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08.12.2020, 23:36 Uhr
Peter Czoik
Text & Debatte

„Das Buch der schrägen Vögel“. Zur Erstübersetzung von Harald Beck

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© Reclam Verlag 2020

1913, lange vor der Erfindung der gleichlautenden Suchmaschine Google, erschien in London ein Werk u.d.T. The Google Book. In diesem Buch sind skurrile Nonsense-Verse mit phantastischen Bildern befremdlicher Vogelwesen illustriert. Sein Schöpfer, Vincent Cartwright Vickers (1879-1939), war ein kenntnisreicher Amateurornithologe und einer der Direktoren der Bank of England. Nun, 2020, wurden Vickers’ Gedichte zum ersten Mal ins Deutsche übertragen. Der Münchner Joyce-Kenner und Übersetzer Harald Beck hat es übersetzt und ein Nachwort geschrieben. Das Literaturportal Bayern stellt dieses Buch vor.

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Die Geschöpfe tragen, wie es die deutsche Titelübersetzung Das Buch der schrägen Vögel nahelegt, schräge Namen wie „Der Wirsdu oder Pagoden-Vogel“, „Der Ha! Ha!“ oder „Der Bibberdödel“. The Google Book ist eine Sternstunde des englischen Humors in der Tradition Edward Lears (Book of Nonsense, 1846) oder Lewis Carrolls (Alice in Wonderland, 1865). Die Verse sind umwerfend komisch, die Bilder geradezu surrealistisch. Man kann zurecht von einem Kinderbuchklassiker sprechen, und nicht bloß dort, wo man Englisch spricht. Schon die einleitenden Sätze geben die Richtung vor: Ins Google-Land kommt nur, wer ein Kind ist (“and only children can go there”), und selbst dann nur, wenn er/sie fast schon eingeschlafen ist (“and even they must be nearly – but not quite – asleep”). In diesem Land voll seltsamer Blumen und Vögel wohnt seine Hauptfigur, das Tierwesen „der grässliche Google“ (“that horrid Google”). Er schläft tagsüber in einem in Gartenmitte befindlichen Wasserbecken und geht nachts auf Beutejagd. Die folgenden Seiten mit Versen und Illustrationen geben einen Ein- und Überblick über die verschiedenen Vogelarten mit sprechenden Namen, die dem Google auszuweichen versuchen. Eine davon ist die „Zitruspresse“ (“Lemonsqueezer”), die die Schnäbel ihrer Kinder mit Saft beträufelt (eine weitere Zitrusfrucht hält sie fest in ihren Krallen, um sie herum lauter Orangen- bzw. Zitronenbäume) und deren Kinder Harald Beck ebenso süffig ins Deutsche mit überträgt:

 

 

© Reclam Verlag 2020

Doch gibt es unter den Vögeln auch einen, vor dem sogar der Google Angst zu haben scheint. Es ist der „Trolldich [oder Kamel-Vogel]“ (“Gogo [or Camel bird]”). Er ist so groß, dass er nicht wirklich ins Bild mehr passt, und frisst alles, was lebt, ganz besonders kleine Vögel, die noch nicht fliegen können. Weil ihn wegen seiner Grausamkeit keiner mag, soll er sich trollen und heißt entsprechend Trolldich. Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie man im kenntnisreichen Nachwort des Übersetzers erfährt, dass das englische Wort camel bird eigentlich eine Lehnübersetzung aus dem Arabischen für Vogel Strauß ist, und der Vogel tatsächlich seine Inspiration in der realen Vogelwelt findet. Denn der Vogel Strauß oder Kamel-Vogel ist wie sein fiktionaler Abdruck im Buch der weltgrößte Vogel überhaupt und besitzt durch seinen langen Hals, die hervorquellenden Augen, die langen sandabweisenden Wimpern und seine Fähigkeit, über längere Distanzen hohe Temperaturen zu ertragen bzw. Wasser zu speichern, eine gewisse Ähnlichkeit mit dem höckerförmigen Kamel. Auch der hier abgebildete Trolldich (vgl. oben das Buchcover!) passt deshalb nicht so recht ins Bild, weil sein unsichtbarer, im Hintergrund aber anzunehmender Höcker den Bildrahmen sprengt. Man kann nur ahnen, wie groß er wirklich ist: wahrscheinlich über zwei ganze Buchseiten. Frech guckt er im Profil in seinem zerzausten Kamelhaar, das ihm über den Kopf geht. Nicht weniger Augenmerk verdient der schon erwähnte Zitruspresse-Vogel. In William Beebes zeitgenössischer Vogel-Darstellung The Bird, Its Form and Function von 1906 heißt es: „Der Schnabel des indischen Shell-Ibis lässt sich mit einer gewöhnlichen Zitruspresse vergleichen, da er eine Höhlung hat, in der die Zitronenhälfte liegt, bevor sie zerdrückt wird.“ (zit. n. Nachwort)

 

© William Beebe (1877-1962): The Bird, Its Form and Function, New York 1906, p. 259

Vickers’ Buch ist nicht nur ein netter Lese-Zeitvertreib für Hobbyornithologen (oder solche, die es werden wollen), es ist vor allem ein richtiges Gute-Laune-Buch für Jung und Alt. Das verdankt sich nicht zuletzt der kongenialen Übersetzung von Harald Beck. Ihm geht es weniger um rhythmische Totalsimulation der Ausgangssprache als um originale Wortvielfalt, Spiel mit dem Endreim und Eigenständigkeit der Zielsprache. “The Flabbytoes” z.B. übersetzt Beck einmal mit „Schwabbelzehe“, aber auch mit „Wabbelzeh“. Im Englischen stecken in flabby eben beide Nuancen. Und den Paarreim löst Beck auf in einen Umarmenden Reim im Deutschen. Genauso ergeht es der Perspektive, in der gesprochen wird. Aus dem angesprochenen Leser-Du macht Beck eine missfallende Selbstbeschauung der Wabbelzeh. Den Sinn trifft er trotzdem, zumal ein Geschöpf wie die Wabbelzeh aus ihrer Perspektive gar nicht anders kann als sich vor der eigenen Riesennase – nur für den Fremdbetrachter wirkt sie komisch (funny)! – zu grauen:

 

Beck bleibt so nah am Text wie möglich. Insofern erfüllt auch die zweisprachige Ausgabe bei Reclam ihren Sinn, damit der/die Leser*in den Vergleich hat und weil bei Lyrik ohnehin keine Übersetzung das Original ganz treffen kann. Auf jeden Fall aber ist Das Buch der schrägen Vögel eine wunderbare wort- und farbenprächtige Leseempfehlung für die ganze Familie, passend zur Vorweihnachtszeit.

 

V. C. Vickers: Das Buch der schrägen Vögel (Originaltitel: The Google Book). Englisch/Deutsch. Mit 44 Abbildungen. Übers. und Nachw. von Harald Beck. Reclam, Stuttgart 2020 (ISBN: 978-3-15-011279-3)

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