringer zum Else Lasker-Schüler-Lyrikpreis 2022

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Porträt Else Lasker-Schülers von 1907, aus Jürgen Schebera: Damals im Romanischen Café, Ullstein-Verlag

Die schweizerisch-deutsche Lyrikerin und Performerin Nora Gomringer erhält den diesjährigen Else Lasker-Schüler-Lyrikpreis. Die mit 3.000 € vom Literaturbüro NRW finanzierte Auszeichnung wurde ihr von der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft am 20. Mai 2022 in Wuppertal in einem Festakt übergeben. Die Laudatio hielt der stellvertretende Vorsitzende der Gesellschaft Heiner Bontrup. Wir drucken die Laudatio mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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Würde man mich in ein literaturwissenschaftliches Seminar oder schlimmer noch: in die neonröhrenerhellte Hölle einer Feuilletonredaktion sperren, um eine Schlagzeile für die Lyrik Nora Gomringers zu finden, – was, Gott sei‘s gedankt, ja keiner tut, denn Formeln, Zuschreibungen, Attribute sind immer auch Verstümmelungen, Verletzungen, letztlich vielleicht sogar Exekutionen – würde man mich, dem Gedankenexperiment folgend, zwingen, die Weltformel für die Lyrik Nora Gomringers zu entdecken, so fiele mir folgende ein: Postmoderne Progressive Universalpoesie.

Im berühmten 116. Athenaeums-Fragment hatte Friedrich Schlegel den für Novalis und die gesamte Frühromantik entscheidenden Leitgedanken der „Progressiven Universalpoesie“ entwickelt. In Schlegels Vorstellung verschmelzen in dieser alle Lebens- und Kunstbereiche, alle künstlerischen Tätigkeiten, alle Äußerungen des Denkens und Fühlens, die konkrete und die intelligible Welt. Friedrich Schlegel schreibt:

Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen [...] Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig ... und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren ... Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang.

Dem Programm der Progressiven Universalpoesie fügt Schlegel das Attribut „romantisch“ hinzu und in der Tat formuliert Schlegel hier ja nichts weniger als das Kunstprogramm dieser Epoche.

Nora Gomringer, eine romantische Dichterin? Überprüfen wir die These und fragen: Wo ist die Romantik am romantischsten? Zweifellos in der Verklärung und der Beseelung der Natur. In Novalis' Gedicht Es färbten sich die Wiesen grün ist die Natur gott- und geistbeseelt und wie im Traum sind „Mensch und Tier und Baum“ in der Einheit des Seins aufgehoben. Und bei Nora Gomringer? Da klingt die Natur so:

Naturgedicht

My body, so ample,
so wide, like a fucking landscape
kein wunder, dass sie auf mich treten,
lieg ich doch weit und breit vor ihnen ausgestreckt
My body, so ample,
so wide, like a fucking landscape
kommen die mit turbinen, windrädern
und solarzellen, checken aus, wo ich am hellsten leuchte
My body, so ample,
so wide, like a fucking landscape
bin ich ressource und quelle und erholungsgebiet
in der nähe für jeden deppen, jeden fracker
My body, so ample,
so wide, like a fucking landscape.

Was soll daran „romantisch“ sein? Friedrich Schlegel würde sagen: „Alles!“ Die Kraft, die Schönheit, der Zauber der Natur kulminiert im Wort „ample“; die Natur ist so reich, so plenty, abundant, plentiful, copious, large, sufficient, adequate. Die Menschen aber verhalten sich zur Natur im Sinne der instrumentellen Vernunft; sie beuten sie aus als eine scheinbar unerschöpfliche Ressource. Die vergewaltigte Natur: a fucking landscape.

Die Form des Gedichtes behauptet etwas, das der Inhalt nicht hält. Denn durch die harte Schale der Wortwahl schimmert in seiner Vierzehnzeilenhaftigkeit die Form des Sonetts hindurch. Das Sonett ist die „Sonate“ unter den Gedichtgattungen. Nora Gomringer aber wandelt das Sonett in die Gestalt einer Elegie, in eine rau tönende Totenklage: switchend zwischen zwei Sprachen, springend zwischen Vulgarismen, erotischen Bildern und technoider Sprache. So wird das dekonstruierte, fragmentierte Sonett Platzhalter für jene Stimmung in uns, die Else Lasker-Schüler in ihrem apokalyptischen Gedicht Weltende als eine an die Welt pochende Sehnsucht beschrieben hatte. Eine Sehnsucht nach einer Welt, in der all das nicht wäre: Krieg, Zerstörung, Gewalt. Else Lasker-Schüler aber weiß: Es ist eine Sehnsucht, „an der wir sterben müssen“.

So schimmert subkutan die Sehnsucht nach einer gänzlich anderen Haltung zur Natur durch. Diese finden Sie in Goethes Werther. Sie finden sie bei den Indianern Nordamerikas, bei den Schamanen in der Mongolei. Sie finden Sie bei Joseph Beuys, der in Kassel 1.000 Eichen pflanzte, bei Franz Marc, der die Tiere malte und dabei ihr Wesen, ihre wahre, hinter der sichtbaren Welt verborgene Natur sichtbar machen wollte. Und Sie finden sie bei einer anderen Seelen- und Wahlverwandten der Nora Gomringer: bei Else Lasker-Schüler. In der kurzen Erzählung Der Schmetterling – Eine wahre Geschichte wird die Erzählerin zur Lebensretterin:

Ich nahm es [das tote Tierchen, den Schmetterling] wortlos mit mir nach Hause in den Garten ... Ab und zu hauchte ich über sein verendetes Körperchen ihm Odem ein, ihn aufzuerwecken ... Ich fühlte tatsächlich aus allen meinen Poren, die dem kleinen Toten Odem einflößten, Gott strömen. So müßte ein Mensch dem anderen den lieben Gott schon auf Erden zu ersetzen trachten, das hieße, … Gott Ehre machen ... Und verantwortlich sind wir für sein Tier und Blühen und Verwelken seiner Blume, die man nicht in den Kehricht zwischen Lumpen und Scherben werfen, aber sie hinter dem Zaun dem Erdreich wiedergeben sollte. Selbst den Stein müßten wir preisen, der unseren Schritt aufrecht erhält und uns trägt von Ort zu Ort.

Woher rührt eine solche tiefe Ehrfurcht vor der Natur, vor Mensch und Gott und dem Ganzen des Seins? Das ist ein tiefes Geheimnis. Wenn die Eltern, wenn die Mütter gut zu uns sind, dann kann dieses „Ja!“ zur Welt lange in uns nachhallen – bis ins Alter hinein.

Für beide, für Else Lasker-Schüler und für Nora Gomringer spielen die Mütter in ihren Leben eine große, eine herausragende Rolle. Für Else Lasker-Schüler war ihre Mutter, „der große Engel, der neben mir ging“.

Wie tief die Verbindung Nora Gomringers zu ihrer Mutter sein muss, wurde mir bewusst, als ich in einem Interview las, was Nora Gomringer über sich erzählt:

„Ich bin früh medizinisch vor vollendete Tatsachen gestellt worden, weil ich mit einem großen Chromosomen-Schaden auf die Welt kam. Meiner Mutter wurde gesagt: Dieses Kind wird schwerstbehindert sein. Und sie, die Tapfere, hat sich entschieden, das Kind zu behalten. Nun kam ich dann munter und nicht mickrig heraus.“ Über die tapfere, mutige Mutter schrieb sie ein Gedicht.

Unsere Mütter

Die, die immer anruft, wenn ich unter der Dusche stehe.
Die, die die mit den Engeln sprach.
Die, die mich hielt, als ich winzig noch.
Die, die sich sorgt, auch wenn man sagt: tus nicht.
Die, die Nuancen durch das Handy hört.
Die, die so fein duftet, wie keine sonst.
Die, die ewig auf einem Esel ritt.
Die, die ahnte, dass die Schornsteine Menschen ausatmeten.
Die, die manchmal nur seufzt und damit alles erklärt.
Die, die den Ochsen noch fütterte, bevor die Fruchtblase platzte.
Die, die den Männern mit Myrrhe, Weihrauch und Gold gerne Tee
angeboten hätte.

Die, deren Kleider ich heute noch trage:
Das ist ihr Mantel, er ist blau und in seinen Falten ruhen Welten.

Die Mutter, geborgen im Mantel Marias, so blau, so weit, dass in seinen Falten „Welten ruhen“. Nora Gomringer hat den Mantel geerbt. Und sie hat ihn erworben, um ihn zu besitzen, einen Gedanken Goethes aufgreifend. Eine der vielen Welten, die im Mantel ruhten, war sicherlich die Literatur, beispielsweise die der US-amerikanischen Dichterin Dorothy Parker. Dorothy Parker war eine Pionierin der Frauenliteratur. Ihrer Verehrung für diese Autorin hat Nora Gomringer ein Denkmal gesetzt mit dem wunderbaren literarisch-musikalischen Programm Peng Peng Parker.

Nora Gomringer ist aufgewachsen in einem Elternhaus, in dem sie Literatur und bildende Kunst inhalierte. Ihr Vater, Eugen Gomringer, war Professor für Ästhetische Theorie an der Kunstakademie Düsseldorf. In der Literaturgeschichte hat ihr Vater als Pionier der Konkreten Poesie einen festen Platz. Interessanterweise war Eugen Gomringer über den Konkretismus in der Bildenden Kunst zur Konkreten Poesie gekommen. Und dieses Pendeln zwischen den künstlerischen Ausdrucksformen ist auch Nora Gomringer eigen.

Wiederholen Sie ein Wort immer wieder, sprechen Sie es vor sich hin, plötzlich verliert es seine ursprüngliche Bedeutung, wird zunächst reiner Klang und öffnet dann über das rein Tonale hinaus ganz neue Bedeutungsräume. Die Dadaisten haben mit diesem uns aus Kindertagen vertrauten Phänomen gearbeitet und in der Konkreten Poesie wurde diese materiale und tonale Qualität der Phone, Phoneme und Wörter zum Ausgangspunkt des Schaffensprozesses. Diese Sensibilität für den Klang, der Türen aufstößt zu neuen anderen Welten, schwingt immer auch mit in den Gedichten der Nora Gomringer.

Man merkt es spätestens, wenn Nora Gomringer vorliest. Sie zu hören, ist ein ganz großer Genuss. Nora Gomringer haucht Literatur Leben ein und lässt Gedichte strahlen wie Edelsteine. Das gilt für ihre eigene Lyrik ebenso wie für die Texte anderer Autoren. Sie arbeitet mit dem wunderbaren Jazzmusiker Günter „Baby“ Sommer zusammen, der mit seinem perkussiven Spiel die taktilen Flächen ihrer Wortkunst erkundet. Bei Peng Peng Parker wirkt sie gleich mit einer ganzen Jazzband zusammen, so als suche sie in der Musik einen Resonanzraum für ihre Sprechkunst.

Nach ersten Ausflügen in die Lyrik wandte sich Nora Gomringer der Praxis des Poetry Slam zu. Was man beim Poetry Slam lernt: Pointen treffsicher setzen. Ob Worte Wirkungstreffer erzielen, spürt man direkt und unmittelbar durch die Reaktion des Publikums.

Auch Else Lasker-Schüler hat die umwerfende Wirkung, die die Gedichte Gottfried Benns auf sie hatten, in eine gewaltige Metapher gewandet: „Jeder Vers ein Leopardenbiss“.

Beim Poetry Slam lernt man zuzubeißen. Man lernt zu bluffen. Und zu verblüffen. Und man entwickelt ein Gefühl dafür, dass manchmal ein einziges Wort der Game-Changer ist, einer, der den Sinn des Ganzen verändert oder sogar in sein Gegenteil verkehrt. Ein einziges Wort kann aus faden Versen ein wunderbares Gedicht machen. Dann haut das Gedicht uns um. Worte können uns treffen. Sie kommen plötzlich und unerwartet, wie aus dem Nichts. Geschieht es, dann ist er da: der Augenblick der wahren Empfindung.

Doch im Gedicht wohnt neben der Magie des Wortes auch der Zauber des Zarten, Zerbrechlichen. Gottfried Benn hat in einem Essay den Glasbläser als Chiffre für den Dichter erfunden. Der Glasbläser erschafft ein Gebilde aus Glas, er formt es mit seinem Atem. So haucht der Dichter den Gedichten Leben ein –: und formt sie zugleich. Durch ihre plastische und zugleich diaphane Gestalt können die Gedichte uns die Wirklichkeit in neuem Lichte erscheinen lassen. Sie sind von filigraner Schönheit. Zart wie Glas, können sie leicht zu Bruch gehen. Man füge ein Wort hinzu, tausche eins aus, nehme eins weg, und ihr Zauber ist zerstört: zerbrochen ist die gläserne Welt.

Nora Gomringer ist eine Bewohnerin der gläsernen Welt. Ihre Sprache ist geprägt von irritierenden Sprachbildern, witzigen Volten, erhellenden Paradoxien. Daher kann sie über ihre Biografie die Worte schreiben: „Vorsicht! Nora Gomringer könnte Sie amüsieren, irritieren, aus den richtigen Gründen zum Weinen bringen. Alles schon vorgekommen ...“

Woher das kommt? Nora Gomringer hat ein ganz starkes Gefühl für das Wort. Manchmal genügt ihr sogar ein einziger Buchstabe, um neue Sinnfunken aus dem Metall der Sprache zu schlagen. Ein Beispiel: Aus der Gottesanbeterin macht Gomringer die Gottesanbieterin. So wandelt sie das männermordende Insekt zur Prophetin und Jüngerin, in der doch immer noch die toxische Weiblichkeit steckt. Man findet das bislang unerhörte Wort der Gottesanbieterin in dem Gedicht Applaus, dem wir hier in Auszügen begegnen:

Applaus

[...] Ich bin die Christin,
die beim Chatten nach Fotos von Händen fragt,
so ungläubig ist sie. [...]
Ich bin die Christin,
die im Leben, im täglichen, das Brot verschmäht.
[...]
Ich bin die Christin,
die beim Weltuntergang und im
Höllenfeuer besonders gut
angezogen sein möchte.
Ich bin die Christin,
die an zu viel Weihrauch, nicht an zu wenig
sterben möchte.
Ich bin die Christin,
die die weißen Westen der Diener Gottes anschwärzt. [...]
Ich bin die Christin,
die langbeinig schwankend den Männchen die Köpfe verdreht, sie zu essen.
Ich bin die Christin,
die verzückt bei der Wandlung klatscht,
weil die Show so täuschend, perfekt.

Nora Gomringer behauptet, dass dies ihr persönliches Glaubensbekenntnis ist. Wenn es eines ist – und es ist eines – dann ist es eines, das gegen den Strich gebürstet ist.

Mit dem Glauben hat die Dichtung die Kraft des heilenden Wortes gemeinsam. Für Novalis, der bei Nora Gomringer wortspielerisch in einem ihrer Gedichte zum titelgebenden Teredo Navalis mutiert, ist „Poesie die große Kunst der Konstruktion der transzendentalen Gesundheit.“ „Der Poet“, sagt Novalis, „ist also der transzendentale Arzt“.

Teredo ist übrigens ein Netzwerkprotokoll, das zum Herstellen der Kommunikation zwischen Clients und Servern sowie zum Herstellen von Verbindungen zwischen Geräten hinter Routern verwendet wird. Im übertragenen Sinn kann man das auch von der Poesie behaupten.

Poesie und Religion sind Blutsverwandte, beide können heilen und uns die Kraft und den Mut geben, wahrhaftig zu leben.

Wie für Else Lasker-Schüler ist für Nora Gomringer Literatur ein Lebensmittel. Vielleicht auch eine Art Medizin. Als Kind wollte sie Ärztin werden wie ihr Großvater. Sie merkte aber, dass es nicht das Richtige für sie war; aber der Umgang mit Krankheit blieb ein Lebensthema, dem sie sich u.a. in ihrem Lyrikband Morbus nähert. Interessanterweise flossen diese Gedichte in eine spätere Ausgabe ein, die sie in die drei Abteilungen Monster, Morbus, Moden ordnete.

Aus der Distanz dieser scheinbar so weit auseinanderliegenden Satellitenbahnen belichten die lyrische Momentaufnahmen Fragen nach der eigenen Identität, die sich sukzessive zu einem kaleidoskopartigen Bild zusammensetzen: ein poetisches Programm der Selbstvergewisserung und -erfindung, möglichweise vermisst sie darin zugleich die Welt, in der wir alle leben. Eine befreundete Schauspielerin, die die Gedichte Nora Gomringers las, sagte: „Sie sind so frisch, ich hatte das Gefühl, dass sie unmittelbar aus der Zeit springen, in der wir leben.“

Als Nora Gomringer aufhörte ein Kind zu sein, begann sie sich zu fragen, was ihr Platz in der Welt, ihre Berufung sein werde. Gerne wäre sie Musikerin geworden, sie hat eine wunderbare Stimme und kann sehr schön intonieren, aber sie kam darin nicht soweit, wie sie wollte. Da setzte sie sich das Ziel, mindestens 100 Gedichte auswendig zu können. Denn sie hatte die Erfahrung gemacht, dass die Rezitation eines Gedichtes eine immense Wirkung hat: „Ein Gedicht kann die Temperatur und die Stimmung in einem Raum völlig verändern.“ Gedichte, so sagt sie, habe sie stets als ihre „geheime Superkraft“ verstanden: Wenn Stille herrschte, in Verzweiflungen oder Einsamkeit, waren es eben die Gedichte, die ihr Mut gaben und sie Atem schöpfen ließen.

Doch woher kommt diese geheime Superkraft? Was treibt Nora Gomringer an, sich Gedichte anzuverwandeln und zu schreiben? Sie selbst sagt: „Zur Fortifizierung, zur Selbststärkung, zur Erbauung, Gedichte sind ein Kräftigungsmittel, ein Vademecum.“

Vademecum, das heißt wörtlich: „Geh mit mir!“ Ich erinnere mich daran, dass wir, als ich jung war, die Mädchen fragten: „Willst du mit mir gehen?“ Und wir hofften auf ein „Ja!“ Ein „Ja!“ würde bedeuten, dass man eine Wegbegleiterin fürs Leben hätte. Und so können uns Gedichte wie ziemlich beste Freundinnen und Freunde durchs Leben begleiten.

Noch einmal möchte ich auf die Formel der postmodernen progressiven Universalpoesie zurückkommen, die das Anliegen Nora Gomringers, wie ich finde, gut beschreibt. Man schaue nur in ihre grafisch schön und sehr erfrischend gestalteten Lyrikbände. Dort findet man in unmittelbarer Nachbarschaft ihrer Gedichte: Fotografien, surrealistische Collagen, Zeichnungen, Gedichte, die typografisch in der Tradition der Konkreten Poesie gestaltet sind, CDs, auf denen die Autorin den Gedichten ihre Stimme leiht.

So finden ihre Gedichte in den Collagen und Bildwelten der Lyrikbände einen visuellen Resonanzraum, einen prosodischen im gesprochenen Wort und einen musikalischen im Zusammenspiel mit Tonkünstlern wie Günter „Baby“ Sommer und anderen.

Nora Gomringer ist eine Bewohnerin der gläsernen Welt, aber sie ist – Mensch in ihrer Zeit – auch eine Bewohnerin des digitalen Kosmos, sie surft auf den Galaxien von Facebook, Instagram und Twitter. Neben der Sprache sind Handy und Laptop Medien, um in Verbindung mit der Welt zu treten, die Poesie ein Netzwerkprotokoll ihrer kosmonautischen Fahrten. Mit ihren Posts behauptet sie dabei das Unmögliche: dass man Social Media poetisieren könne. Es scheint, als ob Nora Gomringer das Ganze der Welt gerade genug ist. So groß, so scheinbar nimmersatt, so universell ist ihr Ausdruckswille. Der findet sich natürlich vor allem in ihrer Lyrik: Realien aus disparaten Seinsbezirken der Gedichte –: moralische Kategorien wie Schuld und Sühne, theologische wie Gott und Teufel, Anglizismen, Digitalismen, wissenschaftliche Fachbegriffe, Monster, Morbus, Moden, alles fließt zusammen in diesem poetischen Kosmos, ein fluides Amalgam, in dem sie die Welt in ihrer Universalität abbildet.