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13.05.2022, 10:16 Uhr
Gerd Holzheimer
Text & Debatte
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(c) Likias Verlag

„Bahnhofstraße“ von Erich Unglaub

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Frontaufnahme des DB Bahnhofs in Friedberg (Bayern), 2016

Die 147. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunkt Weitergeben. Im folgenden Beitrag beschäftigt sich Herausgeber Gerd Holzheimer mit dem Buch Bahnhofstraße des Lehrers und Literaturwissenschaftlers Erich Unglaub, der wundersam poetische Kurzgeschichten über die Bahnhofstraße in Friedberg bei Augsburg geschrieben hat.

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Erich Unglaubs Buch Bahnhofstraße mit dem Untertitel Blicke, der allein schon aufhorchen lässt, beginnt mit einem Motto, das von allem Anfang an hohe Maßstabe setzt. Es ist ein Zitat von keinem anderen als Robert Walser und seinem Text Die Straße aus dem Jahr 1919 entnommen:

„Mitten im ununterbrochenen Vorwärts hatte ich Lust, stillzustehen.“ Das Buch hält dem hohen Anspruch nicht nur stand, es verleiht der Bahnhofstraße in Friedberg poetischen Glanz. So gerät das im Osten an Augsburg grenzende Städtchen in den Fokus „literaturgewordener Orte“. Auf diese Weise wird der Stadtplan zu einer Stadtführung poetischer Erinnerung. Dazu gehört auch „Fremdes Sprechen“, die Sprache der Flüchtlinge, die plötzlich in diesem bayerisch-schwäbischen Ort zu hören ist, etwa aus dem Mund des Feinkosthändlers, der sein Metier in Olmütz gelernt hatte: „Er ließ nebenbei bei kundigen Käufern auch seine Weltläufigkeit sprudeln. Nicht Blumenkohl, Kartoffeln, Schnittlauch, Porree, Tomaten und Bohnen, nicht Aprikosen, Pfirsiche, Johannis- und Stachelbeeren verkaufte er. Nein, seine Liste war anders bestückt, sie war klangvoller, exotischer und hatte: Karfiol, Erdäpfel, Schnittling, Pfersche, Ribisln und Okaroseln.“

Die Poesie dieses wundersamen Buches fußt auf Fundstücken solcher Art: „Manchmal greift man wie verloren in die Taschen, wundert sich über die kleinen Fundstücke, Reste von Tagesverläufen, zusammenhanglos gewordenen Einzelheiten, die kaum mehr in der Lage sind, Vergangenes in Erinnerung zu bringen: kleine Münzen, Bleistiftenden, Reste von Zündholzheftchen aus aufgegebenen Kneipen oder entlegenen Geschäften. Nie kehrt man dorthin zurück. Manchmal sind es auch Ausrisse von Journalen, Hochglanzecken mit hingekritzelten Vermerken, die sich längst erledigt haben.“ So baut sich dieses Buch mit dem Titel Bahnhofstraße auf. Und diese Welt ist mit einem Buch wie diesem auch nicht verloren, sondern allenfalls „wie verloren“. Da legen sich die Worte nicht auf die Dinge und drängen sich vor, sondern die Dinge scheinen durch die Worte.

Man könnte das nicht besser vorstellen, als es sich selbst an einem der vielen wunderbaren Beispiele zeigen lässt. Der Ich-Erzähler wird als kleiner Bub in einen Tabakladen in der Bahnhofstraße geschickt, eine exotische Welt, „die sich mit papierenen Kamelen, Dromedaren, Palmenhainen, Wüstenlandschaften und kleinen, mit kostbar aussehenden Ornamenten bedruckten Blechschachteln ausbreitete“. Er soll „Fertschiner“ mitbringen. Nicht einmal Mr. Google aus unseren Tagen weiß, was das ist, „Fertschiner“, der Tabakhändler zunächst auch nicht.

Auszug aus Erich Unglaubs Bahnhofstraße

Hier konnte man nur klein und zaghaft auftreten. Die nicht ganz ohne Herablassung niederfallende Frage nach den werten Wünschen die bei den anderen Kunden durchaus angebracht war – vergrößerte nur die Verlegenheit, denn es waren nicht die eigenen Wünsche, die man mitbrachte. So sollte man erklären, was man selbst nicht wollte und auch nicht brauchte: Virginier-Zigarren. Aber das war nicht der Auftrag, der lautete nämlich auf das Besorgen einer Schachtel „Fertschiner“. Doch diese Marke war hier ganz unbekannt. Es wurden die Schweizer Burger-Stumpen vorgeschlagen, aber die sahen ja ganz anders aus. Und Havannas wurden für einen kleinen Strolch schon gar nicht in Betracht gezogen. So blieb es bei der Beschreibung einer flachen Schachtel mit roter und gelber Farbe. Erst als auf Befragen einfiel, dass diese Zigarren einen gelben Strohhalm als Mundstück hatten und man einen getrockneten Grashalm herausziehen musste, bevor man sie anzündete – ach so! – wurde die Sache klarer: Ja, das waren die Produkte der Österreichischen Tabakregie. Sie wurden nur selten verlangt, aber davon gab es noch etwas in einem abgelegenen Regal. Solches Rauchzeug war des Teufels, nur für ganz hartgesottene Kunden, und das durfte man auf keinen Fall einem Knirps überlassen, selbst wenn er schon das Geld dafür aus der Tasche zog. Unverrichteter Dinge, unter dem milden Lächeln der hinzugekommenen Kunden und mit einem scharfen Pfefferminzbonbon als Trostpreis in der Backe verließ man den Laden, schloss mit dem Glockenklang verwirrt, aber ordentlich, die Eingangstür, sah noch etwas unentschlossen zurück auf den Laden voller Schätze des Orients, die sich wunders hier eingefunden hatten. Und als man vor einem Passanten zur Seite treten musste, sah man etwas weiter, höher hinauf, denn über dem Laden war im Obergeschoss ein gemaltes Bild, groß wie ein geflügeltes Fenster. Es zeigte die Ankunft der Heiligen Drei Könige beim Christuskind, wie sie ihre Gaben brachten: Gold, Weihrauch, Myrrhe, umgeben von Palmen und Dromedaren. Ja, es dämmerte, sie waren auf ihrer langen Reise auch durch diese Stadt und diese Straße gekommen. Der Tabakhändler war ihr zurückgelassener Diener, der die kostbaren Waren verwaltete und nur ganz besonderen Menschen etwas davon abgeben durfte. Eines Tages würde man auch zu ihnen gehören, vielleicht nach der Kommunion, oder der Firmung? Dann musste man nicht mehr heimlich die ordinären Zigarettenpackungen aus den Automaten ziehen, sondern konnte geachtet und ehrlich die Gaben der Könige empfangen. Aber das sollte nicht geschehen, denn bald wurde der Tabakladen geschlossen, die Geschäftsräume wurden der Bank angegliedert und das Dreikönigsbild über der Tür bei der Modernisierung des Hauses abgeschlagen. Das Feld, in dem es war, blieb frei. Ein heller Fleck hält noch die Erinnerung an die Weisen und ihre Niederlassung in der Stadt eine Weile wach. Mancher meint, die Heiligen Könige müssten noch einmal kommen, dann würden Laden, Kostbarkeiten, seltsame Düfte und der Abgesandte einer fernen Welt wieder in der Stadt heimisch werden.

Aus: Erich Unglaub: Bahnhofstraße. Blicke. Likias Verlag, Friedberg 2021, 88 S., € 14,80

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags