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31.05.2022, 12:30 Uhr
Ludwig Zehetner
Text & Debatte
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(c) Allitera Verlag

Ewger Seeliger: Das Geheimnis des Roterodamus

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Ewald Gerhard Seeliger, um 1919

Die 147. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunkt Weitergeben. Im folgenden Beitrag beschäftigt sich Ludwig Zehetner mit dem historischen Roman Das Geheimnis des Roterodamus des Schriftstellers Ewald Gerhard Seeligers über den großen Humanisten Erasmus von Rotterdam und seine Zeit, der 2021 – nach fast 90 Jahren seiner Entstehung – zum ersten Mal veröffentlicht wurde.

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Erfüllt von der Vision eines vereinigten Europas und der Idee einer friedvollen „Welt-Eidgenossenschaft“ schrieb der seinerzeitige Erfolgsautor Ewald Gerhard Hartmann Seeliger 1933/1934 im Schweizer Exil einen beeindruckenden historischen Roman über den großen Humanisten Desiderius Erasmus von Rotterdam und seine Zeit: Sophias Fehltritt mit Erasmus. 1950 widmete er das Werk dem Großen Rat der Stadt Basel. Jedoch blieb es unveröffentlicht. Der Germanist Max Heigl (Nittenau) pflegte als junger Mann in Cham persönlichen Kontakt mit Seeliger und lernte von ihm die Kunst des effektiven Schreibens. Heigl besaß bis zu seinem Tod 2020 große Teile von Seeligers Nachlass und widmete sich akribisch der Wiederentdeckung von Seeligers Werk. So gab er unter anderem 1986 dessen Handbuch des Schwindels als Insel-Taschenbuch neu heraus und edierte 2006 Seeligers Autobiografie Messias Humor. Eine von Heigl gründlich lektorierte Edition des Erasmus-Romans durfte aufgrund des Einspruchs des Rechteinhabers Alexander Metz nicht gedruckt werden. Metz gab den Roman jetzt in seiner eigenen Fassung heraus unter dem Titel Das Geheimnis des Roterodamus. Damit liegt das Werk endlich vor, beinahe 90 Jahre nach dessen Abfassung. Da Seeliger einige Jahre im oberbayerischen Walchensee lebte und von 1940 an bis zu seinem Tod 1959 in der oberpfälzischen Kreisstadt Cham, gebührt dem hier vorgestellten Werk sehr wohl ein Platz in der Literatur in Bayern.

Seeliger wurde 1877 im schlesischen Kreis Brieg geboren, war einige Jahre als Volksschullehrer tätig in Schlesien, Genua und Hamburg. Seine Einkünfte als Literat erlaubten es ihm, von 1907 an als freier Schriftsteller zu leben. Zweifellos zahlt er zu den erfolgreichsten deutschen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Sein bekanntestes Werk Peter Voß, der Millionendieb erschien in Millionenauflage und in mehreren Sprachen; es wurde sechsmal verfilmt. Da das Streben des Autors zeitlebens um „ewige Wahrheit“ und „ewige Menschheit“ kreiste, ist es durchaus originell, dass er seine beiden ersten Vornamen zusammenzog zu „Ewger“. Sein Handbuch des Schwindels bescherte ihm 1922 einen von ihm provozierten Gerichtsprozess und die zeitweilige Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt Haar. Dort verhielt er sich so irrenhausgemäß, dass der Direktor feststellte, er sei dafür „zu verrückt“, und ihn bat, das Haus zu verlassen. Im Dritten Reich wurde er schriftstellerisch mundtot gemacht, nicht nur wegen seiner jüdischen Ehefrau, von der er sich nicht scheiden ließ, sondern auch wegen seiner gewagten Agitationen gegen die Nazis.

Der Roman entwirft ein prächtiges und gewaltiges Sittengemälde, mit dem es dem Autor gelingt, die Leser hineinzuziehen in die Auseinandersetzungen und Wirrnisse des frühen 16. Jahrhunderts, in vielem unserer Zeit sehr ähnlich. Die Pest rafft Millionen Menschen dahin. Sittenlose und raffgierige Päpste treiben den Zerfall der Kirche voran. Rom wird von den kaiserlichen Horden erobert und geplündert. Machtspiele, Intrigen und Kriege beherrschen den Kaiserhof. Luther, Zwingli und andere spalten die Gemeinschaft der Gläubigen. Die Heilige Inquisition lässt foltern und brennen. In dieser Zeit der Unruhen und des Umbruchs lebt Roterodamus, der große Humanist Erasmus von Rotterdam. Die einen verehren ihn als Heilsbringer, wollen ihn zum Papst wählen, die anderen sähen ihn lieber als Ketzer auf dem Scheiterhaufen brennen. Als Roterodamus nach vielen Jahren erfährt, dass Sophia, seine einstige große Liebe, ihm einen Sohn geboren hat, möchte er diesen seinen „eingeborenen Sohn“ unbedingt kennenlernen. Er macht sich auf die Suche nach ihm. Wird er ihm jemals begegnen und ihn als Sohn in die Arme nehmen können? Der Untertitel des Romans legt es nahe: Der Sohn der Versöhnung.

Einen Großteil des Romans nehmen die Dispute über die politischen und religiösen Machtverhältnisse ein, die präsentiert werden als Rede und Gegenrede, in Briefen und Tagebucheintrügen von bedeutenden Persönlichkeiten wie Martin Luther, Johannes Eck, Melanchton, Johannes Tetzel, Thomas Morus, Albrecht Dürer und anderen. Einleitend für die Redeteile stehen oft höchst ungewöhnliche verbale Neuprägungen wie „er lateinte, sermonte, bibelte, prophetete, theologte, pontifexte, warnbullte, zeuste, horazte, distichonte, beifallte, widerzüngelte“. An die für Seeliger typischen stilistischen Raffinessen und überraschenden hintersinnigen Sprachspielereien – bereits die Kapitelüberschriften sind davon geprägt – gewöhnt man sich bei der Lektüre rasch und genießt sie mit wachsender Begeisterung. Seeligers Wortakrobatik entfaltet expressive Kraft. Rom erscheint als „Siebenhügeltum oder als „Glaubensprofitmetropole“, der noch nicht zum Kaiser gekrönte Karl V. wird erwähnt als „der noch nicht gequintete Carolus“. Mit wachsender Lust genießt man beim Lesen so raffinierte Wortspielereien wie „wer mir nicht volkt“, „der unpapierische wahrhaft lebendige Menschias“ oder „schiefgelehrte Tropfe“ und dergleichen in großer Zahl.

Hinsichtlich der Vielzahl an Personen und der rasch wechselnden Schauplätze in Deutschland, Italien, in den Niederlanden und der Schweiz kommt das Buch den Romanen der Barockzeit nahe (Anselm von Ziegler und Kliphausen oder Philipp von Zesen). Ein beglückendes Lese-Abenteuer bietet der Roterodamus-Roman auf jeden Fall.

 

Ewger Seeliger: Das Geheimnis des Roterodamus. Bearbeitet und herausgegeben von L. Alexander Metz. Books on Demand, Norderstedt 2021, 686 S., 24,99 €, E-Book € 9,99

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